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Nach dem Tsunami

An der Küste Südindiens ist nach der Flutkatastrophe vor eineinhalb Jahren noch längst keine Normalität eingekehrt

Von Hilmar König, Delhi*

Flammend rot – Hahnenkämmen ähnlich – blühen die Bäume im Garten der Distriktbehörde von Nagapattinam im südindischen Unionsstaat Tamil Nadu. Wenn die schwüle Brise vom nahen Meer durch die Wipfel streicht, schwingen die schlanken Stämme, als wollten sie sich vor dem Memorial für die Tsunami-Opfer vom 26. Dezember 2004 verneigen. Auf der etwa fünf Meter hohen Stele liegt eine Erdkugel, um die die »Killer-Wogen« rasen. Darunter eine Uhr, deren Zeiger auf 8.20 Uhr stehen und den Zeitpunkt markieren, an dem das Unheil über die 190 Kilometer lange Küste von Nagapattinam hereinbrach. Am Fuß des Denkmals eingraviert in eine schwarze Steinplatte das Beileid für die Toten sowie Trost und Hoffnung für die Überlebenden.

18.000 neue Häuser wurden übergeben

Ein solches Denkmal hier in Nagapattinam zu finden, überrascht nicht, denn kein anderer indischer Küstenabschnitt wurde so schwer von dem Desaster betroffen. Das belegt eine ständige Ausstellung in der Empfangshalle der Behörde. Über 6.000 von den 8.000 Tsunami-Toten in Tamil Nadu entfielen auf den Distrikt, ebenso über die Hälfte der 3.500 Verletzten und mehr als zwei Drittel der 1.100 Vermissten. Auch kamen in der Region die meisten Nutztiere um. 12.000 von insgesamt nahezu 18.000 Tieren verendeten hier.

Um Hinterbliebenen und Geschädigten möglichst schnell und wirkungsvoll zu helfen, waren damals zusätzlich zum staatlichen Verwaltungsapparat rund 460 in- und ausländische Organisationen im Einsatz. 50 von ihnen sind noch immer an Ort und Stelle, um Wiederaufbauprojekte zu vollenden, die soziale Rehabilitation der Schwächsten voranzutreiben und neue Gemeinschaftsstrukturen aufzubauen.

K.S. Kandasamy, ein mit Sonderaufgaben für Tsunami-Geschädigte beauftragter Beamter in der Distriktbehörde, resümiert im ND-Gespräch die Arbeit von anderthalb Jahren und nennt die gegenwärtigen Schwerpunkte. Jede betroffene Familie erhielt als Soforthilfe 4.000 Rupien – etwa 50 Rupien sind ein Euro – und anschließend ein halbes Jahr lang 1.000 Rupien pro Monat. Für jeden Todesfall bekamen Hinterbliebene eine Entschädigung von 200.000 Rupien, Vollwaisen bekamen 500.000 Rupien, die bis zum 18. Lebensjahr auf einem Bankkonto festgelegt sind.

In den ersten Monaten konzentrierte sich die Hilfe auf die Fischerfamilien, von denen sehr viele ihr gesamtes Hab und Gut verloren hatten. Sie erhielten neue Boote und Netze. Noch leben Tausende in Lagern oder zeitweiligen Unterkünften, aber der Bau von festen Häusern ist in vollem Gange. Nahezu 18.000 neue Häuser seien inzwischen übergeben worden, berichtet der Beamte und fügt hinzu: »Vielen Fischern geht es heute besser als vor dem Tsu-nami.« Mehr Aufmerksamkeit gilt jetzt den Bauern, deren Äcker durch Meerwasser unbrauchbar wurden. Wo möglich, können sie aus dem staatlichen Entschädigungsbetrag von 20.000 Rupien pro Hektar eine neue Parzelle erwerben. Aber Ackerland ist knapp. Bei weniger belasteten Flächen stellt die Regierung Tamil Nadus für die Rekultivierung notwendige Zusatzstoffe zur Verfügung. Neu ist, dass der Unionsstaat nun Bauern einen Versicherungsschutz gewährt. Ein weiterer Schwerpunkt in Herrn Kandasamys Arbeit ist die Aufforstung besonders gefährdeter Strandabschnitte als wirkungsvollster Schutz gegen eine Tsunami-Flut. So wurden allein bei Pushpavanam während eines Großeinsatzes in 24 Stunden 255 000 Kasuarinen-Bäumchen gepflanzt.

Ein paar Wochen nach dem Tsu-nami hatten wir in Nagapattinam das auch aus deutschen Spenden finanzierte christliche Hilfswerk CASA besucht und bei seiner Arbeit in 17 betroffenen Küstendörfern beobachtet. Inzwischen, so berichtet uns Teamleiter Raj Kumar Thambu, übergab die Organisation den Fischern 425 Boote, dazu Netze und Motoren, und baute 100 Häuser, denen offiziell beste Qualität bescheinigt wurde. Bis Jahresende werden 1.000 solcher begehrter Bauten folgen.

»Füllhörner« der Entwicklungshilfe

CASA verteilte Handwerkzeug für Tischler, Elektriker und Maurer und schenkte mittellosen Dalit- Frauen zur Gründung einer selbständigen Existenz Ziegen. Das Netzwerk sorgte für die Bildung von 13 Selbsthilfegruppen sowie für Beschäftigungsmöglichkeiten für jene, die nach dem Tsunami weg von der Fischerei wollten und lieber als Heimwerker oder in einer Kooperative Kerzen, Glückwunschkarten, Räucherstäbchen und Souvenirs herstellen. CASA organisierte entsprechende Kurse und richtete für Schüler Lernzentren ein, in denen sie unter Anleitung ihre Hausaufgaben erledigen können.

Raj Kumar Thambu weist auf einen ganz wichtigen Aspekt hin, den CASA als »Prozess zur Schaffung von Gemeinschaftsstrukturen« bezeichnet. Die Tsunami-Zerstörungen schufen dafür einmalige Voraussetzungen. »Wir bauen nicht nur Häuser«, beschreibt Thambu das Vorhaben, »sondern wir wollen zugleich auch die Haltungen der Menschen verändern, ihren Bürgersinn und ihren Teamgeist wecken, sie zur Planung und Beteiligung an Projekten anregen, aus denen alle Nutzen ziehen. Sie sollen ihre Rechte kennen und sich für deren Durchsetzung engagieren.« Gerade die fest gefügten Gemeinschaften der Fischer, in denen Traditionen, Kastendenken und ein überhöhtes Selbstwertgefühl verankert sind, erweisen sich laut Thambu als »besonders harte Nüsse«. Obendrein wurden sie aus den »Füllhörnern« der Nichtregierungsorganisationen derart überschüttet, dass sie glaubten, die kostenlose Unterstützung würde bis zum Sanktnimmerleinstag währen.

Der CASA-Vertreter nennt ein paar Beispiele aus dem Dorf Pushpavanam: »Im vorigen Jahr schufen wir dort im Rahmen des Programms ›Nahrung für Arbeit‹ etwas völlig Neues – ein öffentliches Reinigungssystem. Der häusliche Abfall wurde in aufgestellte Mülltonnen geworfen. Doch wir hatten deren Entsorgung nicht bedacht. Niemand fühlte sich dafür verantwortlich. Fischer machen so etwas nicht, hieß es. Oder die Benutzung von Toiletten, die selbstverständlich zu den neu gebauten Häusern gehören. In den alten Hütten gab es das nicht. Die Fischer verrichteten traditionell ihre Notdurft am Strand. Und die Männer wollen daran noch immer festhalten.«

Vor dem Tsunami existierten die Fischersiedlungen ziemlich isoliert voneinander. Durch die Katastrophe begriffen die Bewohner, wie wichtig die Verbindung zur Außenwelt ist. Nun arbeitet CASA mit einem Dutzend Dörfer zusammen und ermutigt die Einwohner, sich gemeinsam bei den Behörden für den Bau einer Allwetterstraße einzusetzen, die alle Siedlungen verbindet und damit auch engere Kontakte zueinander ermöglicht. Die Chancen für das Projekt wachsen, da die Dörfler dank CASA auch zu Eigenleistungen bereit sind.

»Man hat uns längst vergessen«

In Chinnakalapet im Unionsterritorium Pondicherry, einer einstigen französischen Kolonie, treffen wir zufällig auf eine alte Bekannte von unserem Besuch im vorigen Jahr. Frau Vallis Haus stand direkt am Strand und wurde von der Flutwelle völlig zerstört. Nichts blieb. Beim Tsunami kamen einer ihrer Enkelsöhne, eine Tochter und eine Schwiegertochter ums Leben. Wie vor einem Jahr lebt Frau Valli in einer Hütte aus Palmblattwedeln in der »Tsu-nami-Siedlung«. Ihr Schicksal teilen 250 Familien. Sie schlafen auf dem nackten Boden. Sie verfügen über einen bescheidenen Hausrat, den ihnen CASA schenkte. Sie haben inzwischen Stromanschluss und eine zentrale Wasserentnahmestelle. In mancher Hütte flimmert gar ein Fernsehgerät, denn eine finanzielle Entschädigung haben alle erhalten, auch wenn sie darüber nicht sprechen möchten. Trotzdem wissen die Bewohner nicht, wie es weitergeht. Das Lager steht auf privatem Boden. Die Regierung kann sich nicht entschließen, das Stück Land, etwa 300 Meter in sicherem Abstand vom Strand entfernt, für den geforderten Preis zu kaufen. Deshalb glaubt Frau Valli: »Man hat uns längst vergessen. Das ist kein Leben hier. Selbst wenn Sie hier und da noch Schilder von Organisationen sehen, tatsächlich sind die alle weg. Nur Pater Dominique, der drüben auf dem Hügel wohnt, kümmert sich noch um uns. Er ist unser Rettungsanker.«

Auf dem Hügel jenseits der Hauptstraße nach Chennai stehen der »Ashram der Gnade« und das »Haus des Friedens«, die Wirkungsstätten des französischen katholischen Geistlichen. Er hält sich gerade in China auf. Deshalb geben John Pieter und Abilesh, Sozialarbeiter beim »Orden der Schwestern und Brüder des Heiligen Johannes«, Auskunft über die Tsunami-Hilfe. Jeden Tag beliefern sie mehr als 70 alte Leute in der Siedlung mit einer warmen Mahlzeit. Die Ausgaben für medizinische Notfälle trägt Pater Dominique. Außerdem hat er Witwen Kredit gewährt, damit sie sich durch ein Kleingewerbe ihren Lebensunterhalt sichern können. Für junge Männer laufen technische Ausbildungskurse, zum Beispiel für Schweißarbeiten. Sie enden mit einem Facharbeiterabschluss, der auch in Singapur und Malaysia anerkannt wird. Der Ashram der Gnade hilft auch bei der Vermittlung der Absolventen und bei der Visa-Beschaffung. Für Frauen unterhält er eine Schneiderstube. Und am Abend kommen 140 Mädchen und Jungen zum Nachhilfeunterricht. Den sowie einen dazu gehörenden Imbiss bezahlt Pater Dominique.

Auf dem Hügel suchten nach dem Tsunami hunderte Fischerfamilien aus Chinnakalapet Zuflucht. Pater Dominique und die Ordensschwestern und -brüder leisteten unten am Strand Erste Hilfe, bargen Tote, schafften Verletzte mit dem Ambulanzfahrzeug in die Krankenhäuser und versorgten und beköstigten die Flüchtlinge im Ashram, bis die staatliche Hilfe einsetzte. »Das war eine notwendige Sonderaktion«, sagt John Pieter und verweist dann auf einen ständigen Samariterdienst des Ordens. Im 1999 eröffneten »Haus des Friedens« werden rund um die Uhr HIV-positive Patienten und AIDS-Kranke, darunter 15 Waisenkinder, betreut und behandelt. Die Erwachsenen, von den Familien verstoßen, vom Arbeitsplatz verjagt und mit dem Stigma »Unberührbarer« behaftet, finden hier ein neues Zuhause, erhalten liebe- und verständnisvolle Pflege. Einige Kinder besuchen reguläre Schulen, andere werden im »Haus des Friedens« informell unterrichtet.

Die tägliche Arbeit und die gezielten Aufklärungskampagnen Pater Dominiques, aber auch die durch den Tsunami zeitweise erzwungenen Kontakte zwischen Patienten und Flüchtlingen, beispielsweise bei der gemeinsamen Essenzubereitung, haben dazu beigetragen, dass zumindest in Chinnakalapet die Berührungsängste zu HIV/AIDS-Kranken spürbar schwanden.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Mai 2006


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