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Unerlaubte Ermittlung

Gutachten stellt Verfahren gegen Nazigegner in Dresden in Frage. Medien und etablierte Politik zielen mit Hetzkampagne auf Antifaschisten

Von Markus Bernhardt *

Ein von Wolfgang Neskovic, dem Justitiar der Linksfraktion im Bundestag, in Auftrag gegebenes Gutachten kommt zu dem Schluß, daß die Ermittlungen der Dresdner Polizei und Justiz gegen Demonstranten, die sich im Februar 2011 und 2010 an Antinaziprotesten in Dresden beteiligt hatten, rechtswidrig sind. Grundlage für die Ermittlungen war ein angeblicher »Verstoß gegen das sächsische Versammlungsgesetz«. Das war im April dieses Jahres vom sächsischen Landesverfassungsgerichtshof aufgrund formaler Fehler rückwirkend ab Januar 2010 kassiert worden. Gegen ein ungültiges Gesetz könne somit auch nicht verstoßen werden, so der Tenor des Gutachtens, über das die taz in ihrer Dienstagausgabe (4. Okt.) berichtet hatte.

In Frage stehen somit auch die von der Dresdner Staatsanwaltschaft forcierten Strafverfahren gegen den sächsischen Linksfraktionschef Andrè Hahn. Erst am vergangenen Donnerstag hatte die Mehrheit von CDU, FDP und NPD im Immunitätsausschuß des Sächsischen Landtags dem Antrag der Dresdner Staatsanwaltschaft auf Aufhebung der Immunität Hahns wegen angeblicher »Rädelsführerschaft« bei der Blockade des Naziaufmarsches am 13. Februar 2010 zugestimmt.

Anträge auf Aufhebung der Immunität liegen zudem für die Vorsitzenden der hessischen Linksfraktion, Janine Wissler und Willi van Ooyen, sowie ihres Thüringer Amtskollegen Bodo Ramelow vor.

Es sei für sie »unfaßbar«, daß CDU und FPD zusammen mit Neonazis die Immunität Hahns aufgehoben haben, kritisierte Janine Wissler. Der »Versuch, berechtigtes zivilgesellschaftliches Engagement gegen Naziaufmärsche zu bestrafen«, werde jedoch ins Leere laufen«, so die linke Politikerin weiter. Ihr Fraktionskollege Willi van Ooyen kündigte an, sich auch »zukünftig Nazis in den Weg stellen und Rassismus in all seinen Formen bekämpfen« zu wollen.

Im Vorfeld einer vom bundesweiten Bündnis »Nazifrei – Dresden stellt sich quer!« für den 7. und 8. Oktober angekündigten Konferenz mehren sich gegen die Nazigegner gerichtete mediale Stimmungsmache und staatliche Repression.

So mußte ein Blockadetraining, welches ursprünglich im Rahmen der Konferenz in der Technischen Universität Dresden stattfinden sollte, kurzfristig von den Organisatoren abgesagt werden. Bild hatte in der letzten Woche eine massive öffentliche Kampagne unter anderem gegen einzelne Konferenzorganisatoren gestartet und diese als »linksradikale Gewalttäter« diffamiert.

Nicht nur die sächsische Landtagsfraktion der neofaschistischen NPD frohlockte ob der massiven anti-antifaschistischen Kampagne des Springerblattes.

»Es ist nicht hinnehmbar, wenn unter dem Deckmantel der Hochschulautonomie an der TU Dresden ein zweitägiges Vorbereitungslager für linke Marodeure und brutale Gewalttäter stattfindet«, hatte der innenpolitische Sprecher der neofaschistischen Partei, Andreas Storr, fabuliert. Er forderte die Dresdner Staatsanwaltschaft auf, neuerliche Ermittlungen nach Paragraph 129 (»Bildung einer kriminellen Vereinigung«) gegen die Nazigegner zu prüfen.

Ins gleiche Horn stieß der sächsische FDP-Fraktionschef Holger Zastrow, der im Bündnis »Dresden Nazifrei« »Feinde der Demokratie, Gewalttäter und extremistische Kräfte« ausgemacht haben will.

Zugleich forderte Zastrow, der dem Rechtsaußenblatt Junge Freiheit in der Vergangenheit oftmals als Gesprächspartner zur Verfügung gestanden hat, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die Linkspartei auf, »ihr Verhältnis zum Rechtsstaat im allgemeinen und zu gewalttätigen Protesten und Übergriffen im besonderen« zu klären.

Bereits am Mittwoch (28. Sept.) war es indes in Stuttgart zu insgesamt vier Wohnungsdurchsuchungen bei Antifaschisten gekommen. Durchgeführt wurden sie von Vertretern des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg, der Staatsanwaltschaft Dresden, der »Sonderkommission 19/2« und der »Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit« (BFE) aus Stuttgart. Dabei wurden die Wohnungen der Betroffenen von vermummten Beamten mit gezogenen Waffen gestürmt und unter dem Vorwand eines »Verstoßes gegen das Vermummungsverbot« sowie einer angeblichen »Beihilfe zur versuchten gefährlichen Körperverletzung« nach Aufzeichnungen und Kleidungsstücken durchsucht. Die Nazigegner sollen sich bei den antifaschistischen Protesten im Februar dieses Jahres in Dresden beteiligt haben.

Gegenüber der Sprecherin für antifaschistische Politik der sächsischen Linksfraktion, Kerstin Köditz, verweigerte der Vertreter der Staatsregierung am Donnerstag (29. Sept.) im Innenausschuß jegliche Stellungnahme zur Razzia. Es handele sich um ein laufendes Verfahren, so die Begründung. Da das Informationsrecht der Abgeordneten mißachtet werde, kündigte sie gegenüber jW an, nunmehr mit kleinen Anfragen in dieser Angelegenheit tätig werden zu wollen.

www.dresden-nazifrei.com

* Aus: junge Welt, 5. Oktober 2011


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