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Der Kaiser ist nackt

NABU präsentiert internationale Studie zu gentechnisch veränderten Nutzpflanzen. Grüne fordern schärfere Kennzeichnungspflicht

Von Rainer Balcerowiak *

In bezug auf den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen (GVO) ist Deutschland fast noch so etwas wie eine Insel der Glückseligen. Trotz massiver Einflußnahme von mächtigen Lobbyverbänden gibt es bislang nur wenige Zulassungen für die kommerzielle Nutzung und entsprechend verschwindend geringe Anteile am Gesamtanbau. In anderen Ländern sieht das anders aus. Weltweit wurden 2008 in insgesamt 25 Staaten auf 125 Millionen Hektar GVO-Planzen angebaut, was acht Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche entspricht.

Die Umweltaktivistin und Trägerin des alternativen Nobelpreises Vandana Shiva stellte am Mittwoch in Berlin auf Einladung des Naturschutzbund Deutschland (NABU) eine Studie mit dem Titel »The GMO emperor has no clothes. (Der GVO-Kaiser hat keine Kleider)« vor, der sich mit den Lügen der Gentech-Lobby und den verhängnisvollen Folgen der Ausbreitung von GVO-Pflanzen beschäftigt. Hauptargument der Gentech-Befürworter ist die angebliche Steigerung der Erträge bei gleichzeitiger Verminderung des Pestizideinsatzes. Beides ist längst widerlegt. Im Gegenteil. Besonders bei Baumwolle, wo der weltweite GVO-Anteil mittlerweile 62 Prozent beträgt, sind in großen Anbauländern wie Indien und China die Erträge sogar zurückgegangen, der Chemieeinsatz dagegen ist gestiegen. In den USA und anderen Ländern entstanden neue »Superunkräuter«, die auch gegen die Standard-Herbizide wie Roundup resistent sind. Monsanto hat mittlerweile ein Herbizid auf den Markt gebracht, was auf dem aus dem Vietnamkrieg bekannten Entlaubungsgift Agent Orange basiert. Auch sind vollkommen neue tierische Schädlinge aufgetaucht, was besonders den Anbau von GVO-Mais beeinträchtigt.

Der Saatgutmarkt ist hochmonopolisiert. Vier Konzerne teilen sich über 50 Prozent des Weltmarktes auf und treiben durch immer neue Patente Millionen Kleinbauern in die Abhängigkeit und nicht selten in den Ruin. Offiziellen Angaben zufolge haben seit 1997 mehr als 160000 Bauern in Indien Selbstmord begangen, weil sie keine Existenzgrundlage mehr hatten. Der Vormarsch der Gentechnik auf den Feldern führt zudem dazu, daß in vielen Regionen durch Auskreuzungen und unkontrollierte Saatgutausbringung faktisch keine GVO-freie Landwirtschaft mehr möglich ist. Shiva beschrieb das am Beispiel Mexikos. Offiziell gibt es dort überhaupt keinen Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen. Stichproben hätten jedoch ergeben, daß besonders Mais, das Hauptnahrungsmittel in dem mittel­amerikanischen Land so gut wie immer verunreinigt ist.

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Renate Künast, sieht die Studie auch als Auftrag, in Deutschland und Europa »sehr, sehr dicke Bretter zu bohren«. Europa könne auf die verheerenden internationalen Entwicklungen in der Landwirtschaft nur Einfluß nehmen, wenn es sich selbst konsequent als gentechnikfreie Region positioniere. Künast verwies auf besorgniserregende Entwicklungen in Rumänien und Bulgarien, wo GVO-Saatgut quasi ungebremst auf dem Vormarsch ist. Sie plädierte für eine Ausweitung der GVO-Kennzeichnungspflicht auf tierische Produkte, für deren Erzeugung gentechnisch veränderte Futtermittel verwendet wurde. Angesichts der weit verbreiteten Ablehnung von Gentechnik auf dem Teller könnten die Verbraucher auf diese Weise »mit Messer und Gabel Politik machen«. Auch Baumwolle müsse künftig gekennzeichnet werden.

Ein eher kleines Brett bohren die Grünen derzeit im Bundestag. Der berät am kommenden Donnerstag über einen Antrag der Fraktion, laut dem Glyphosat, der weltweit meistgenutzte Herbizidwirkstoff, neu bewertet werden soll. Denn die EU hat die Zulassung für Glyphosat, die Anfang 2012 ausläuft, ohne erneute Prüfung bis 2015 verlängert. Und das, obwohl immer mehr Studien belegen, daß der Stoff sowohl krebsfördernd und fruchtbarkeitsschädigend für Menschen ist, als auch Schadpilzentwicklung bei Kulturpflanzen fördert. Dafür verantwortlich gemacht werden Zusatzstoffe, die sogenannten POE-Tallowamine, welche die Toxizität des eigentlichen Wirkstoffs beträchtlich erhöhen.

* Aus: junge Welt, 8. Dezember 2011


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