Vom Kriegs- zum Friedensrecht?
Verhindert oder legitimiert das Recht die Anwendung von Gewalt?
Von Lothar Brock *
Von der Mitte des 19. Jahrhunderts
bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg
vollzog sich eine große Transformation
des Völkerrechts: die
Transformation vom Kriegs- zum
Friedensrecht. Kern dieser Entwicklung
war die sukzessive Einschränkung
des von den Staaten zuvor in
Anspruch genommenen Rechts auf
die Anwendung von Gewalt nach eigenem
Ermessen (liberum ius ad bellum).
Seit Oktober 1945 spricht die
Charta der Vereinten Nationen ein
allgemeines Gewaltverbot aus, das
durch die Institutionalisierung der
kollektiven Friedenssicherung flankiert
wird und außer friedenssichernden
Maßnahmen der UN nur
eine Ausnahme vorsieht: die Selbstverteidigung.
Dennoch ist es seither immer wieder
zur nicht vom Sicherheitsrat autorisierten
Anwendung von Gewalt oder
ihrer Androhung gekommen, und
zwar in einem Umfang, dass dadurch
das allgemeine Erscheinungsbild
der internationalen Beziehungen
geprägt wird. Daraus ergeben
sich zwei Fragen: Ist die Transformation
des Völkerrechts in ihren
Anfängen stecken geblieben? Oder
könnte es sogar sein, dass das Friedensvölkerrecht
neue Möglichkeiten
zur Legitimation einseitiger Gewalt
bietet (Brock 2010)?
Bekanntlich hat Immanuel Kant
die Vertreter des klassischen Völkerrechts
(Hugo Grotius, Samuel
von Pufendorf, Emer de Vattel u.a.m.)
als „leidige Tröster“ verspottet, deren Lehren
immer treuherzig zur Rechtfertigung
eines Kriegsangriffs herangezogen würden,
aber nie zur Unterlassung eines
Krieges führten. Dieser Spott richtet sich
gegen die schrankenlose Ausweitung von
Gründen, die für die Rechtfertigung von
Kriegen in Anspruch genommen wurden.
Kant ging es darum, diese Rechtfertigungspraxis
offenzulegen als eine, die
sich aus der Logik des Naturzustandes ergibt
(Niesen/Eberl 2011, S. 151).
Die zwischenzeitliche Neuorientierung
des Völkerrechts, die mit der Aufgabe
seiner neutralen Haltung gegenüber
dem von den Staaten beanspruchten »ius
ad bellum« begann (Bothe 2010, S. 646)
und in das allgemeine Gewaltverbot der
UN-Charta mündete, kann als Versuch
interpretiert werden, in zumindest teilweisem
Einklang mit Kants Agenda
(wenn auch nicht unbedingt mit seiner
Argumentation) der von Kant gegeißelten
schrankenlosen Rechtfertigungspraxis
Einhalt zu gebieten. Diese Neuorientierung
liest sich wie eine Fortschrittserzählung,
die aber an immer neue Kriegserfahrungen
anknüpft und sich damit
selbst zu dementieren scheint. Inwieweit
das tatsächlich der Fall ist, soll weiter unten
erörtert werden. Hier soll zunächst
auf den zentralen Aspekt des Völkerrechts
als Friedensrecht eingegangen werden:
das UN-System der kollektiven
Friedenssicherung.
Den Wendepunkt in der Entwicklung
des Völkerrechts vom Kriegs- zum Friedensrecht
markieren die beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und
1907. Zwar trugen diese Konferenzen ihrerseits
zur Ausdifferenzierung des »ius in
bello« bei (Haager Recht). In Wechselwirkung
mit der ersten internationalen
Friedensbewegung, die sich in Europa
und den USA formierte, stießen sie aber
eine weit darüber hinaus reichende Entwicklung
an, die im Völkerbund, dem
Briand-Kellog-Pakt und schließlich in
der Charta der Vereinten Nationen konkrete
Gestalt annahm. Das Ergebnis, wie
es sich in der UN-Charta darstellt, ist beachtlich.
Die Mitglieder der Vereinten
Nationen verpflichten sich,
„in ihren internationalen
Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete
oder sonst mit den Zielen der Vereinten
Nationen unvereinbare Androhung oder
Anwendung von Gewalt“ zu unterlassen
(Art. 2, Ziff. 4). Da man die Anwendung
von Gewalt aber nicht ersatzlos aus dem
Repertoire zulässigen Verhaltens streichen
kann, wurden die einschlägigen
Ideen und Konzepte der Haager Friedenskonferenzen
und des Völkerbunds
aufgegriffen und zu einem System der
friedlichen Streitbeilegung und der kollektiven
Friedenssicherung ausgebaut
(Kapitel VI und VII UN-Charta).
Das Recht auf Selbstverteidigung
nach Art. 51
UN Charta wird diesem System zu- bzw. untergeordnet. Zwar
spricht Art. 51 vom
„naturgegebenen
Recht“ auf Selbstverteidigung, er knüpft
die Wahrnehmung dieses Rechts aber an
strikte Bedingungen (Vorliegen eines bewaffneten
Angriffs; Verteidigung nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Sicherheitsrat mit geeigneten Maßnahmen tätig
wird). Aus seiner Stellung im System der
Charta folgt, dass es sich bei Art. 51
nicht um eine Bestimmung handelt, die
ein Gegengewicht zur kollektiven Friedenssicherung
schaffen soll, vielmehr soll
deren Funktionsfähigkeit durch die Zulässigkeit
der vorläufigen Gegenwehr eines
Angegriffenen erhöht werden. Ähnlich
wie die Notwehr (und Nothilfe) auf
innerstaatlicher Ebene das Rechtssystem
des Staates nicht unterminiert, sondern
zur Geltung bringt, soll Art. 51 das
System der kollektiven Friedenssicherung
nicht unterlaufen, sondern in akuten Notsituationen stützen. Insofern
kann man davon ausgehen, dass die UN-Charta
keine Schlupflöcher für die eigenmächtige
Anwendung von Gewalt lässt
(O’Connell 2011, S. 73).
Die Friedensregelungen der Charta
sind durch entsprechende Resolutionen
des Sicherheitsrates und der Generalversammlung
bekräftigt und durch die Beschlüsse
des Reformgipfels der Vereinten
Nationen von 2005 erneut bestätigt worden.
Der
Internationale Gerichtshof
(IGH, engl. International Court of Justice,
ICJ) vertritt zudem die Einschätzung,
dass eine restriktive Interpretation des
Rechts auf Selbstverteidigung zum Völkergewohnheitsrecht
zu zählen sei (Nicaragua
vs. United States of America, ICJ
Reports 1986, Ziffern 230-246). In diesem
Sinne kann die Kernnorm des UNSystems
der kollektiven Friedenssicherung,
das allgemeine Gewaltverbot, als
unmittelbar geltendes Recht betrachtet
werden (ius cogens), das alle Staaten bindet,
und zwar unabhängig davon, ob sie
Mitglied der Vereinten Nationen sind
bzw. den Briand-Kellog-Pakt ratifiziert
haben (Geltung »erga omnes«). Die
IGH-Entscheidung verweist zugleich darauf,
dass der Umgang mit dieser Norm
der gerichtlichen Überprüfung unterliegt.
Das erfolgt zwar weitgehend ohne
Sanktionsmöglichkeiten, mit den
Kriegsverbrechertribunalen
von Nürnberg
(1945-49) und Tokio (1946-48) sowie
der Einrichtung von Sondertribunalen
zu den Konflikten auf dem Balkan (seit
1993) und schließlich der Einrichtung
des Internationalen Strafgerichtshofes
(2003) formiert sich aber ein internationales
Strafrecht, das einzelne Personen
für ihr Verhalten in kollektiven Auseinandersetzungen
zur Verantwortung ziehen
kann.
Das Recht als Ressource zur Rechtfertigung von Gewalt
Die Ausdifferenzierung des Völkerrechts
erhöht jedoch seine Interpretationsbedürftigkeit.
Das zeigt der schillernde
Umgang mit dem Interventionsverbot in
Theorie und Praxis.
Das Interventionsverbot gehört zu den
Kern-Normen der
UN-Charta (Art. 2,
Ziff. 7). Es leitete seinen Stellenwert zunächst
aus den post-kolonialen Auseinandersetzungen
zwischen Nord und Süd sowie
aus dem Ost-West-Konflikt ab. Im
Nord-Süd-Zusammenhang konnte ihm
eine emanzipatorische, im Ost-West-Verhältnis
eine friedenssichernde Funktion
zugeschrieben werden. Indes verbarg sich
hinter dem emanzipatorischen Anspruch
in vielen Fällen die Neigung, Befreiung
und Selbstbestimmung möglichst kostengünstig
in ein System der Selbstbereicherung
zu überführen. Und im Rahmen des
Ost-West-Konflikts diente es der Legitimation
einer Interventionspraxis, die die
jeweiligen hegemonialen Räume gegeneinander
abschirmte. Zwar hatten die
USA bei Gründung der Organisation
Amerikanischer Staaten einer besonders
weitreichenden Form des Interventionsverbots
zugestimmt. Aber gerade das bot
ihnen die Möglichkeit, ihr Eingreifen in
die innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen
in Lateinamerika und der Karibik
als Abwehr der Einmischung des internationalen
Kommunismus zu konzipieren.
Ähnlich verhielt es sich mit der hegemonialen
Politik der Sowjetunion im »sozialistischen
Weltsystem«, in dem Eingriffe
der Sowjetunion als Abwehr westlicher
Einmischung und Diversion gerechtfertigt
wurden (Breschnew-Doktrin).
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts
wurde diese paradoxe Form einer
auf das Interventionsverbot gestützten
Interventionspolitik gegenstandslos.
Stattdessen trat das Spannungsverhältnis
zwischen der fortschreitenden Ausdifferenzierung
der Menschenrechte und dem
Souveränitätsanspruch der Staaten in den
Vordergrund der Interventionsdebatte,
und zwar in Gestalt der »humanitären
Intervention«. Über »humanitäre Intervention
« war (anknüpfend an die historische
Debatte des späten 19. Jahrhunderts)
auch in den 1970er und 1980er
Jahren schon viel gestritten worden. Dieser
Streit gewann jedoch nach dem Ende
des Ost-West-Konflikts eine neue Dynamik.
In den vorausgegangenen Debatten
ging es vor allem um Ausnahmen vom
Gewaltverbot oder dessen Neuinterpretation
als ein Verbot, das sich nicht gegen
den (notfalls gewaltsamen) Schutz von
Menschenrechten richte (Téson 1988).
Teilweise daran anknüpfend und zugleich
darüber hinausgehend traten in
den 1990er Jahren drei andere Ansätze
zur Rechtfertigung unilateraler Gewalt
zum Schutz der
Menschenrechte in den
Vordergrund: die Wiederbelebung der
Lehre vom gerechten Krieg (bellum iustum),
die Förderung einer »good international
citizenship« und die Neudefinition
von Souveränität als Verantwortung.
-
Die Wiederbelegung der Lehre vom
gerechten Krieg sollte Kriterien für die
Zulässigkeit kollektiver Gewaltanwendung
auf internationaler Ebene bieten.
Sie war nicht darauf gerichtet, den Sicherheitsrat
als einzig rechtmäßige Entscheidungsinstanz
auszuweisen. Im Gegenteil,
der Sinn der Wiederbelebung der
(historisch überholten) Lehre lag gerade
darin, gewaltsames Handeln als Ersatzvornahme
für ausbleibende Maßnahmen
des Sicherheitsrates zu würdigen (Mayer
1999).
- Die zentrale Annahme der »good
international citizenship« war, dass sich
auf Weltebene eine normativ integrierte
»internationale Gesellschaft« herausgebildet
habe bzw. herausbilde, in der einzelne
Staaten oder Staatengruppen als Sachwalter
der für die »internationale Gesellschaft
« konstitutiven materiellen Normen
fungieren könnten. Diese »solidaristische
« Linie der »Englischen Schule«
schloss von daher ebenfalls die Zulässigkeit
eigenständiger militärischer Gewalt
zum Schutz von Menschen in Konflikten
nicht prinzipiell aus (Wheeler 2000).
- Das wichtigste Projekt von fortdauernder
Bedeutung ist in diesem Zusammenhang
die Neudefinition von Souveränität
als Verantwortung. Ein wichtiger
Anstoß dazu kam vom damaligen UN-Generalsekretär
Boutros Boutros-Ghali
und seinem sudanesischen Berater Francis
Deng. Seine Brisanz erlangte dieses
normative Projekt dadurch, dass es auch
für eine interventionistische Politik genutzt
werden konnte, die sich nun nicht
mehr auf Ausnahmen von der Regel der
Nichtintervention berufen musste oder
auf Zielkonflikte in der UN-Charta, sondern
sich geradezu als Garantie einzelstaatlicher
Souveränität (gegen deren
Aushöhlung von innen) inszenieren
konnte.
Offenbar treten in Zusammenhang
mit dem Schutz der Menschenrechte weder
das Gewalt- noch das Interventionsverbot
als unüberwindliche Schranken
der Gewaltanwendung in Erscheinung.
Die einschlägigen Bestimmungen der
UN-Charta sind folglich doch nicht ganz so wasserdicht, wie weiter oben behauptet
wurde. Daran ändert auch die
Schutzverantwortung nichts (s.u.). Aber
die Möglichkeit, Interventions- und Gewaltverbot
bei der Anwendung von Gewalt
zu umschiffen, ist nur die eine Seite
der Problematik. Ihre Verquickung mit
der anderen wird im Folgenden angesprochen.
Zur Verschränkung von Gewaltlegitimation und Gewaltkritik
In dem oben erwähnten Zusammenhang
schreibt Kant:
„Bei der Bösartigkeit der
menschlichen Natur, die sich im freien Verhältnis
der Völker unverhohlen blicken
lässt, [...] ist es doch zu verwundern, dass
das Wort Recht aus der Kriegspolitik noch
nicht als pedantisch ganz hat verwiesen
werden können“ (
Kant 1795/2011,
S. 26). Der Grund hierfür liegt auf der
Hand: Jeder politische Akteur steht unter
Rechtfertigungsdruck (auch wenn er
aufgrund seiner Macht irrtümlich glaubt,
sich über alle Standards hinwegsetzen zu
können). Das
Völkerrecht bietet in diesem
Sinne eine Arena für die allgegenwärtigen
Rechtsfertigungspraktiken der
internationalen Politik: Jeder Versuch,
die Bedingungen zulässiger Gewalt zu
definieren, um damit den willkürlichen
Gewaltgebrauch einzuschränken, kann
als normative Ressource zur Rechtfertigung
von Gewalt genutzt werden und
auf diesemWege zur Ausweitung des Gewaltgebrauchs
beitragen, weil jede Regel
bei Ihrer Anwendung interpretationsbedürftig
ist und darüber hinaus die Möglichkeit
eröffnet, Ausnahmen von der
Regel geltend zu machen.
Aber jede Nutzung des Rechts als Ressource
der Rechtfertigung stellt immer
auch eine Affirmation des Rechts dar (Fischer-
Lescano/Liste 2005). Damit festigt
die Rechtfertigungspraxis die Möglichkeiten
ihrer Kritik (oder öffentlichkeitswirksamen
Skandalisierung), die dann
wiederum auf das politische Handeln zurückwirkt.
Dabei dreht sich nicht alles
notwendigerweise im Kreise, vielmehr
handelt es sich um einen Kampf um das
Recht, der genauso von bornierten Interessen
wie von normativen Agenden befeuert
wird, wobei sich beide wechselseitig
durchdringen. Diese wechselseitige
Durchdringung zeigt sich nirgends so
deutlich wie im Kampf um die Einschränkung
militärischer Handlungsfreiheit
der Staaten. Hier geht es zum einen
um funktionale Zusammenhänge (sowohl
Einschränkung wie Aufrechterhaltung
von Handlungsfreiheit als Eigeninteresse),
zum andern um normative
Dynamiken (Selbstbindung an das Recht
und Recht als Fremdbestimmung).
Unter diesen Gesichtspunkten ist das
Völkerrecht selbst Teil der Schlachten, die
es regulieren und (zugunsten einer Zivilisierung
der internationalen Beziehungen)
transzendieren soll. Das zeigt sich an den
weiterhin nicht abgeschlossenen Bemühungen,
das Spannungsverhältnis zwischen
Menschenrechtsschutz und Interventionsverbot
mit Hilfe des Konzepts der
Schutzverantwortung aufzulösen. Die von
Kanada einberufene International Commission
on Intervention and State Sovereignty
sucht eine Lösung darin, dieses
Spannungsverhältnis kleinzuarbeiten.
Zum einen entwirft sie in ihrem
Bericht
von 2001 eine Stufenleiter von Zuständigkeiten
(UN-Sicherheitsrat, UN-Generalversammlung,
Regionalorganisationen),
die den Einzelstaat bestenfalls als vierte
Instanz und damit die unilaterale Intervention
als unwahrscheinlichsten Fall erscheinen
lässt. Zum andern wurde das
Problem der militärischen Intervention
durch die Ausdifferenzierung der Schutzverantwortung
in die »responsibility to
prevent«, »to react« und »to rebuild« relativiert
(ICISS 2001).
Die Lösung des
UN-Weltgipfels von
2005 bestand darin, die Schutzverantwortung
(im Wege der erschöpfenden
Aufzählung) auf vier Tatbestände
zu begrenzen (Schutz vor Völkermord, ethnischen Säuberungen, Kriegsverbrechen
und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit) und die Interventionsproblematik
durch drei Spezifizierungen
der Schutzverantwortung zu entschärfen:
Zum einen liegt die Schutzverantwortung
bei jeder Regierung. Zum zweiten
hat die internationale Gemeinschaft in
erster Linie die Pflicht, die betroffenen
Regierungen bei der Wahrnehmung ihrer
Verantwortung zu unterstützen. Zum
dritten handelt die internationale Gemeinschaft
in Gestalt des UN-Sicherheitsrates,
wenn die betroffene Regierung
ihrer Verantwortung nicht nachkommen
kann oder will. Aber auch diese Regelung
rief noch Misstrauen bei den potentiell
betroffenen Staaten hervor – offenbar
zu Recht; denn es bestand immer
noch die Möglichkeit, die Beschlüsse von
2005 als eine Bekräftigung der Schutzverantwortung
zu lesen, die vermeintlich
umso mehr die Zulässigkeit unilateralen
Handelns für den Fall bestätigte, dass der
Sicherheitsrat sich als nicht handlungsfähig
erweise (Bannon 2006).
Aber selbst wenn sich handlungsfähige
Staaten in Zukunft strikt an Entscheidungen
des Sicherheitsrates hielten, bliebe das
Problem, dass der Sicherheitsrat über keine
eigenen Eingreifkapazitäten verfügt, es
also bei der seit dem zweiten Golfkrieg
1990/91 geübten Praxis der Autorisierung
der Einzelstaaten bliebe mit der möglichen
Folge, dass sich Maßnahmen der
kollektiven Friedenssicherung in Kriege
der Einzelstaaten verwandeln. Das hat
sich erneut bei der Libyen-Intervention
gezeigt. Eine andere, tiefergehende Streitfrage
betrifft das Verhältnis von Souveränität
und Schutzverantwortung. Wie bereits
angedeutet wird von einigen Befürwortern
der humanitären Intervention argumentiert,
die Souveränität eines Staates
läge bei seinem Volk, folglich schütze eine
humanitäre Intervention mit dem Volk
zugleich die Souveränität (Reisman
2000). Dagegen steht das Argument, dass
jeder von außen erfolgte Eingriff in das
Verhältnis Staat-Gesellschaft gerade die
Volkssouveränität in Frage stellt. Selbstbestimmung,
so wird hier argumentiert,
geht in Fremdbestimmung über, wenn sie
zum Objekt externer Interessen gemacht
wird (Cunliffe 2011, Maus 2008).
Folgerungen
Verhindert oder legitimiert das Recht
also die Einhegung von Gewalt? In erster
Linie bietet das Recht einen Referenzrahmen
für den Kampf um die Rechtfertigung
von Gewalt. Es dient dabei sowohl
als Ressource für deren Legitimation als
auch für ihre Kritik. Dabei gilt, dass jede
Anwendung von Gewalt rechtfertigungsbedürftig
ist – also derjenige, der Gewalt
anwendet, unter stärkerem Rechtfertigungsdruck
steht als derjenige, der auf
Gewalt verzichtet. Diese Ausgestaltung
der
„Rechtfertigungsverhältnisse“ (Forst
2011) hat sich auf internationaler Ebene
als Übergang vom Kriegs- zum Friedensrecht
vollzogen, wird durch die Charta
der Vereinten Nationen festgeschrieben
und durch die internationale Rechtsprechung
bestätigt. Insofern wird die Fortschrittserzählung
des Völkerrechts durch
die Praxis der Gewaltanwendung nicht
dementiert und wäre die dem Text vorangestellte
Frage dahingehend zu beantworten,
dass die politischen Kosten für
einzelstaatliche Gewaltanwendung steigen.
Im Kontext der neuen Kriegsdiskurse
ist nun aber die Frage aufgekommen, ob
nicht eine erneute Transformation des
Völkerrechts ansteht: vom Friedensrecht
zur Durchsetzung gesellschaftlicher Ansprüche
(entitlements). Die »Subjektivierung« von Teilen des Völkerrechts, d.h.
die Aufwertung des Individuums und
seiner Lebensgemeinschaften als Subjekte
des Völkerrechts (Fischer-Lescano/
Hanschmann 2010), deutet in diese
Richtung. Der UN-Sicherheitsrat baut in
diesem Sinne den Schutz von Menschen
schon routinemäßig in die von ihm beschlossenen
Friedensmissionen ein. Aber
er zögert, von der Bedrohung des internationalen
Friedens (Art. 39 UN-Charta)
zum Schutz von Menschen in Konflikten
als Begründung von Zwangsmaßnahmen
überzugehen. Dieses Zögern
sollte man nicht unbedingt als Schwäche
des UN-Systems auslegen, es liegt in der
Erfahrung mit der bisherigen Praxis der
Gewaltanwendung begründet – aber
eben auch darin, dass die Staaten das
Völkerrecht nutzen, um eine »heimliche
Agenda« fortzuschreiben: nämlich den
Schutz ihrer militärischen Handlungsfreiheit
(Bothe 2010a, 69).
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Wheeler, Nicholas (2000): Saving Strangers. Humanitarian
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Oxford: Oxford University Press.
* Lothar Brock ist Gastprofessor an der Hessischen
Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
(HSFK) in Frankfurt und arbeitet im Programmbereich »Herrschaft
und gesellschaftlicher Frieden«.
Dieser Beitrag erschien in: Wissenschaft & Frieden 1/2012, S. 7-10
Die Zeitschrift Wissenschaft & Frieden erscheint vier Mal im Jahr und ist zu beziehen bei:
BdWi-Verlag
Gisselberger Str. 7
35037 Marburg
Tel. 06421/21395; e-mail:
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