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"Kinder? – Ja, auch die Kinder"

Aufarbeitung von Völkermord bleibt auch nach 60 Jahren UN-Genozid-Konvention schwierig

Von Jan Opielka *

Kurz vor dem 60. Jahrestag der Verabschiedung der UN-Völkermord-Konvention diskutierten im hessischen Marburg Historiker, Juristen und Zeitzeugen über Möglichkeiten, Völkerrechtsverbrechen rechtlich, politisch und moralisch zu ahnden. Ausgangspunkt war dabei der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess vor mehr als 60 Jahren.

Emotionell berührt wirkt Whitney Harris in seinem Vortrag. Der 95-Jährige Jurist aus den USA, der zum Anklageteam bei den Nürnberger Prozessen 1945 bis 1946 gehört hatte, berichtete über einige der Verhöre mit Nazi-Verbrechern. Besonders bedrückt gab Harris die emotionslosen Aussagen von Otto Ohlendorf wider, dem Befehlshaber der Einsatzgruppe D in der Sowjetunion. Auf die Nachfrage, warum unter den von Ohlendorfs Einsatzgruppe 90 000 ermordeten Juden und kommunistischen Funktionären auch Frauen und Kinder waren, habe Ohlendorf geantwortet: »Der Befehl war, alle Juden auszulöschen.« »Auch die Kinder?« Ohlendorf: »Ja, auch die Kinder.« Harris sagte in Richtung Publikum eindringlich: »Das ist die Quintessenz des Genozids.«

Die hochkarätig besetzte Konferenz lockte rund 200 Teilnehmer aus aller Welt von Donnerstag bis zum heutigen Samstag in die hessische Universitätsstadt. Ausrichter war das in Marburg ansässige Internationale Forschungs- und Dokumentationszentrum für Kriegsverbrecherprozesse (ICWC). Die Unterzeichnung der Völkermord-Konvention am 8. Dezember 1948 war der unmittelbare Anlass, doch die Ziele der Veranstaltung, reichten weit darüber hinaus.

So wurde zunächst in Panels und Vorträgen die historische Genese der Genozid-Konvention beleuchtet und der Umgang einzelner Länder mit Folgen des Völkermordes thematisiert – etwa in Deutschland und Israel. Die beteiligten Wissenschaftler und Juristen aus der Praxis diskutierten jedoch auch Völkermord-Prozesse der Vergangenheit und Gegenwart. Gabriel Bach, stellvertretender Ankläger im Jerusalemer Prozess gegen Adolf Eichmann, berichtete über das Verfahren von 1961, das weltweit für Aufsehen gesorgt hatte. Der ehemalige Richter Heinz Düx sprach über die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt in den 1960er Jahren. Hinzu kamen Diskussionen über aktuellere Völkermord-Tribunale in Ruanda, Jugoslawien und Kambodscha.

Gerade diese neueren Prozesse erweisen sich als außerordentlich schwierig, nicht nur wegen des Ausmaßes der Gräuel, sondern auch wegen der Schwierigkeiten, wie sie rechtlich bewertet werden sollen. Nach Meinung von Christoph Safferling vom ICWC ist auch der scheinbar klare Fall des Völkermords in Ruanda 1994 keineswegs eindeutig. »Denn die ethnische Einordnung der ruandischen Bevölkerung in die Hutu-Mehrheit und die Tutsi-Minderheit basiert auf einer politisch motivierten Einteilung der einstigen belgischen Kolonialherren«, sagt der Professor für internationales Strafrecht und Völkerrecht. Die Trennlinien zwischen den Gruppen seien in der Realität aber keineswegs so scharf, es spielten auch soziale und kulturelle Faktoren eine Rolle. Aber: soziale und kulturelle Aspekte würden in der Völkermord-Konvention nicht genannt. Laut Safferling passe die Genozid-Konvention von 1948 daher häufig nicht auf aktuelle Fälle. »Die Konvention war auf den Holocaust zugeschnitten«, sagt der Wissenschaftler.

Eine der wichtigsten Zukunftsfragen im Bereich des Völkermordes sei die Rolle des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC) in Den Haag. Bis heute haben wichtige Staaten wie USA, China, Russland, Israel oder Indien das Statut für den ICC nicht unterzeichnet. Safferling erwartet auch von der neuen Obama-Regierung in den USA nicht, dem Statut des ICC beizutreten. Gleichwohl gebe es auch von Seiten der USA eine Atmosphäre der wachsenden Kooperation in der internationalen Verfolgung von Völkermord.

Das Forschungszentrum existiert in Marburg seit fünf Jahren. Erst kürzlich zu einem interdisziplinären Zentrum erhoben, bei dem Rechts-, Geschichts- und Sozialwissenschaftler kooperieren, hat das ICWC es sich zur Aufgabe gemacht, sämtliche Nachkriegsprozesse zu dokumentieren, zu analysieren und für die Forschung zugänglich zu machen – und auch auf heutige Rechtsprechung Einfluss zu nehmen. Genutzt werden die Forschungserkenntnisse des ICWC aber auch, um bei der Aufarbeitung der Folgen von Völkermord zu helfen. So richten Zentrums-Mitarbeiter am 11. Dezember einen Workshop in Kambodscha über Möglichkeiten der Opferbeteiligung aus, bei dem dortige Rechtspraktiker, etwa Richter und Staatsanwälte, mögliche Werkzeuge für den Umgang mit den brutalen Verbrechen der Roten Khmer erarbeiten können.

* Aus: Neues Deutschland, 6. Dezember 2008


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