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Tsunami 2004 - Die Katastrophe war schon vorher da

Ein Bericht von Thomas Seibert, medico international

Von Thomas Seibert, medico international

Thomas Seibert, medico international, soeben aus Sri Lanka zurückgekehrt, schilderte auf der Konferenz kurz seine Eindrücke, die wir im Folgenden dokumentieren.

Sind Sie nur wegen des Tsunami hier, fragte der Bewohner eines erheblich zerstörten srilankischen Küstendorfs in der Region Moratuwa die medico-Mitarbeiter bei ihrer Reise durch Sri Lanka und Indien Anfang Februar. Dann deutete er auf die Bahnlinie, die hinter dem Dorf entlang läuft und die man passieren muss, wenn man die Gemeinde verlässt. Kein Zaun, kein beschrankter Bahnübergang - nichts verhindert die Unfallgefahr. „Hier sind in den letzen Jahren mehr unserer Kinder ums Leben gekommen als bei der Tsunami-Katastrophe“, so der Fischer.

Gerade die armen und an den Rand gedrängten Gemeinden in den Küstenstreifen Südasiens sind nicht nur von der „Jahrhundert- Katastrophe“ des Tsunami am härtesten betroffen. Hier leben die Menschen, für die die politischen und ökonomischen Eliten und die staatlichen Verwaltungen auch sonst nichts weiter als Ignoranz übrig haben. Die Insignien der Modernität, Schnellzüge und mehrspurige Autobahnen, werden ohne Rücksicht auf das Leben und die Sicherheit der Menschen an ihrem Rand errichtet. Das ungeschützte Dorf an der Bahnlinie ist nur ein Beispiel von vielen. Staatliche Ignoranz oder Gewalt und die fortgesetzte ökonomische Ausgrenzung sind Katastrophen, die bereits vor dem Tsunami in den betroffenen Regionen Asiens da waren.

Sie zu beheben erfordert nicht nur konkrete Projektunterstützung sondern auch gemeinsame politische Intervention. medico international arbeitet deshalb mit Partnern aus dem Süden, die sich den Ursachen von Armut und Ausgrenzung stellen. Zum Beispiel im People´s Health Movement (PHM) - einem globalen Netzwerk, das sich „Gesundheit für alle“ zum Ziel gesetzt hat. Gerade in Südasien verfügt das PHM über ein breites Netz aus einer Vielzahl von Organisationen, die von einem ganzheitlichen Gesundheitsverständnis ausgehen und die Verbesserung der Lebensverhältnisse für die Ausgegrenzten erreichen wollen.



"So wie wir alle gemeinsam ins neue Jahr gestartet sind, um auf die asiatische Tsunami-Katastrophe zu reagieren, lasst uns auch weiterhin eine starke Gemeinschaft gegen die ständigen Tsunamis der Kriege und Besatzung bilden, gegen die ökonomische Globalisierung, gegen die ungerechte Weltwirtschaftsordnung und eine Entwicklung, die für Zukunftsvernichtung steht, nicht aber für Nachhaltigkeit"
(People’s Health Movement, Indien)

People's Health Movement PHM

Im Dezember 2000 gründeten 1.600 Menschen aus 93 Ländern in Bangladesch das People's Health Movement (PHM). Die Bewegung kämpft gegen Krankheiten – und gegen krankmachende Verhältnisse. Sie beruft sich auf die »Erklärung von Alma Ata«, in der die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1978 die Basisgesundheitspflege (Primary Health Care, PHC) weltweit zum Kern von Gesundheitspolitik machen wollte, mit dem ehrgeizigen Ziel »Gesundheit für Alle bis zum Jahr 2000«, verbindlich unterschrieben von allen Mitgliedsstaaten, doch bis heute nicht realisiert.

Basisgesundheitsarbeit vor Ort und in den Hinterzimmern der WHO

medico hat im People's Health Movement viele langjährige Partner wiedergetroffen. In Mittelamerika gehört das von Maria Zuniga gegründete Netzwerk der Basisgesundheitsinitiativen dazu, in Südafrika David Sanders, der in Zimbabwe beim Aufbau nationaler Gesundheitsdienste half, in Indien Thelma Narayan, die sich für die Opfer der Bophal-Katastrophe einsetzt. In Palästina Mustafa Barghouti und die Palestinian Medical Relief Society mit ihren Tausenden von Gesundheitsarbeiterinnen und -arbeitern. Der Bogen gemeinsamer Aktivitäten reicht von den Projekten vor Ort über Demonstrationen bis zur Lobbyarbeit: gegen die neoliberale Zerrüttung der Gesundheitssysteme, die Ausgrenzung von Minderheiten und Flüchtlingen, gegen Arzneimittel-Patente, Schutzzölle und Weltmarktpreise. Dabei geht es immer auch um die Verteidigung dessen, was schon erreicht wurde. Die Erklärung von Alma Ata beispielsweise.

Aus: Homepage von medico international: www.medico.de




Nach dem Tsunami haben sie sich in einem beispiellosen Einsatz tausender Freiwilliger an der Versorgung von Verletzten und Überlebenden beteiligt. medico international hat dabei seine Partnerorganisationen in Indien und Sri Lanka unterstützt. Die zerstörten Dörfer wiederaufzubauen, verlorengegangene Möglichkeiten des Lebens und Überlebens wiederherzustellen, neue und andere zu schaffen muss nun das Ziel sein. Das ist auch eine politische Auseinandersetzung.

„Wir stehen“, so Dr. Prem John vom People´s Health Movement, „vor der entscheidenden Frage, ob die Wiederaufbauprogramme dazu dienen, die Menschen zu unterstützen oder sie zu unterdrücken." Der Kampf um die Küste und ums Land ist in vielen Regionen bereits voll im Gange. Im Zuge der Tsunami-Bewältigung hofft manche Regierung einen neoliberalen Modernisierungsschub von oben durchsetzen zu können. Umsiedlungsprojekte, die dem Bau einer Autobahn dienen, werden in Sri Lanka nun als Hilfsprogramme und die Ansiedlung der Tourismusindustrie an der Ostküste Indiens als Schutzprojekt für die betroffenen Fischergemeinden ausgegeben. Ausgenutzt wird dabei, dass viele Menschen noch unter dem Schock der Tsunami-Erfahrung stehen und oft gar nicht in der Lage sind, über ihre Zukunft zu entscheiden. Schnell hochgezogene Wiederansiedlungsprojekte, die den SpenderInnen die Effektivität der Hilfe beweisen sollen, erweisen in einem solchen Kontext den Betroffenen häufig einen Bärendienst. Partnerschaftliche Hilfe und Solidarität muss ausgehen von den Bedürfnissen der Betroffenen und nicht von dem Wunsch der Helfer, möglichst schnell und sichtbar die eigenen Kompetenz zu beweisen.

Die medico-Unterstützung für die Partnerorganisationen in Indien und Sri Lanka unterliegt aus diesem Grund einem ständigen Veränderungsprozess, und sie ist beständig selbst auf Unterstützung angewiesen - materiell und politisch. In den Tagen nach der Katastrophe war in allen Medien von „globaler Verantwortung“ zu lesen und zu hören. Wir wissen, was im Zug neoliberaler Globalisierung darunter verstanden werden soll. An uns liegt es, dem Wort eine andere, unsere Bedeutung zu geben.

medico international, Burgstraße 106, 60389 Frankfurt
Internet: www.medico.de

Spendenkonto: Kt. Nr. 1800, bei Frankfurter Sparkasse, BLZ 500 502 01


Aus: Europas Zukunft im Licht der Verfassung. Tagung der Initiative für einen Politikwechsel am 26. Februar 2005 im Gewerkschaftshaus Frankfurt am Main - Reader, S. 17-18


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