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Fünf Minuten vor zwölf

Die Entdeckung der Nachhaltigkeit - eine Kulturgeschichte

Von Günther Frieß *

Kein Geringerer als Albert Schweitzer stellte vor knapp 60 Jahren fest: »Der Mensch hat die Fähigkeit vorauszublicken und vorzusorgen verloren.

Er wird am Ende die Erde zerstören«. Der Kassandra-Ruf Schweitzers offenbart nicht nur die düstere Prophezeiung des Weltuntergangs, sondern er gemahnt auch zu nachhaltigem Denken und Handeln.

»Die Entdeckung der Nachhaltigkeit« ist das neue Buches von Ulrich Grober überschrieben. Man spürt, das sei vorweg gesagt, der Autor ist buchstäblich infiziert von seinem Thema, und das im besten Sinne. Es ist ihm darum zu tun, »auf dem Weg über die Sprache und die Begriffsgeschichte zur Klärung und Sensibilisierung des Wortes Nachhaltigkeit beizutragen.

Für Grober ist Nachhaltigkeit der Gegenbegriff zu Kollaps. »Er bezeichnet, was standhält, was tragfähig ist, was auf Dauer angelegt ist, was resilient ist, und das heißt: gegen den ökologischen, ökonomischen und sozialen Zusammenbruch gefeit.« Die tiefen Wurzeln und die Tradition der Nachhaltigkeit findet er in der Renaissance und der Frühaufklärung. Der Autor führt den Leser in mittelalterliche Klöster, in die »Zeit der Kathedralen« und in »geometrisch vermessene Wälder«. Zur »Ahnenreihe der Erfinder der Nachhaltigkeit« zählt der Autor neben Leibniz und Spinoza auch Linné, Humboldt, Herder und Goethe. Mitte des 18. Jahrhunderts prägte der sächsische Forstwirt Hans-Carl von Carlowitz das Wort Nachhaltigkeit, er reagierte damit auf die Ressourcenkrise seiner Zeit, den Holzmangel. Die Zeitreise führt dann zurück in die Epoche unserer Kulturgeschichte der Erdpolitik und der »großen Transformation«.

1962 veröffentlichte die amerikanische Biologin Rachel Carson das Buch »Der stumme Frühling«. Dei diesem Werk handelt es sich um eine vernichtende Kritik an dem hemmungslosen Gebrauch von Pflanzenschutzmitteln. Ihre zentrale Botschaft war: In der Natur ist alles mit allem verbunden. Carson schrieb von der Erhaltung der Erde für zukünftige Generationen und nahm damit das Leitmotiv der »Brundtland«-Kommission von 1987 vorweg.

Zehn Jahre nach Carsons Aufschrei erschien der erste Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums. Hier taucht das Wort sustainable - nachhaltig - zum ersten Mal in seiner modernen, erweiterten Bedeutung auf, man war auf der Suche nach einem tragfähigen Weltsystem. »Es ist fünf Minuten vor zwölf«, lautete der unmissverständliche Warnruf. Alle drängenden Probleme der Welt, rapides Bevölkerungswachstum, Erschöpfung der Ressourcen, Umweltverschmutzung und Hunger seien inzwischen unlösbar miteinander verknüpft. Weiter heißt es: Die Zeit ist reif für eine radikale Reform institutioneller und politischer Prozesse auf allen Ebenen, einschließlich der Ebene der Weltpolitik, aber auch der Einzelne müsse seine Ziel- und Wertvorstellungen grundlegend ändern. Die Hauptverantwortung liege dabei bei den industriell entwickelten Nationen, weil sie das Wachstumssyndrom erzeugt haben und noch immer an der Spitze des Fortschritts stehen, auf dem das Wachstum beruht.

Sowohl das Buch der Einzelkämpferin Rachel Carson als auch die Berichte der internationalen Organisation des Club of Rome hatten maßgeblichen Anteil an der Änderung des Bewusstseins einer großen Zahl von Menschen in der westlichen Welt. Sie nahmen jetzt zwar wahr, dass sie selbst verantwortlich sind für die Verpestung der Luft, für die Zerstörung der Ozonschicht, für die Veränderung des Klimas, des Treibhauseffekts und für die Massentierhaltung. Doch trotz einer weltweit gewachsenen Einsicht in die globale Problematik ging es unverdrossen weiter in Richtung Katastrophe.

Im Mittelteil des spannend geschriebenen und zugleich detailliert recherchierten Bands lässt der Autor die seit den 1970er-Jahren regelmäßig abgehaltenen Klima- und Erdgipfel Revue passieren. Von Stockholm (1972) über Nairobi (1975), Rio (1992) bis Kopenhagen (2009). Die Konferenzen kamen jedoch über Appelle (Think globally, act locally), griffige Parolen (Only one earth) und originelle Wortschöpfungen (Low-Carbon-Society) selten hinaus. »Kopenhagen« ist das unrühmliche Beispiel dafür, wie sehr die Umwelt-Gipfel der letzten Jahre zu einem Dauerkongreß von Dauerdisputanten entartet sind.

Grobers Bilanz ist ernüchternd: »Nach vier Jahrzehnten Erdpolitik steuert der Planet immer noch auf den Kollaps zu, den der Club of Rome für die Mitte des 21. Jahrhunderts vorhersagte.« Im Schlusskapitel stellt er die Frage: »Und jetzt?« Überzeugend legt der Autor hier sein Konzept einer »neuen Kultur der Nachhaltigkeit« dar. Er bezieht sich dabei auf den »Brandt-Report« von 1977 und die Analysen des »Wuppertal-Instituts«. Um die Idee eines neuen zivilisatorischen Entwurfs zu einem allgemein akzeptierten Leitbild des zukunftsorientierten Denkens und Handelns zu machen, müssen alle Dimensionen dieser Idee nach und nach entfaltet werden. So die These. Nachhaltigkeit wird dann zur Chiffre für (Selbst)Begrenzung, Lebensqualität, gerechte Entwicklung, Einfachheit und nicht zuletzt für »Langsamer- besser- schöner«.

Grobers Vision ist ein »zweites solares Zeitalter«, das ein Leben auf einem höheren zivilisatorischen Niveau erlaubt. Dank neuer Technologien wird es möglich sein, die Energie der Sonne viel besser und flexibler zu nutzen. Gleichwohl sei es notwendig, die unbestritten wichtigen technischen Lösungen der »Effizienzrevolution« eng mit der »Strategie der Suffizienz« zu verflechten.

Kritisch zu beurteilen ist allerdings die Einschätzung des Autors, Nachhaltigkeit würde weltweit (sic!) immer mehr in die Alltagskultur eindringen. Das zeige die stetig wachsende Zahl der »LOHAS«, die einem »lifestyle of health and sustainability« folgen. Eine solche Lebensweise, so wünschenswert sie auch ist, kann sich freilich (noch) nicht jeder leisten, erst recht nicht die Menschen auf der Südhalbkugel.

Die Entdeckung der Nachhaltigkeit geht also weiter. Fazit: Ein Buch, das beim Leser einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt.

Ulrich Grober. Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs. Antje Kunstmann-Verlag. 360 S., geb., 22 €.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Juli 2010


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