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Als die Dämme brachen

Jugoslawien 1999 - Irak 2003: Vom Recht auf "humanitäre Interventionen" zum Recht auf präventive Kriege

Im April 2004 begannen vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) brisante Verhandlungen über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999. Doch geht es zunächst gar nicht um die Sache, sondern um die Frage, ob die damalige Bundesrepublik Jugoslawien überhaupt berechtigt gewesen sei, wegen des ihrer Meinung nach völkerrechtswidrigen NATO-Kriegs überhaupt Klage vor dem IGH erheben zu können. Schließlich habe sie selbst die Genfer Völkermord-Konvention, auf die sie ihre Klage gestützt hatte, nie unterzeichnet. Alle Prozessbeobachter gehen davon aus, dass es in der Sache nicht zur Verhandlung kommen wird. Die angeklagten NATO-Staaten werden das wohl zu verhindern wissen - und der Nachfolgestaat von Jugoslawien, Serbien-Montenegro, dürfte auch kein gesteigertes Interesse mehr an dem Verfahren haben. Das Land strebt in die Europäische Union, und da wäre es nicht sehr klug, wichtige EU-Mitgliedsstaaten weiterhin des Völkermords zu beschuldigen.

Der vorliegende Artikel des Hamburger Völkerrechtlers Norman Peach erinnert an die völkerrechtliche Dimension des NATO-Kriegs von 1999 und dessen Fortsetzung im Irakkrieg 2003. Wir haben den Beitrag der kritischen Wochenzeitung "Freitag" entnommen.


Von Norman Paëch

Was bleibt vom internationalen Recht, wenn der internationale Verteilungskampf schärfer wird? Wenn der Krieg um eine Neuordnung der Welt den alten Staaten furchtbare, bisher nicht gekannte Gegner gegenüberstellt? Wenn Formen des Terrors auftreten, die von den alten Staaten Europas und Nordamerikas zwar selbst erfunden wurden, nun aber ihrer Kontrolle entgleiten und sich gegen sie selbst wenden? Kaum jemand in diesen Staaten hat sich je Gedanken über das Recht in jenen Kriegen gemacht, wie sie in Afrika, Asien oder Lateinamerika geführt wurden, ob sie daran nun beteiligt waren oder nicht.

Als die UNO in den siebziger Jahren die Guerillakriege der Befreiungsbewegungen gegen die letzten Kolonialmächte legitimierte, konnten es die westlichen Staaten nicht verhindern, dass sich im internationalen Recht die Selbstbestimmung der Völker wie die territoriale Integrität ihrer jungen Staaten in dem Maße gestärkt sahen, wie das Recht auf Intervention beschnitten wurde. Die USA bekamen das 1986 zu spüren, als Nikaragua Schutz vor der offenen Aggression von Washington unterstützter Contra-Verbände beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag suchte. Der verurteilte die USA wegen zahlreicher Verstöße gegen das Völkerrecht und stellte fest, dass nicht sie als Staat legitimiert seien, über die Menschenrechtslage in Nikaragua zu entscheiden. Es breche geltendes Recht, zum Schutz der Menschenrechte zu intervenieren.

Hätten die Amerikaner danach nicht aus Protest den IGH verlassen, könnten sie heute mit sieben anderen NATO-Staaten wieder vor diesem Gericht stehen. Denn auch Jugoslawien sah im Frühjahr 1999 keine andere Chance mehr, als gegen die Bombardierungen durch die NATO eine einstweilige Verfügung vor dem IGH zu beantragen. Das scheiterte zwar, aber die Richter behielten sich ein endgültiges Urteil vor. Ob es jemals zu einer Verhandlung über die Rechtmäßigkeit der Bombardierungen kommen wird, ist ungewiss. Im Augenblick wird in Den Haag nur darüber gestritten, ob die damalige Bundesrepublik Jugoslawien überhaupt klageberechtigt gewesen sei.

Bei einem juristischen Nachspiel zum Angriff auf Jugoslawien würde es um sehr viel mehr gehen als die Legitimität einer "humanitäre Intervention", die der IGH seinerzeit bereits negativ beschieden hatte, denn die NATO-Staaten betreiben derzeit einen revolutionären Wandel des Völkerrechts, vergleichbar der durch die Unabhängigkeitsbewegungen erzwungenen Zäsur in den siebziger Jahren. Ging es damals um das Recht zum bewaffneten Befreiungskampf, geht es heute um das Recht zur "humanitären Intervention". Sie steht nicht im Katalog der Ausnahmen vom absoluten Gewaltverbot, die von der UN-Charta zugelassen werden - sie ist schlicht rechtswidrig. Natürlich könnte versucht werden, ein derartiges Interventionsrecht in die UN-Charta aufzunehmen. Da aber die NATO-Staaten dafür nie die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit in der UN-Generalversammlung erhalten werden, setzen sie auf die zweite Quelle des Völkerrechts - das Gewohnheitsrecht.

Der Jugoslawien-Krieg von 1999 diente weder der Selbstverteidigung noch war er durch ein Mandat der UN-Sicherheitsrates - die beiden einzigen Ausnahmen vom Gewaltverbot - legitimiert. So wurde auf die "humanitäre Intervention" zurückgegriffen: das geschah nicht nur mit der neuen NATO-Strategie vom April 1999, auch in der US-National Security Strategy vom September 2002, in den Verteidigungspolitischen Richtlinien von Minister Struck im Mai 2003 und im EU-Sicherheitsstrategie-Papier von Dezember 2003. Beim Afghanistankrieg vom Oktober 2001 rückten die Menschenrechte in dem Maße in den Vordergrund, wie die ohnehin schwache Selbstverteidigungslegitimation der USA schwand. Schließlich zehrte auch der völkerrechtlich unhaltbare Irakkrieg angesichts des Fehlens jeglicher Massenvernichtungsmittel nur noch vom "humanitären Argument" des Regimewechsels, der Befreiung von einer Diktatur.

Nur wenige scheint zu interessieren, dass dieser Dammbruch bei der Ächtung von Gewalt auch Interventionen der NATO legitimieren soll, mit denen lebenswichtige Ressourcen gesichert, erodierende Regionen stabilisiert oder ethnische und religiöse Konflikte eingedämmt werden - wir erleben die fortgesetzte Demontage eines zwar stark ramponierten, aber in seiner Grundsubstanz bisher noch unangetasteten Rechtsgebäudes. Es liegt in der Logik derartiger Destruktion, dass gleich andere hinderliche Dämme mit eingerissen werden, um die strikte Bindung des Rechtes auf Selbstverteidigung in die selbsterteilte Ermächtigung zum Präventivkrieg aufzulösen.

Dabei verfügt das vorhandene Völkerrecht durchaus über Instrumente, um bei Menschenrechtskatastrophen auch militärisch einzugreifen: Artikel 39 und 42 der UN-Charta haben sie in die Hände des Sicherheitsrats gelegt. Aus dessen kompliziertem Mechanismus fordern die mächtigsten Staaten diese Instrumente nun für sich zurück. Die strikte Beschränkung militärischer Gewalt, wie sie dem UN-Friedensgebot von 1945 zugrunde lag, wird damit faktisch aufgehoben und durch das alte Kriegsrecht ersetzt.

Die Richter des IGH dürften von diesem System kollektiver Sicherheit mit absolutem Gewaltverbot ausgehen, sollte es zu einer Verhandlung über den NATO-Angriff auf Jugoslawien kommen. Dass der Gerichtshof wie bei Nikaragua schon einmal dem Recht auf Intervention eine Absage erteilte, bedeutet dabei keineswegs, dass er 20 Jahre später in ganz anderer Besetzung ebenso entscheidet. Dass aber die in Den Haag möglicherweise angeklagten NATO-Staaten derzeit alles daran setzen, damit die Richter gar nicht erst in die Beratung dieser Fragen eintreten, zeigt, sie sind sich ihrer Sache - zu Recht - nicht sicher.

Aus: Freitag 20, 7. Mai 2004


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