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200.000 Tote im Zeitraum von 1990 bis 2004

Der Reaktorunfall von Tschernobyl: Eine einzigartige globale Katastrophe. Greenpeace veröffentlicht Gesundheitsreport

Im Folgenden dokumentieren wir die wichtigsten Ergebnisse aus von Greenpeace in Auftrag gegebenen Studie über die gesundheisschädigenden Auswirkungen der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl vor 20 Jahren. Die vollständige Kurzfassung der Studie (mit Autorenverzeichnis, Vorwort und einer Tabelle) kann als pdf-Datei von der Website von Greenpeace herunter geladen werden: www.greenpeace.de.
Für den/die eilige/n Leser/in stellen wir der Kurzfassung der Studie eine zusammenfassende Pressemitteilung von Greenpeace voran (Kasten).

Die Katastrophe von Tschernobyl: Vertuscht und heruntergespielt

Der Super-Gau von Tschernobyl hat Millionen Leben zerstört. Durch Tod, Siechtum, Krankheiten unterschiedlichster Art, Missbildungen. Durch den Verlust geliebter Menschen und die Angst vor dem, was noch kommt. Viele der Opfer sind noch nicht einmal geboren. Seit 20 Jahren wird das Ausmaß der Katastrophe vertuscht und heruntergespielt. Greenpeace hat jetzt einen Report veröffentlicht, der die skandalösen Verharmlosungen widerlegt.

Der Name Tschernobyl ist zum Inbegriff des atomaren Schreckens geworden. Die letzten veröffentlichten Schätzungen gehen allein für Weißrussland, die Ukraine und Russland von 200.000 Toten im Zeitraum 1990 bis 2004 aus. Doch solche Zahlen gelangen kaum in die breitere Öffentlichkeit. Es ist auffällig, wie vage die Vorstellungen vom Ausmaß des Desasters sind.

Zum tragischen Schicksal der Tschernobyl-Opfer gehört, dass es sie nicht geben dürfte. Sie passen nicht ins Konzept. Sie passten vor 20 Jahren nicht ins Konzept der damaligen Weltmacht Sowjetunion, sie passen bis heute nicht ins Konzept der internationalen Atomlobby. Das ist die zweite Tragödie in ihrem Leben.

Das Leiden ist noch lange nicht vorbei

Um Licht in das Dunkel um die Opfer der Katastrophe zu bringen, hat Greenpeace mit mehr als 30 renommierten Wissenschaftlern zusammengearbeitet. Unter anderem mit ukrainischen, weißrussischen und russischen Experten. Manche der zusammengetragenen Daten liegen jetzt zum ersten Mal in englischer Sprache vor.

Unter anderem werteten die Fachleute neueste Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften aus. Sie kommen allein für die Länder Weißrussland, Ukraine und Russland auf 270.000 zusätzliche Krebserkrankungen, von denen wahrscheinlich 93.000 tödlich enden werden. Weitere Studien vermuten noch weitaus höhere Zahlen. Die Latenzzeit kann bei einer Krebserkrankung bis zu 50 Jahre betragen.

Vergleiche zwischen belasteten und unbelasteten Gebieten zeigen auch deutlich höhere Raten bei anderen Krankheiten. Die Strahlung scheint das Immun- und das Hormonsystem anzugreifen. Die betroffenen Menschen leiden häufiger als andere an Infektionen, Herz- und Gefäßkrankheiten, Bluterkrankungen, Unfruchtbarkeit und vorzeitiger biologischer Alterung. Die Zahl der Schwangerschaftskomplikationen, der Fehlgeburten und missgebildet geborenen Säuglinge ist drastisch gestiegen. Erlittene Schäden am Erbgut werden an die Kinder weitervererbt. Die Folgen der Katastrophe reichen weit in kommende Generationen hinein.

Die Interessenpolitik der Atomlobby

Die IAEO hat im September 2005 eine Studie vorgelegt, derzufolge an den Folgen des Super-Gau bislang nur 58 Menschen gestorben und in Zukunft höchstens 4.000 Krebstote zu befürchten seien. Die Weltgesundheitsorganisation, auf die sich die Behörde der Atomlobby beruft, schweigt dazu. Sie ist in ihrem eigenen Bericht zwar von einer mehr als doppelt so hohen Opferzahl ausgegangen, doch auch diese Zahl ist schon nach unten bereinigt.

Keiner kann sicher sagen, wie viele Menschen an den Folgen von Tschernobyl sterben werden. Dazu sind die Auswirkungen der Radioaktivität zu vielfältig und ist die Datenlage zu ungenügend. Doch wer von 4.000 Opfern spricht, leugnet die Schwere dieses Unglücks und ignoriert das Leid unzähliger Menschen, sagt Thomas Breuer, Atomexperte von Greenpeace. Selbst die IAEO geht in ihren Schätzungen von mehr Todesopfern aus als sie öffentlich erklärt. Man muss nur das Kleingedruckte in ihrer Studie lesen.

Greenpeace wirft der IAEO vor, den schlimmsten Unfall in der Geschichte der Atomkraft bewusst zu verharmlosen, um der Atomindustrie genehmere Zahlen zu verschaffen. Weltweit gibt es über 440 Atomkraftwerke. Jedes ist ein potenzielles Tschernobyl. Etwas anderes zu behaupten, kommt dem Super-Gau menschlicher Erkenntnisfähigkeit gleich. Die IAEO muss ihre Förderung der Atomkraft aufgeben und stattdessen den weltweiten Atomausstieg beaufsichtigen. Greenpeace fordert auch die Bundesregierung auf, sich für dieses Ziel einsetzen.

Quelle: Pressemitteilung von Greenpeace vom 18.04.2006; www.greenpeace.de



Gesundheitsreport:

20 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl

Kurzfassung (Auszug)

1. Einführung

Das Jahr 2006 markiert den 20. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl. Vor zwanzig Jahren ging das Konzept der „friedlichen Nutzung der Atomenergie“ in einer dunklen Wolke über dem brennenden Atomreaktor Nr. 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl in der ehemaligen Sowjetunion verloren. Die größte technische Katastrophe in der Geschichte der Menschheit ereignete sich in einer ukrainischen Kleinstadt am Ufer des Flusses Pripjat. Über Nacht wurde der Name Tschernobyl weltweit bekannt.

Zwanzig Jahre später wohnen immer noch mehrere Millionen Menschen (je nach Schätzung 5 bis 8 Millionen) in den vom radioaktiven Fallout verseuchten Gebieten. Da die Halbwertzeit des wichtigsten (aber bei weitem nicht einzigen) radioaktiven Elements, das freigesetzt wurde, nämlich Cäsium-137 (137Cs), etwas über 30 Jahre beträgt, werden die Folgen dieses Atomunfalls noch mehrere Jahrhunderte lang zu spüren sein.

Dieses im wahrsten Sinne des Wortes globale Ereignis hatte seine stärksten Auswirkungen in den drei benachbarten ehemaligen Sowjetrepubliken, die heute den unabhängigen Staaten Ukraine, Weißrussland und Russland entsprechen. Doch mehr als die Hälfte des freigesetzten Cäsium 137 regnete auf die Staatsgebiete Dutzender anderer Länder herab. Mindestens in 14 weiteren europäischen Ländern (Österreich, Schweden, Finnland, Norwegen, Slowenien, Polen, Rumänien, Ungarn, Schweiz, Tschechische Republik, Italien, Bulgarien, Moldawien und Griechenland) waren Gebiete von Strahlungswerten über 37 kBq/m² betroffen – dem Grenzwert, ab dem ein Gebiet als „kontaminiert" definiert wird. Geringere, jedoch immer noch erhebliche Radioaktivitätswerte, die auf den Unfall in Tschernobyl zurückzuführen waren, wurden überall auf dem europäischen Kontinent – von Skandinavien bis zum Mittelmeer – und auch in vielen Teilen Asiens gemessen.

Die Summe der Auswirkungen auf die Ökosysteme, die menschliche Gesundheit, die Wirtschaftsleistung und die sozialen Strukturen bleibt ungewiss, obwohl diese Folgen wahrscheinlich weitreichend und lange andauernd sein werden. Dieser Bericht stützt sich auf Beiträge zahlreicher Wissenschaftler und Gesundheitsexperten, darunter viele aus der Ukraine, Weißrussland und der Russischen Föderation, und behandelt einen dieser Aspekte, das heißt Art und Ausmaß der langfristigen Folgen für die menschliche Gesundheit.

Die Spannbreite zwischen den durch die Reaktorkatastrophe erwarteten Todesopfern ist sehr groß. Sie hängt davon ab, welche Daten genau berücksichtigt wurden. Einige Beispiele dieser Schätzungen sind in der unten folgenden Tabelle dargestellt. Die neuesten Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften gehen davon aus, dass die Folgen viel größer sein werden als bisher publizierte Studien dies erwarten. Zum Beispiel hat die Internationale Atomenergieorganisation IAEO 2005 geschätzt, dass als Folge von Tschernobyl 4.000 Menschen sterben werden. Die letzten veröffentlichten Schätzungen zu diesem Themenfeld gehen alleine für Weißrussland, die Ukraine und Russland von 200.000 Toten im Zeitraum von 1990 bis 2004 aus.

(...)

Der Bericht enthält einige Daten, die bisher auf internationaler Ebene noch nicht veröffentlicht worden sind; doch in Kombination mit der umfangreichen Bibliographie (insbesondere Werke in russischer Sprache) ergeben sich Hinweise, dass die offiziellen Angaben zur Morbidität (Erkrankungshäufigkeit) und Mortalität (Sterberisiko) als direkter Folge der durch Tschernobyl freigesetzten radioaktiven Kontamination möglicherweise stark untertrieben sind.

Vier Personengruppen scheinen die schwerwiegendsten Folgen im Hinblick auf ihre Gesundheit erlitten zu haben:
  1. Die für die Aufräumarbeiten eingesetzten Arbeiter, die so genannten „Liquidatoren“, einschließlich Zivil- und Militärpersonal, die herangezogen wurden, um Aufräumarbeiten durchzuführen und den Schutzmantel für den Reaktor zu bauen,
  2. Evakuierte Personen aus den hoch kontaminierten Gebieten der 30-Kilometer-Zone um das Kraftwerk herum,
  3. Bewohner der stark kontaminierten Gebiete außerhalb der 30-Kilometer-Zone, und
  4. Kinder, die in Familien geboren wurden, die einer der drei vorgenannten Gruppen angehören.
Die wichtigsten Ergebnisse im Hinblick auf Krebs- und andere Erkrankungen werden nachstehend zusammengefasst.

2. Krebserkrankungen

Heute ist klar, dass die von Tschernobyl ausgehende Kontamination tatsächlich einen sprunghaften Anstieg der Krebserkrankungen verursacht hat. Insbesondere bei Bevölkerungsgruppen aus stark kontaminierten Regionen und bei den „Liquidatoren“, der am höchsten radioaktiv belasteten Gruppe, ist die Krebsrate im Vergleich zu Referenzgruppen (d.h. relativ wenig exponierten Personen) deutlich höher. Bei „Liquidatoren“ aus Weißrussland waren die Raten der Nieren-, Blasen-/Harnweg- und Schilddrüsenkrebserkrankungen im Zeitraum von 1993 bis 2003 alle signifikant höher als bei einer vergleichbaren Referenzgruppe. Die Leukämierate war bei „Liquidatoren“ aus der Ukraine, Erwachsenen in Weißrussland und Kindern aus den am meisten kontaminierten Gebieten Russlands und der Ukraine signifikant höher.

Hier nur einige der zahlreichen Beispiele:
  • Zwischen 1990 und 2000 gab es einen Anstieg von 40% der Gesamtzahl der Krebsfälle in Weißrussland, wobei dieser Anstieg in der stark kontaminierten Region Gomel höher (52%) als in den weniger kontaminierten Regionen Brest (33%) und Mogilew (32%) war. In den kontaminierten Gebieten der Region Zhytomir in der Ukraine stieg der prozentuale Anteil der Erwachsenen, die an Krebs erkrankten, zwischen 1986 und 1994 um fast das Dreifache (von 1,34% auf 3,91%).
2.1. Schilddrüsenkrebs

Die Zahl der Fälle von Schilddrüsenkrebs stieg in allen drei Ländern dramatisch; dies war auf Grund der Freisetzung großer Mengen radioaktiver Jodverbindungen durch die Tschernobyl-Katastrophe auch so erwartet worden. So war beispielsweise die Häufigkeit dieser Erkrankungen in der stark kontaminierten Region Bryansk im Zeitraum 1988 bis 1998 doppelt so hoch wie in Gesamtrussland und stieg bis 2004 auf das Dreifache des Landesdurchschnitts. Schätzungen, die von bis zu über 60.000 zusätzlichen Fällen ausgehen, wurden alleine für die Ukraine, Weißrussland und die Russische Föderation prognostiziert.

Kinder, die zum Zeitpunkt der Exposition (Belastung durch radioaktive Strahlung) 0 bis 4 Jahre alt waren, erwiesen sich als besonders anfällig für diese Krebsart. Vor der Katastrophe betrug die Schilddrüsenkrebsrate bei Kindern und Jugendlichen im Mittel 0,09 Fälle pro 100.000. Nach 1990 stieg die Häufigkeit auf 0,57 bis 0,63 Erkrankungen je 100.000 an. Der Scheitelpunkt der Schilddrüsenkrebsmorbidität bei Personen, die zum Zeitpunkt der Katastrophe Kinder oder Teenager waren, wurde für den Zeitraum 2001 bis 2006 vorhergesagt.

Schilddrüsenkarzinome, die durch Tschernobyl verursacht wurden, scheinen ungewöhnlich aggressiv zu sein, früh und rasch zu wachsen und Metastasen in den Lymphknoten sowie der Lunge zu bilden, wodurch sich die Prognose verschlechtert sowie häufige und wiederholte chirurgische Eingriffe zu ihrer Entfernung erforderlich sind.

Angesichts der besonders langen Latenzzeiten, die in Bezug auf Schilddrüsenkrebs bekannt sind (bis zu 50 Jahre), wird wohl in den kommenden Jahrzehnten mit weiteren tschernobylbedingten Neuerkrankungen zu rechnen sein. Die langfristige medizinische Begleitung der Menschen aus den vier hochexponierten Gruppen, einschließlich solchen, die relativ niedrigen Dosen ausgesetzt waren, wird von entscheidender Bedeutung sein, um rechtzeitig wirksame medizinische Eingriffe zu ermöglichen.

2.2. Leukämie

Erhöhte Raten akuter Leukämie wurden bei weißrussischen „Liquidatoren“ erstmals im Zeitraum 1990 bis 1991 beobachtet. Seit 1992 war eine signifikant erhöhte Häufigkeit aller Formen von Leukämie bei der gesamten erwachsenen Bevölkerung von Weißrussland zu erkennen. In der Ukraine war die Häufigkeit bösartiger Blutkrebserkrankungen in den vier am meisten kontaminierten Bereichen der Regionen Zhytomir und Kiew signifikant höher als vor der Katastrophe, und zwar sowohl während der ersten vier Jahre als auch während des sechsten Jahres nach der Katastrophe.

Die Leukämierate bei Kindern in der Region Tula überstieg in der Zeit nach dem Unfall von Tschernobyl signifikant die durchschnittlichen Raten für Russland, insbesondere in der Altersgruppe von 10 bis 14 Jahren. In Lipetsk stieg die Zahl der Leukämiefälle zwischen 1989 und 1995 um das 4,5-fache. Einige Daten deuten darauf hin, dass selbst Kinder, die in der Gebärmutter der Strahlung ausgesetzt waren, ein erhöhtes Leukämierisiko haben.

2.3. Sonstige Krebsarten

Ein Anstieg der Krebserkrankungen der Atemwege bei Frauen wurde in den am stärksten kontaminierten Gebieten der Region Kaluga beobachtet. Seit 1995 wurden auch überdurchschnittliche Raten an Magen-, Lungen-, Brust-, Rektum-, Kolon-, Schilddrüsenund Knochenmarkkarzinomen sowie Krebserkrankungen des Lymphsystems in den südwestlichen Gebieten dieser Region beobachtet. In der Region Tula wurden im Zeitraum 1990 bis 1994 ungewöhnlich hohe Raten an Knochenkrebs und Karzinomen des Zentralnervensystems bei Kindern ermittelt.

In den am meisten kontaminierten Gebieten blieb die Häufigkeit der Brustkrebserkrankungen während des gesamten Zeitraums 1980 bis 1992 recht stabil und eher niedriger als in den umgebenden Gebieten. Doch seit 1992 begann die Brustkrebshäufigkeit in den kontaminierten Gebieten zu steigen. Signifikante Erhöhungen der Häufigkeit von Blasen-/Harnwegkarzinomen wurden auch in den vergangenen Jahren in den kontaminierten Gebieten der Ukraine beobachtet.

3. Andere Erkrankungen außer Krebs

Die genannten Veränderungen der Häufigkeit von Krebserkrankungen, die in Studien über Personengruppen berichtet werden, die der Strahlung durch den Tschernobyl-Unfall ausgesetzt waren, sind nur ein Aspekt einer ganzen Reihe beobachteter gesundheitlicher Auswirkungen. Zudem wurden signifikant höhere Raten anderer Erkrankungen (außer Karzinomen) bei den exponierten Personengruppen genannt, obwohl die Zahl der Studien angesichts der Größenordnung der Exposition relativ gering ist.

Trotz der Schwierigkeiten bei der Ableitung absoluter Ursache/Wirkungs-Beziehungen und der relativen Datenarmut angesichts der erheblichen internationalen Auswirkungen der Freisetzung radioaktiver Stoffe in Tschernobyl reichen die verschiedenen Berichte aus, um recht deutlich zu machen, dass – wenn die Morbiditäts- und Mortalitätszahlen nur auf projizierte und beobachtete Veränderungen der Krebserkrankungsraten bei diesen Personengruppen gestützt werden – das vollständige Ausmaß und die tatsächliche Größenordnung der Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit erheblich unterschätzt werden.

3.1 Atemwegsystem

Die Atemwegsysteme der betroffenen Menschen waren den durch den Tschernobyl-Unfall freigesetzten radioaktiven Stoffen über zwei Hauptwege ausgesetzt. In den frühen Phasen der Freisetzung radioaktiver Verbindungen bedeutete die Bildung unterschiedlich großer „heißer“ Aerosol-Fest- und -flüssigpartikel in Kombination mit gasförmigen Radionukliden, dass „Inhalation“ der signifikanteste Expositionsweg war. Später wurde die externe Strahlung der abgelagerten Stoffe als signifikantester Expositionsweg für das Atemwegsystem angesehen.

Bei den Personen, die aus der untersuchten 30-Kilometer-Zone in Weißrussland evakuiert wurden, hatte sich die Atemwegmorbidität fast verdoppelt. Diese Morbidität machte rund ein Drittel der Probleme aus, die bei Evakuierten und bei denjenigen Erwachsenen und Jugendlichen beobachtet wurden, die weiter in den kontaminierten Regionen wohnten. Bei Kindern machten Atemwegprobleme fast zwei Drittel der dokumentierten Morbidität aus. In Russland wurde eine positive Korrelation zwischen Atemwegproblemen bei Neugeborenen und dem Grad der radioaktiven Verseuchung der betreffenden Orte festgestellt.

Die Statistiken des ukrainischen Gesundheitsministeriums dokumentieren eine Zunahme der Fälle unspezifischer chronischer Bronchitis und Emphyseme von ca. 300 je 10.000 im Jahr 1990 auf über 500 je 10.000 erwachsenen und jugendlichen Einwohnern im Jahr 2004. Im Verlauf des gleichen Zeitraums kam es fast zu einer Verdoppelung der Bronchialasthma- Morbidität, die 55,4 Fälle je 10.000 Einwohner erreichte.

Die ausführlichsten vorliegenden Studien beziehen sich auf die „Liquidatoren“, die an der Sicherung des Reaktors und den Aufräumarbeiten nach dem Unfall beteiligt waren. In dieser Gruppe wurden chronisch-obstruktive Lungenerkrankungen (COPD) in Form von chronischobstruktiver Bronchitis und Bronchialasthma als Hauptursachen für Mortalität, Morbidität und Arbeitsunfähigkeit beobachtet. In diesen Fällen erlaubten es die durchgeführten Nachuntersuchungen, umfassende Krankheitsbefunde mit rekonstruierten Strahlendosisprofilen zu verknüpfen. So wurde es möglich, das Fortschreiten der berichteten gesundheitlichen Probleme recht detailliert zu dokumentieren. Diese Gruppe bietet ein relativ seltenes Beispiel für eine von der freigesetzten Strahlung betroffene Bevölkerungsgruppe, die in recht ausführlicher Weise nachuntersucht wurde.

3.2. Verdauungssystem

Es gibt einige Belege dafür, dass Störungen des Verdauungssystems bei Personen, die der Tschernobyl-Strahlung ausgesetzt waren, häufiger vorkommen. Eine 1995 durchgeführte Untersuchung deutete darauf hin, dass die Morbidität durch derartige Störungen bei weißrussischen Evakuierten und Einwohnern der kontaminierten Gebiete um das 1,8-Fache höher war als bei der Bevölkerung ganz Weißrusslands. Zwischen 1991 und 1996 stieg die gemeldete Häufigkeit gastrointestinaler Ulkusfälle bei der weißrussischen Bevölkerung um fast 10% an.

In der Ukraine sind diesbezüglich umfassendere Berichte vorhanden. Gemeldete Störungen des Verdauungssystems wurden bei erwachsenen Evakuierten aus der Stadt Pripjat und der 30-Kilometer-Zone häufiger als bei der übrigen Bevölkerung festgestellt. Die Indizes der Verdauungssystemmorbidität waren bei Personen, die in Zonen mit strengen Strahlungskontrollen lebten, höher als bei der ukrainischen Bevölkerung insgesamt. Die Untergruppe Kinder war laut Berichten besonders anfällig für Erkrankungen des Verdauungssystems, deren Rate zwischen 1988 und 1999 auf 10,1 je 10.000 anstieg und sich damit mehr als verdoppelte. Bei Kindern ergab sich eine deutliche Tendenz zu einer erhöhten Zahl gemeldeter pathologischer Entwicklungen der Verdauungsorgane, und ähnliche Befunde wurden für Kinder berichtet, die in utero exponiert waren. Störungen des Verdauungssystems wurden als häufigste Ursache für den schlechten Gesundheitszustand von Kindern genannt, die in kontaminierten Gebieten lebten.

3.3. Blutgefäßsystem

Die durch Tschernobyl verursachte Radionuklidexposition wurde nicht nur mit bösartigen Erkrankungen des Blut- und Lymphsystems in Verbindung gebracht, sondern auch mit nicht bösartigen Erkrankungen des Blutgefäßsystems, die wahrscheinlich in Folge der Aufmerksamkeit, die diesen Organsystemen im Hinblick auf ihre besondere Empfindlichkeit für bösartige Erkrankungen gewidmet wurde, leichter diagnostiziert werden konnten.

In Weißrussland stieg zehn Jahre nach dem Unfall von Tschernobyl die Rate der Blutkrankheiten allgemein an, wobei für die kontaminierten Gebiete ein überdurchschnittlicher Anstieg berichtet wurde.

Blutbildveränderungen wurden von den Bevölkerungsuntergruppen berichtet, die in den vom Tschernobyl-Fallout betroffenen russischen Gebieten leben.

Die umfassendsten Untersuchungen scheinen in der Ukraine durchgeführt worden zu sein. Allgemein verbreitete, früh einsetzende Arteriosklerose und Erkrankungen der Herzkranzgefäße entwickelten sich häufiger bei Evakuierten aus der 30-Kilometer-Zone und denjenigen Personen, die in mit Radionukliden verseuchten Gebieten wohnten, als bei der Gesamtbevölkerung. In den kontaminierten Gebieten stieg die Blutsystemmorbidität laut Schätzungen zwischen 1988 und 1999 um den Faktor 10 bis 15.

In einer relativ ungewöhnlichen, grenzüberschreitenden Untersuchung wurden hämorrhagische Erkrankungen und pränatale Hepatitis bei Neugeborenen in verschiedenen Gebieten überwacht, die der Tschernobyl-Strahlung in Weißrussland, der Ukraine und der Russischen Föderation ausgesetzt waren. Dabei wurde festgestellt, dass diese Erkrankungen dort 4 bzw. 2,9 Mal häufiger auftraten als in den untersuchten nicht kontaminierten Gebieten.

3.4. Skelettmuskulatursystem und Hautsystem

Spezifische Daten zu den Reaktionen des Skelettmuskulatur- und Bindegewebesystems auf die Strahlungsexposition in Folge des Tschernobyl-Unfalls sind relativ selten. Dies ist zweifellos auf die Tatsache zurückzuführen, dass diese Körperorgansysteme nicht per se als kritisch verwundbar angesehen werden.

Dennoch deuten Daten, die aus den kontaminierten Gebieten Weißrusslands und der Ukraine in Bezug auf Beschwerden des Skelettmuskelsystems berichtet wurden, darauf hin, dass diese deutlich zugenommen haben. Untersuchungen fötaler Skelette ergaben zudem, dass Cäsium 137 in den Knochen abgelagert wurde und dass eine höhere Zahl von Anomalien als erwartet zu verzeichnen war.

Die grenzüberschreitende Untersuchung zum Gesundheitsstatus von Neugeborenen, die in verschiedenen kontaminierten Gebieten durchgeführt wurde, deutete auf eine steigende Tendenz zu Entwicklungsdefiziten beim Skelettmuskelsystem hin.

3.5. Hormoneller/endokriner Status

Im Jahr 1993 wiesen mehr als 40% der in der weißrussischen Region Gomel untersuchten Kinder vergrößerte Schilddrüsen auf, während in der Ukraine Schilddrüsenschäden bei 35,7% von 3.019 Jugendlichen in den Regionen Winnitsk und Zhytomir beobachtet wurden, die zum Zeitpunkt des Unfalls 6 bis 8 Jahre alt waren. In dieser Studie wurde im Zeitraum 1986 bis 1987 nach dem Unfall eine primäre funktionelle Reaktion der Schilddrüse beobachtet, der eine chronische autoimmune Schilddrüsenentzündung (1990 bis 1992) und eine klinische Manifestation der Erkrankung in den Jahren 1992 bis 1993 folgte. Von diesen Kindern entwickelten 32,6% einen offensichtlich pathologischen Schilddrüsenbefund im Vergleich zu nur 15,4% in der Kontrollgruppe.

Die berichtete Morbidität auf Grund von Erkrankungen des endokrinen Systems, des Verdauungssystems, des Metabolismus und des Immunsystems bei Evakuierten aus der Sperrzone sowie der Bevölkerung der kontaminierten Gebiete war mehr als doppelt so hoch wie die der weißrussischen Gesamtbevölkerung. Im Jahr 1995 wurden je 100.000 Personen 2.317 Fälle (bei Evakuierten) bzw. 1.272 Fälle (bei Einwohnern der kontaminierten Zone) im Vergleich zum Landesdurchschnitt von 583 verzeichnet.

Erkrankungen des endokrinen Systems bei Kindern, die in kontaminierten Gebieten der Region Tula lebten, stiegen bis 2002 um das Fünffache im Vergleich zu der Zeit vor dem Unfall. Die Morbidität bei erwachsenen Bewohnern der stark kontaminierten südwestlichen Gebiete der Region Bryansk überstieg den regionalen Durchschnitt um rund das 2,6-Fache.

Es scheint, als sei die allgemein verbreitete Reaktion bei Personen, die in kontaminierten Gebieten lebten, eine erhöhte Aktivität des endokrinen Systems, die sich erst 5 bis 6 Jahre, nachdem sie diese Gebiete verlassen hatten, stabilisierte. In russischen Gebieten, die von der von Tschernobyl ausgehenden Radioaktivität betroffen waren, wurden allgemein verbreitete Störungen bei der Produktion und hinsichtlich des Gleichgewichts der Sexualhormone berichtet, während eine dauernd erhöhte Rate an endokrinen Autoimmunerkrankungen – autoimmune Thyroadenitis, Thyrotoxikose und Diabetes – seit 1992 in den kontaminierten Gebieten der Ukraine zu beobachten war.

Insgesamt ist festzustellen, dass pathologische Befunde des endokrinen Systems bei den Bevölkerungsgruppen, die der Tschernobyl-Strahlung ausgesetzt waren, eine sehr häufige und signifikante Auswirkung sind. Angesichts der Bedeutung des endokrinen Systems für die Modulation der gesamten Körperfunktion kann es nicht überraschen, dass auch andere Funktionsstörungen zu beobachten waren.

4. Anomalien des Immunsystems

4.1. Allgemein verbreitete Immunreaktionen

Das Immunsystem ist eines der durch die endokrine Funktion modulierten Systeme. Dementsprechend sind Anomalien des Immunsystems zu erwarten, wenn das endokrine System gestört ist. Zudem kann ionisierende Strahlung auch direkt Bestandteile des Immunsystems beeinträchtigen.

In Weißrussland ergab eine Untersuchung des Immunsystemstatus bei 4.000 Männern, die kleinen, jedoch lang anhaltenden Strahlungsdosen ausgesetzt waren, dass die chronische Strahlungsexposition zu einem Verlust der Fähigkeit des Immunsystems führte, Widerstand sowohl gegen infektiöse als auch nicht infektiöse Erkrankungen zu leisten. Studien zur Zellund Humoralimmunität in der weißrussischen Region Gomel zeigen, dass die Veränderungen des Immunsystems, die sich bei Kindern entwickeln, die ständiger Strahlung ausgesetzt sind, von den beteiligten Radionukliden abhängen: Es wurden unterschiedliche Auswirkungen bei radiologisch äquivalenten Expositionen ermittelt - je nachdem, ob es sich um Strontium, Cäsium und sonstige Radionuklide handelte.

Die reduzierte Immunität äußerte sich in der Verminderung der Zahl der Leukozyten, der Aktivität der T-Lymphozyten und der Fresszellen sowie in Thrombopenie und verschiedenen Formen von Anämie, die in russischen Gebieten beobachtet wurden, die von der Tschernobyl-Katastrophe betroffen waren. Bis 2002 stieg die Häufigkeit von Immun- und metabolischen Auswirkungen bei Kindern in den vom Tschernobyl-Fallout betroffenen Gebieten der Region Tula um das Fünffache im Vergleich zum Status vor dem Tschernobyl- Unfall.

In der Ukraine wurden die negativsten Folgen bei Kindern beobachtet, deren Schilddrüsen in der Gebärmutter sehr hohen Strahlungsdosen ausgesetzt waren. Von diesen Kindern entwickelten 43,5% Immuninsuffizienz im Vergleich zu 28,0% in der Kontrollgruppe.

4.2. Infektionskrankheiten

Eingriffe in das Immunsystem können sich auf das Auftreten und den Schweregrad von Infektionskrankheiten in der breiten Bevölkerung auswirken. Einige der nach dem Tschernobyl-Unfall gesammelten statistischen Daten deuten darauf hin, dass die der Strahlung ausgesetzten Bevölkerungsgruppen möglicherweise stärker krankheitsgefährdet sind.

In einer grenzüberschreitenden Untersuchung von Befunden bei Müttern und Neugeborenen, deren Mütter aus den strahlungsverseuchten Gebieten des Bezirks Polessky in der Region Kiew bis zu 740 bis 2.220 kBq/m2, des Bezirks Tschechersky in der Region Gomel 185 bis 2.590 kBq/m2, sowie der Bezirke Mtsensky und Wolchowsky in der Region Orel 37 bis 185 kBq/m2 bzw. 370 bis 555 kBq/m2 stammten, ergab sich, dass pränatale Infektionskrankheiten bei diesen 2,9 Mal häufiger auftraten als vor dem Unfall.

Zwischen 1993 und 1997 wurden das Auftreten von Hepatitis-B- und -C-Viren sowie die schnellere Ausbreitung von Hepatitis-D- und -G-Viren bei 2.814 Erwachsenen und Jugendlichen festgestellt, die der Tschernobyl-Strahlung in der Region Witebsk ausgesetzt gewesen waren. Dies könnte letztendlich zu einer erhöhten Mortalität auf Grund von Leberzirrhosen und primären Leberkarzinomen führen. Die Häufigkeit von Virushepatitis in stark kontaminierten Gebieten der Regionen Gomel und Mogilew war mehr als 6 bis 7 Jahre nach dem Unfall doppelt so hoch wie im weißrussischen Durchschnitt.

Ansonsten wurde eine Zunahme der Kryptosporidiose-Infektionen in der Region Bryansk festgestellt. Kinder in kontaminierten Gebieten waren häufiger von Pneumozysten (56,3% im Vergleich zu 30% in der Referenzgruppe) betroffen.

4.3. Genetische Anomalien und Chromosomenaberrationen

Die Häufigkeit von Chromosomenaberrationen in den Gebieten der Ukraine, Weißrusslands und Russlands, die durch Tschernobyl-Fallout kontaminiert wurden, war deutlich gegenüber dem weltweiten Mittel erhöht. Die Häufigkeit von Zellmissbildungen und Chromosomenaberrationen je 100 Lymphozyten in kontaminierten Gebieten der Ukraine und Weißrussland lag um das bis zu Dreifache über dem Weltdurchschnitt. In Russland erhöhte sich die Häufigkeit von Chromosomenaberrationen bei Bewohnern von Gebieten mit Kontaminierungswerten von mehr als 111 kBq/m2 um das Zwei- bis Vierfache, während eine Untersuchung bei einer Reihe von ukrainischen Bürgern vor und nach dem Tschernobyl- Unfall eine Zunahme der Häufigkeit strahlungsbedingter Chromosomenveränderungen um das Sechsfache ergab – eine Eigenschaft, die sie anscheinend an ihre Kinder weitergegeben haben. Chromosomenaberrationen, die Tschernobyl zugeschrieben werden, sind auch in so weit entfernten Ländern wie Österreich, Deutschland und Norwegen aufgetreten.

Die Zunahme der Häufigkeit von Chromosomenmutationen korreliert häufig mit der Zunahme der Häufigkeit verschiedenster Krankheiten. Beispielsweise wurde festgestellt, dass eine Zunahme der Chromosomenaberrationen bei Lymphozyten bei 88% der untersuchten „Liquidatoren“ mit der diagnostizierten Zahl psychopathologischer Expositionen und sekundärer Immunsuppression korreliert.

4.4. Urogenital- und Reproduktionssystem

Während der Jahre 1988 bis 1999 kam es zu mehr als einer Verdoppelung der Erkrankungen des Urogenitalsystems bei Bevölkerungsgruppen, die noch in den am stärksten kontaminierten Gebieten der Ukraine lebten. Eine dreifache Zunahme von entzündlichen Prozessen, Störungen des Menstrutionszyklus und der Entwicklung von gutartigen Eierstocktumoren wurde von exponierten Frauen berichtet. In anderen kontaminierten Regionen kam es seit dem Unfall laut Berichten häufiger zu Unfruchtbarkeit und Impotenz bei Männern. Strukturelle Veränderungen der Samenkanälchen und Störungen der Samenproduktion wurden bei Dreiviertel der in der Region Kaluga untersuchten Männer beobachtet.

Mehr als 8 bis 10 Jahre nach dem Unfall stieg die Gefahr eines ungewollten Schwangerschaftsabbruchs bei Evakuierten aus der 30-Kilometer-Zone und Frauen, die in den kontaminierten Gebieten lebten. Bei stark exponierten Gruppen litt mehr als die Hälfte der schwangeren Frauen unter Komplikationen während der Schwangerschaft (einschließlich Präeklampsie, Anämie und fetoplazentarem Versagen), während in der Kontrollgruppe nur bei 10% der Frauen Komplikationen auftraten. In ähnlicher Weise wurde das Risiko einer Fötusentwicklungshemmung bei 35% der Frauen mit Strahlungsrisiko beobachtet, womit dieses Risiko dreimal höher ist als in der Gesamtbevölkerung, während Komplikationen bei der Geburt bei mehr als Dreiviertel der Frauen mit Strahlungsrisiko ermittelt wurden – mehr als doppelt so häufig wie bei der Kontrollgruppe. Die Akkumulation von Radionukliden in der Plazenta von Frauen, die in den am stärksten kontaminierten Gebieten lebten, korrelierte mit den zahlreichen Indikatoren für eine Plazentaschwäche und der daraus folgenden Verringerung des Geburtsgewichts der Neugeborenen.

Die Auswirkungen konnten wohl kaum auf Russland, Weißrussland und die Ukraine alleine beschränkt bleiben. Überall in Westeuropa und Skandinavien (einschließlich Griechenland, Ungarn, Polen, Schweden, Norwegen, Finnland und Deutschland) ermittelten zahlreiche Untersuchungen eine „In-utero“-Exposition in Bezug auf die Tschernobyl-Strahlung als Faktor, der möglicherweise zu spontanen Aborten, geringem Geburtsgewicht und verringerter Neugeborenenüberlebensrate beitrug.

4.5. Vorzeitige Alterung

Das offensichtliche „biologische“ Alter von Menschen, die in bekanntermaßen strahlenverseuchten Gebieten der Ukraine leben, ist in den Jahren seit dem Unfall unverhältnismäßig gestiegen, wobei das geschätzte „biologische“ Alter dieser Personen heute ihr tatsächliches Alter um 7 bis 9 Jahre übersteigt. In einer Studie über 306 „Liquidatoren“ wurde diese Diskrepanz auf 5 bis 11 Jahre geschätzt. In den am meisten kontaminierten Gebieten Weißrusslands war das mittlere Sterbealter von Herzinfarktopfern um 8 Jahre niedriger als in der Gesamtbevölkerung.

4.6. Sinnesorgane

In kontaminierten Gebieten rund um Tschernobyl wurden Störungen der Augen wie etwa Grauer Star (auch bei Neugeborenen), Störungen der Produktion von Tränenflüssigkeit und sonstige Deformationen häufiger festgestellt als in benachbarten weniger kontaminierten Regionen. Obwohl die größten Risiken bei stärkster Exposition zu existieren scheinen, gibt es keinen bekannten Schwellenwert für eine Strahlendosis, ab der das Risiko, an Grauem Star zu erkranken, abnimmt. In ähnlicher Weise wurde für sonstige Augenprobleme, zu denen es in gewissem Maße natürlicherweise bei allen Bevölkerungsgruppen kommt, z.B. Netzhautdegeneration, eine erhöhte Häufigkeit bei strahlenexponierten Bevölkerungsgruppen berichtet.

5. Neurologische und psychologische Störungen

Zwanzig Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl sind zahlreiche Daten gesammelt worden, die zeigen, dass selbst vergleichsweise geringe Mengen ionisierender Strahlung zu einem gewissen Grad an Schädigung des zentralen und des peripheren Nervensystems führen können. Es ist daher eine schwierige Aufgabe, das volle Ausmaß der neurologischen Schäden zu beurteilen, das sich aus der Freisetzung von Radionukliden durch den Tschernobyl-Unfall ergibt.

Bei den „Liquidatoren“ aus Russland waren neurologische Erkrankungen der zweithäufigste Krankheitskomplex, der festgestellt wurde: Dieser Komplex repräsentierte 18% der gesamten Morbidität. Bei Erwachsenen in strahlenkontaminierten Gebieten Weißrusslands traten neurologische und psychiatrische Störungen ebenfalls wesentlich häufiger auf als normalerweise (31,2% im Vergleich zu 18,0%).

Die Zunahme von Störungen des Nervensystems und psychischer Probleme wurde auch von Kindern aus einigen kontaminierten Gebieten Weißrusslands berichtet, einschließlich geringerem IQ, obwohl deren direkte Beziehung zur Strahlenexposition nicht immer eindeutig ist.

6. Schlussfolgerungen

Natürlich ist der Gesamtkorpus der Belege für die Auswirkungen der durch den Unfall von Tschernobyl freigesetzten Strahlung auf die menschliche Gesundheit äußerst vielfältig und komplex. Viele der Merkmale dieser Katastrophe und ihrer Folgen, wie etwa die Unsicherheit bezüglich der Gesamtmengen der freigesetzten Radionuklide, die ungleiche Verteilung der Radioaktivität, Parallel- und Folgeffekte einer Exposition mit Beteiligung mehrerer Radioisotope sowie die Grenzen der ärztlichen Überwachung, Diagnose, Prognose und Behandlung von Krankheiten, machen dies zu einer einzigartigen Aufgabe, so dass viele Normen und Verfahren, die früher angewandt wurden, hier nicht anwendbar sind. Eine vollständige Evaluierung der Folgen des Unfalls von Tschernobyl für die menschliche Gesundheit bleibt daher wohl eine fast unmögliche Aufgabe, so dass das wahre Ausmaß der Morbidität und Mortalität, die sich daraus ergeben, möglicherweise niemals verstanden werden wird.

Zugleich unterstreicht allein das breite Spektrum der beschriebenen Auswirkungen auf die Gesundheit in Kombination mit der Vielfalt der Verfahren, mit denen sie erfasst und quantifiziert wurden, die Notwendigkeit für eine ordentliche Evaluierung, um alle verfügbaren Daten zu berücksichtigen und die Vielfalt der tödlichen wie der nicht tödlichen Folgen widerzuspiegeln. Jede Beschreibung, die versucht, die Folgen in Form einer einzelnen „leicht verständlichen“ Schätzung der zusätzlichen Krebstoten zu präsentieren (wie z.B. die Zahl „4.000“, die seit dem Jahr 2005 häufig von Gremien wie der IAEA veröffentlicht wird), führt daher unweigerlich zu einer groben Vereinfachung der breiten Dimension des Leidens, das die Menschen am eigenen Leibe erfahren haben. Zudem deuten die im vorliegenden Bericht präsentierten Belege darauf hin, dass diese Zahlen die Größenordnung der Auswirkungen möglicherweise ebenfalls erheblich unterschätzen.

Es bleiben zahlreiche Unsicherheiten. Insbesondere gibt es immer noch sehr wenige Schätzungen bezüglich der auf andere als Krebserkrankungen zurückzuführenden und durch Tschernobyl verursachten Mortalität, während die langen Latenzzeiten für die Entwicklung von Krebserkrankungen (in einigen Fällen mehr als 40 Jahre) unweigerlich bedeuten, dass wahrscheinlich auch in ferner Zukunft noch Neuerkrankungen auftreten werden. Die erheblichen Lücken, die die verfügbaren Daten aufweisen, in Kombination mit den großen Diskrepanzen zwischen verschiedenen Schätzungen der Häufigkeit und zusätzlichen Krebs- und sonstigen Erkrankungen verhindern die Realisierung einer einheitlichen, soliden und verifizierbaren Beurteilung der gesamten Folgen für die menschliche Gesundheit, so dass fundamentale Fragen weiter offen bleiben.

Zwei wichtige Schlussfolgerungen lassen sich dennoch ziehen.

Zum einen ist es unabdingbar, dass ein wesentlich umfassenderer Datenkorpus, einschließlich der in diesem Bericht präsentierten Daten, von der internationalen Gemeinschaft berücksichtigt wird, um zu Schlussfolgerungen hinsichtlich der Größenordnung und des Ausmaßes der Auswirkungen dieser Katastrophe auf die menschliche Gesundheit zu kommen. Insbesondere bedürfen die Gründe für die großen Diskrepanzen zwischen den höchsten Schätzungen und denen, die von der IAEA und der WHO akzeptiert werden, einer dringenden Untersuchung.

Zum zweiten macht sich das Fehlen eines ordnungsgemäß koordinierten und internationalen Ansatzes zur Überwachung der Häufigkeit und der Tendenzen sowohl bei Krebs- als auch anderen Erkrankungen in der gesamten betroffenen Region und mit besonderer Betonung auf den am stärksten kontaminierten Bevölkerungsgruppen in der Ukraine, in Weißrussland und in der Russischen Föderation, der eine große (wenn auch hoffentlich einzigartige) Gelegenheit bietet, umfassende Erfahrungen über die langfristigen Folgen einer solchen Katastrophe zu sammeln, schmerzlich bemerkbar. Zudem scheint es auch irreversibel zu sein, dass Gelegenheiten zur Intervention in früheren Phasen – geeignete Programme für die ärztliche Überwachung, Behandlung und Pflege – ebenfalls verpasst wurden.

Was ein ganzheitliches Verständnis der Implikationen eines nuklearen Großschadens für die menschliche Gesundheit betrifft, so scheinen wir ein wenig weitergekommen zu sein als vor der Explosion in Tschernobyl vor 20 Jahren. Daher ist es auch von entscheidender Bedeutung, die Forschungsanstrengungen auf diesem Gebiet fortzusetzen und sogar noch auszuweiten. Der 20. Jahrestag dieser Katastrophe ist alles andere als ein Anlass, um – verbunden mit eindeutigen Schlussfolgerungen – einen Schlussstrich unter dieses Ereignis zu ziehen. Er sollte vielmehr als Signal gesehen werden, die internationalen Anstrengungen zur Ermittlung und Überwachung langfristiger Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit zu intensivieren und – soweit möglich – das Leiden der Millionen von Betroffenen zu verringern.

Auch wenn der Unfall von Tschernobyl einige Merkmale mit anderen globalen Katastrophenereignissen gemeinsam hat, ist er bisher doch einzigartig. Wir können nur hoffen, dass dies auch so bleibt. Unsere Generation hat gesehen, wie diese Katastrophe begann, doch wird sie wohl kaum ihr Ende erleben. Die internationale Staatengemeinschaft sollte diesen Unfall zum Anlass nehmen, weltweit aus der Atomenergie auszusteigen. Dann würden auch keine Konflikte mehr mit Staaten wie dem Iran und Nordkorea drohen. Wenn niemand Atomkraft haben darf, ist ganz klar, dass auch der Iran und Nordkorea keine Atomkraft haben dürfen.


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