Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Mit Zeitzünder

Die heute vor 40 Jahren verabschiedeten Notstandsgesetze gleichen einer Bombe. Sie kann bei Bedarf gegen aufkommende revolutionäre Bestrebungen der Arbeiterbewegung scharf gemacht werden

Von Marcus Hawel *

Am 30. Mai 1968 wurden im Bundestag die Notstandsgesetze verabschiedet. Am 24. Juni traten sie in Kraft. Hans-Jürgen Krahl, einer der wortgewaltigsten Sprecher des SDS und der vermutlich begabteste Doktorand von Theodor W. Adorno, hatte allerdings nicht die weitsichtigste Einschätzung der Lage, als er drei Tage vor der Verabschiedung der Notstandsgesetze auf einer Protestkundgebung des hessischen DGB auf dem Römerberg in Frankfurt erklärte, die Demokratie »in Deutschland« sei an ihr Ende gekommen. »Trotz der massenhaften Proteste aus den Reihen der Arbeiter, Studenten und Schüler, trotz der massiven Demonstrationen der APO (...) sind dieser Staat und seine Bundestagsabgeordneten entschlossen, unsere letzten demokratischen Rechtsansprüche in diesem Land auszulöschen. Gegen alle diejenigen (...), die es künftig wagen werden, ihre Interessen selbst zu vertreten, werden Zwang und Terror das legale Gesetz des Handelns der Staatsgewalt bestimmen.«[1]

Wenn man Krahls Aussage für wahr nimmt, hätte man sogleich Artikel 20, Absatz 4, des Grundgesetzes in Anschlag bringen und gewaltsamen Widerstand leisten können. Absatz 4 wurde als Zugeständnis gegenüber der APO im Zuge des ausgehandelten Kompromisses der Notstandsgesetzgebung dem Artikel 20 hinzugefügt. Dort wird jedem Deutschen als Ultima ratio ein Widerstandsrecht eingeräumt, das in dem Augenblick zum Tragen kommen kann, wenn in Deutschland die freiheitliche Grundordnung, also Rechtsstaat und soziale Demokratie, in ihren Grundfesten erschüttert werden. Aber Krahls Einschätzung war überzogen, gleichsam jenes »Quentchen Wahn« beigemengt, welches Adorno allgemein in den Protesten der späten 60er Jahre zu erkennen glaubte, ohne zugleich die »Meriten der Studentenbewegung« in Abrede zu stellen, die darin bestanden, »den glatten Übergang zur total verwalteten Welt unterbrochen«[2] zu haben.

Mit dem Inkrafttreten der Notstandsgesetze war nicht etwa gewaltsamer oder gar terroristischer Widerstand als Kampf gegen den autoritären oder gar faschistischen Staat legitimiert, wie man vielleicht irreführend aus Krahls überzogener Analyse hätte schlußfolgern können. Im Sinne des ins Grundgesetz, Artikel 20, Absatz 4, aufgenommenen Widerstandsrechts war nunmehr aber eine erhöhte Wachsamkeit gegenüber den Repräsentanten des Staates und seinen herrschenden Eliten erforderlich, zeigt doch eine Analyse der Entwicklung von Gesellschaftssystemen, wie man beim 1985 verstorbenen Marburger Politik- und Rechtswissenschaftler Wolfgang Abendroth nachlesen kann, »daß es viel wahrscheinlicher ist, daß die Demokratie nicht von ›unten‹, sondern von ›oben‹, durch die Organisation des Staates selbst, gefährdet oder aufgelöst wird«.[3] Auch Adorno hatte diese wahrscheinlichere Option im Blick, als er in seinem Essay »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?« das »Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie« als gefährlicher für die Demokratie hinstellte als das Aufkommen einer neofaschistischen Bewegung. Oskar Negt, der damals Assistent von Jürgen Habermas war, befindet sich ebenfalls auf dieser analytischen Linie. In seiner Rede vom 13. April 1968 auf dem Römerberg sagte er: »Wer die Sicherung der Freiheit dem Staat, seinen Beauftragten, den Großinstitutionen und machtvollen Organisationen überläßt, ist das Opfer einer fatalen Illusion: Er glaubt an die Lebensfähigkeit einer Demokratie ohne Demokraten.«[4] – Unter den deutschen, restaurierten Nachkriegsverhältnissen hatte man sich darauf beschränkt, im Rahmen eines bis ins Detail gehenden Formalismus die Institutionen des politischen Systems den bestehenden kulturellen Bedingungen im Land anzupassen, also demokratische Institutionen zu schaffen, die so gefestigt sein sollten, daß sie auch ohne Demokraten funktionieren.

Nach den gescheiterten Revolutionen

Wenn man bis zu den späten 60er Jahren überhaupt schon von einer »erfolgreich praktizierten Demokratie« sprechen konnte, dann lediglich seitens der (außerparlamentarischen) Opposition aus Gewerkschaften, Studenten und linkssozialistischen Intellektuellen vor allem aus der 58er Generation, zu deren prominentesten Vertretern neben Abendroth und Jürgen Seifert auch Peter von Oertzen, Klaus Meschkat und Oskar Negt zählen. Diese Opposition war die »Triebkraft der Demokratie«. Erst von der APO der 60er Jahre ging ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel aus, den man als soziokulturelle Neugründung der Bundesrepublik verstehen und mit Habermas als »Fundamentalliberalisierung« bezeichnen kann: Ab hier paßten sich in der Bundesrepublik die kulturellen Bedingungen an die als »westlich« apostrophierten Demokratieprinzipien an. Die demokratischen Institutionen füllten sich im Zuge des »Marsches durch die Institutionen« mit Demokraten. Die Schulpädagogik wurde reformiert, die Gerichtssprechung liberalisierte sich, und in der Politik kündigte Willy Brandt an, »mehr Demokratie« zu wagen.

Die linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer hatte eine entscheidende Brückenfunktion für die Proteste der späten 60er Jahre. Davon wird in der Öffentlichkeit so gut wie gar nicht gesprochen. Der Politikwissenschaftler Gregor Kritidis hat diese eklatante Wissenslücke in seiner Studie »Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer« geschlossen.

Resümierend stellt Kritidis fest, daß in der Nachkriegszeit von der Adenauer-Ära bis zu den späten 60er Jahren die Konsequenzen, die aus dem Scheitern der Weimarer Republik und dem Übergang erst in die bürokratische, dann in die faschistische Diktatur gezogen wurden, im Kontext des Kalten Krieges mit deutlichen Mängeln behaftet waren und die linkssozialistische Opposition der 50er Jahre sich wegen des antikommunistischen Klimas gegen den restaurativen Geist nicht durchsetzen konnte: »Zwar gelang es, die soziale und politische Polarisierung durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaates zu überwinden und die wirtschaftliche Entwicklung durch ­keynesianisch inspirierte Maßnahmen zu stabilisieren. Die demokratische Partizipation wurde jedoch unter antikommunistischen Vorzeichen auf eine abstrakte Staatsbürgerlichkeit beschränkt.«[5] Abstrakte Staatsbürgerlichkeit bedeutet Isolierung und Fernhalten des Bürgers vom staatlichen Gesamtzusammenhang. So ist im wesentlichen der Obrigkeitsstaat charakterisiert: gleichsam als Absence der gegenseitigen Durchdringung von Staat, Gesellschaft und Individuum. Wo aber diese gegenseitige Durchdringung existiert, ist sie Ergebnis einer erfolgreich verlaufenen bürgerlichen Revolution. Die Untertanen haben aus der Gesellschaft heraus den Staat erobert und damit das konfrontative Verhältnis zwischen Staat und Individuum beendet. Während dieses Aktes der politischen Befreiung verwandelten sich der Untertan in einen Staatsbürger und der Feudalstaat in einen bürgerlichen Staat. In Deutschland lief das zum einen verspätet und zum anderen fehlgeleitet, jedenfalls nicht erfolgreich, ab. Der Obrigkeitsstaat setzte sich fest, mündete nach den gescheiterten Revolutionen von 1848/49 bzw. 1918/19 und erster Republik in den Faschismus und wurde nach 1945 restauriert, was die Bedingungen für die linkssozialistische Opposi­tion, gegen die restaurativen Weichenstellungen – gegen die Wiederbewaffnung, NATO-Beitritt und gegen die seit 1958 geplante Notstandsgesetzgebung – erfolgreich vorzugehen, nahezu unmöglich machte: »(...) das politisch durchgesetzte autoritär-obrigkeitsstaatliche Klima sorgte [in der Bevölkerung, M. H.] für eine passive Akzeptanz zu den grundlegenden Weichenstellungen der Nachkriegszeit«.[6]

Einige »Giftzähne« gezogen

Auch der Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung, der in den späten 60er Jahren in den massenhaften Protesten der APO kulminierte, muß als eine Niederlage bewertet werden, wenngleich, wie der Notstandsexperte Jürgen Seifert in seiner Rede am 28. Mai 1968 in Darmstadt sagte, die Opposition »in dem jahrelangen Kampf gegen die Vorhaben der Bundesregierung Erfolge erzielt [hat]. Wir haben Entschärfungen durchsetzen können, aber wir sollten nichts beschönigen. Es ist eine Niederlage.«[7]

Wesentliche »Giftzähne« waren den Entwürfen zur Notstandsgesetzgebung von der Opposition gezogen worden. Die Einschränkung der Grundrechte kann nur in klar abgesteckten Grenzen erfolgen. Die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts bleibt auch im Ausnahmezustand unangetastet. Der Notstand bleibt unter parlamentarischer Kontrolle. Auch wenn es sich um ein verkleinertes »Notparlament« handelt, ist der Ausnahmezustand nicht die »Stunde der Exekutive«, wie es in den ersten Gesetzesentwürfen vorgesehen war. Am wichtigsten aber ist die Aufrechterhaltung der Koalitionsfreiheit und des Streikrechts. Der von Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU) 1960 vorgelegte erste Entwurf sah vor, daß die Koalitionsfreiheit im Falle eines Notstands »über das sonst vorgesehene Maß« hinaus eingeschränkt werden können soll. Als Beispiel für eine konkrete Notstandssituation bezog sich der Minister auf eine Rede des IG-Metall-Chefs Otto Brenner, der gesagt hatte: »Wir werden nicht vor der Anwendung des politischen Streiks zurückschrecken, wenn es gilt, die Demokratie zu verteidigen.«[8]

Wenn die Verteidigung der Demokratie mit Hilfe der Koalitionsfreiheit als Notstandsfall angesehen wird, zeigt das die historische Parallele zum Scheitern der Weimarer Republik. Damals wurde mit Hilfe des Artikels 48 der Weimarer Verfassung die Machtübertragung an Adolf Hitler auf den Weg gebracht, indem vor allem die in den Gewerkschaften organisierte Arbeiterbewegung zerschlagen wurde, die den Übergang in die faschistische Diktatur hätte verhindern können. Auch der Nachfolger von Gerhard Schröder im Amt des Innenministers, Hermann Höcherl (CDU), brachte klar zum Ausdruck, daß die Notstandsgesetzgebung gegen die Kampfkraft der Gewerkschaften gerichtet ist und in Zeiten ökonomischer Krisen als ein Machtinstrument zur Disziplinierung der Arbeiterklasse genutzt werden solle.

Insofern ist es schon auch ein Teilerfolg der APO gewesen, wenn mit den am 24. Juni 1968 in Kraft tretenden Notstandsgesetzen in Artikel 9, Absatz 3 folgender Satz eingefügt wurde: »Maßnahmen nach den Artikeln 12 a, 35 Absatz 2 und 3, Artikel 87 a Absatz 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.«

Klassenkampf um Verfassung

Der Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung war in den Worten des Politikprofessors Joachim Perels eine »nachholende Aneignung des Grundgesetzes«. »Die Verknüpfung der Konstituierung des Grundgesetzes mit Elementen des unmittelbaren Volkswillens, die 1949 noch fehlte und durch die aktive Beteiligung der Bevölkerung an den ersten allgemeinen Wahlen des westdeutschen Teilstaates nur implizit ersetzt wurde, bildete sich im gewissen Sinne in der praktischen Kritik an den Notstandsplänen der von der CDU/CSU geführten Bundesregierung heraus: in der Verteidigung der diktaturfeindlichen Prinzipien der Verfassung.«[9] Insofern war der Kampf um die Notstandsgesetzgebung auch ein Lehrstück für den »Kampf um Verfassungspositionen«.

Seiferts Einschätzung hinsichtlich der Gefahr, die sich aus der Verabschiedung des Kompromisses ergab, unterschied sich wesentlich von der Hans-Jürgen Krahls. Während dieser von der Manifestation des autoritären Staates ausging, sprach Seifert von »Ermächtigungsgesetzen mit Zeitzünder«: »Das Gefährliche der Notstandsgesetze ist, daß diese Gesetze nicht übermorgen unmittelbar und für jedermann sichtbar die politische Wirklichkeit der Bundesrepublik verändern.«[10]

Zunächst aber trifft aus der Retrospektive von 40 Jahren nach Verabschiedung der Notstandsgesetze zu, daß sich die Bundesrepublik nicht in einen autoritären Staat verwandelte, sondern politisch und kulturell liberalisierte: »Erst durch die großen gesellschaftspolitischen Konflikte der 60er Jahre entledigte sich die Bundesrepublik ihrer starken obrigkeitsstaatlichen Überhänge und wurde zu einer Demokratie von Demokraten.«[11] Die politisch-kulturelle Neugründung der Bundesrepublik hatte aber keineswegs auch die Aufhebung der zentralen gesellschaftspolitischen Konflikte zur Folge gehabt, wie Kritidis anmerkt.

Diese zentralen »gesellschaftspolitischen Konflikte« geben dem »Kampf um Verfassungspositionen« eine permanent notwendige Virulenz. Seifert schreibt 1974: »Der Kampf um Rechtspositionen wird heute entscheidend geprägt durch veränderte Verwertungsbedingungen des Kapitals in allen westlichen Industrieländern. Wachstums- und Profitraten sinken. Der Konkurrenzkampf nationaler und internationaler Kapitalfraktionen wird stärker. Es gibt Strukturkrisen in bestimmten Industriezweigen und eine zunehmende Verlagerung von Produktion in bisher unterentwickelt gehaltene Länder. Die Folgen sind Arbeitslosigkeit, zunehmende Rationalisierung und intensivere Ausnutzung der Arbeitskraft jedes einzelnen.«[12] Diese damals von Seifert konstatierten neuen Entwicklungen veranlaßten ihn, den Kampf um Verfassungspositionen für die Zukunft als einen defensiven Kampf auszurichten. »Ob und in welcher Weise es möglich sein wird, diesen Defensivkampf offensiv zu wenden, ist in jedem Einzelfall zu prüfen. Es wird bei diesem Kampf jedoch mehr denn je darauf ankommen, die Faktoren beim Namen zu nennen, die der Kapitalismus für diesen Verfassungskampf setzt.«[13]

Weil der Kapitalismus notwendig ein prozessierender Widerspruch ist, bleibt Klassenkampf eine unabänderliche Realität. Dieser Klassenkampf findet seinen Ausdruck auf der verrechtlichten Ebene. Das ungepflegte, bloß vertraglich festgehaltene Recht hat eine Halbwertszeit und wird nicht selten in dem Augenblick gebrochen, wenn es auf das Recht ankommt. Eine Verfassung muß wie eine Stadtmauer verteidigt werden, heißt es schon bei Heraklit. Verfassungen sind gemäß Abendroth ein Kampfboden, auf dem sich die verbrieften Freiheiten besser gegen Angriffe der herrschenden Eliten verteidigen und erweitern lassen. Da diese Angriffe gegen die Freiheiten in dem Augenblick nicht aufhören, in dem sie verfassungsrechtlich verankert sind, müssen sie in jedem Augenblick, gleichsam unablässig, verteidigt werden. Die Verfassung stellt insofern eine Demarkationslinie im Klassenkampf dar. Diese Linie ist mehr oder weniger permanent politisch umkämpft; wird sie verschoben, vollzieht sich das nicht selten durch eine Regelverletzung, die eine neue Regel zustande bringt. Von der Regelverletzung geht die normative Kraft des Faktischen aus, die eine Veränderung der Verfassungswirklichkeit, d.h. der Auslegung des verrechtlichten Rechts, zur Folge hat, wenn keine Gegenwehr erfolgt.

Insofern sind die in der Verfassung verankerten Notstandsgesetze wie eine Zeitbombe, die im Falle einer gesellschaftlichen Großkrise verheerenden Schaden an der Demokratie anrichten können, da sie dem Staat und der herrschenden Klasse in einer Situation Machtmittel in die Hand geben, in der die Kontrolle des Staates durch die gesellschaftlichen Institutionen des demokratischen Rechtsstaates wichtiger wird als in sogenannten Friedenszeiten, um die »drohende Verselbständigung der staatlichen und bürokratischen Machtapparate und deren Instrumentalisierung für die Interessen der herrschenden Klassen auf Kosten der Bürgerrechte in Grenzen [zu halten].«[14]

Umwandlung in autoritären Staat

Die durch 1968 angestoßene Fundamentalliberalisierung der Bundesrepublik unterliegt seit 1989/90 einer rückläufigen Tendenz, die seit einigen Jahren nunmehr ganz offen sichtbar ist.

Zum einen hat es damit zu tun, daß die 68er altersbedingt überall in Rente gehen. Aber verärgert hatte Negt 1995 auch festgestellt, daß sich auffallend viele aus dieser Generation von jenen Positionen distanzierten, für die sie sich einst hatten schlagen lassen. Negt nennt diese Form von Opportunismus die »Geisteskrankheit der Intellektuellen«, der für ihn den Rang eines kulturellen Skandals einnimmt, weil das Konvertitentum im voraus­eilenden Gehorsam oder gar willentlich entstehe. Er schreibt: »Wo diese ihren Eigensinn, die bohrende und widerständige Kraft ihrer Entwurfsphantasien einbüßen, werden sie zu abrufbaren Legitimationsproduzenten mit beschleunigten Häutungen, und am Ende bleibt nur die Haut übrig, die man selbst zu Markte tragen muß.«[15]

Wenn von Rückläufigkeit die Rede ist, dann meint das den Exodus der Demokraten aus den Institutionen. Aber auch allgemein in der Bevölkerung schwindet das rechtsstaatliche Bewußtsein gleichsam als Nebenwirkung zur Anhebung des Nationalstolzes der Deutschen.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erscheint momentan als eine der letzten rechtsstaatlichen Bastionen. Es steht in der Öffentlichkeit unter Beschuß. Wolfgang Hoffmann-Riem, Professor für öffentliches Recht in Hamburg und seit 1999 Nachfolger von Dieter Grimm am BVerfG, erklärte nach seinem Ausscheiden im April 2008, daß die Bundesregierung auf dem Gebiet der inneren Sicherheit zu viele Eingriffe zu Lasten der Freiheit vornehme, die zudem einer verfassungsrechtlichen Überprüfung seitens Karlsruhe nicht standhalten. Otto Schily und Wolfgang Schäuble kritisierten als Bundesinnenminister die rechtsstaatliche Urteilssprechung des BVerfG – etwa zum großen Lauschangriff vom 3. März 2004 oder zum Luftsicherheitsgesetz vom 15. Februar 2006, das den Abschuß von Passagierflugzeugen, die von Terroristen zu Zwecken eines Anschlages gekapert werden, ermöglichen sollte. Das Bundesverfassungsgericht trage in letzter Instanz die Verantwortung, wenn in Deutschland eine gefährliche Sicherheitslücke hinsichtlich der terroristischen Gefahrenabwehr entstehe. Hoffmann-Riem erklärt in der Süddeutschen Zeitung vom 12./13. April 2008 selbstbewußt, daß niemanden im BVerfG die Kritik der Minister interessiert habe: »Die Kritik wurde wahrgenommen und hat uns in unserem Selbstverständnis als unabhängige Richter bestärkt.«

Aber was nützt es, wenn die Urteile des BVerfG von der Bundesregierung ignoriert oder umgangen werden? Die Äußerung von Verteidigungsminister Franz Josef Jung, von Terroristen zu Zwecken eines Anschlages gekaperte Passagierflugzeuge dennoch abschießen zu lassen, indem die Bundesregierung dann eben den außergesetzlichen Notstand ausrufe, zeigt, wie stark der Rechtsstaat unter Beschuß gerät.

Der Verfassungsrechtler Hoffmann-Riem sieht ausdrücklich die Gefahr, daß in einer Situation, in der sich die Bundesregierung mit einer »diffusen Gefahrenlage« wie dem globalen Terrorismus seit den Anschlägen vom 11. September 2001 beschäftigt, die Politik auf das Feld der Prävention gezerrt wird und dadurch rechtsstaatliche Standards zwangsläufig der Erosion ausgesetzt sind. Innenminister Schäuble halte die Öffentlichkeit »mit immer neuen Schreckenszenarien und neuen Vorschlägen in Atem, ohne abzuwarten, was die vielen schon erfolgten Änderungen bewirken«.[16] Dieser Aktionismus deutet auf eine Instrumentalisierung des Terrorismus hin, zu dem Zweck, die Verfassungswirklichkeit im Sinne eines bürgerlich-autoritären Souveränitätsbegriffs zu verändern. Nach Carl Schmitt ist Souverän, wer über den Ausnahmezustand verfügt. Dieselbe Normalisierungsstrategie konnte zuvor bereits in der Außenpolitik erfolgreich praktiziert werden, indem die Verteidigungsminister Volker Rühe, Rudolf Scharping und Peter Struck der Reihe nach und im Gespann mit den Außenministern Klaus Kinkel und Joseph Fischer die Krisen und Bürgerkriege in der Welt, vor allem im auseinanderbrechenden Jugoslawien sowie in Afghanistan, nutzten, um die deutsche Außenpolitik kriegsfähig zu machen.

So viel ist real an Johannes Agnolis Begriff der »Involution«, mit dem er die schleichende »Transformation der Demokratie« analysierte, die sich in einen autoritären Staat verwandelt, ohne die demokratische Hülle abzustreifen. »Involution« stellt die Gesellschaft vor ein schwieriges Problem: Wenn sich schleichend ein autoritärer Staat aus den demokratischen Institutionen heraus – ohne Notstandssituation – manifestiert, ab wann kann man dann eigentlich den qualitativen Sprung feststellen? Wie leistet man dagegen effektiven Widerstand?

Die 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze können sich nach wie vor ganz im Sinne des Zeitzündereffektes als »Ermächtigungsgesetze«, gleichsam als verfassungsrechtliches Gründungsdokument eines autoritären Staates, erweisen, die das Ende der Demokratie besiegeln, wie schon die »Reichstagsbrandverordnung« vom Februar 1933 auf Grundlage des 48er Artikels der Weimarer Reichsverfassung. Dies jedoch nur, wenn der bundesrepublikanische Rechtsstaat aufgrund seiner stetigen Aushöhlung, d.h. seiner involutiven Transformation, nicht mehr von der Bereitschaft getragen wird, die 1968 im entschärften Kompromiß ausgehandelten Rechte für den Notstand gegen den Staat wahrzunehmen, bzw. das politische Gemeinwesen, insbesondere die in den Gewerkschaften organisierte Arbeiterbewegung, nicht mehr die Kraft besitzt, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu verteidigen.

Fußnoten
  1. Hans-Jürgen Krahl: Römerbergrede, in ders.: Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt am Main 1971, S. 149
  2. Theodor W. Adorno, zit. n. Wolfgang Kraushaar (Hg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946–1995, Bd. 1: Chronik, Hamburg 1998, S. 454
  3. Wolfgang Abendroth: Der Notstand der Demokratie, in ders.: Arbeiterklasse, Staat und Verfassung, Frankfurt am Main 1975, S. 205
  4. Oskar Negt, zit. n. Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): »Tradition heißt nicht, Asche aufheben, sondern die Flamme am Brennen halten!«, Sensbachtal 1985, S. 185 f.
  5. Gregor Kritidis: Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Hannover 2008, S. 542
  6. Ebd.
  7. Jürgen Seifert, zit. n. Joachim Perels: Der Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung als Aneignung der Verfassung, in: Opposition als Triebkraft der Demokratie, Hannover 1998, S. 102
  8. Otto Brenner, zit. n. Jürgen Seifert: Gefahr im Verzuge. Zur Problematik der Notstandsgesetzgebung, Frankfurt am Main 1965, S. 34
  9. Joachim Perels: Der Kampf um die Notstandsgesetzgebung..., a.a.O., S. 102
  10. Seifert, zit. n. Perels: Der Kampf um die Notstandsgesetzgebung ..., a.a.O., S. 102
  11. Kritidis, a.a.O., S. 545
  12. Seifert: Der Kampf um Verfassungspositionen, Frankfurt am Main 1974, S. X
  13. Ebd.
  14. Reinhard Kühnl: Ein Kampf um das Geschichtsbild: in ders. (Hg.): Streit ums Geschichtsbild. Die »Historiker-Debatte«. Köln 1987, S. 280
  15. Oskar Negt: Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht, Göttingen 1995, S. 9
  16. Süddeutsche Zeitung vom 12./13. April 2008

* Dr. Marcus Hawel ist Soziologe, Mitherausgeber der Onlinezeitschrift sopos.org und lehrt zur Zeit an den Instituten für Politikwissenschaft sowie für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität Hannover.

Aus: junge Welt, 30. Mai 2008



Zurück zur Seite "Verfassungsschutz"

Zur Deutschland-Seite

Zurück zur Homepage