Globale Friedenskämpfer? Globale Versager?
Zwischen Erfolg und Desaster - Die EU-Mission im Kongo sollte Anlass sein, über das Peacekeeping der Vereinten Nationen nachzudenken
Von Wolfgang Kötter*
Der Militäreinsatz der EU im Kongo ist umstritten. Könnte es nicht statt der behaupteten humanitären Verpflichtung vielmehr um geostrategische Interessen gehen, fragen die Kritiker. Wollen die Europäer jenseits der NATO militärische Handlungsfähigkeit demonstrieren?
Der UN-Sicherheitsrat hatte in seiner Resolution 1653 Anfang 2006 nachdrücklich um Hilfe für den zentralafrikanischen Staat gebeten. Anfänglich zögerte die EU, entschied sich dann aber, die für Juni im Kongo anberaumten Wahlen durch eine Militärmission unter der politischen Führung ihres Außenbeauftragten Javier Solana abzusichern. Nur sollen die 1.500 Soldaten nicht das gesamte von Warlord-Kriegen gezeichnete Land befrieden, das so groß ist wie ganz Westeuropa - dieser schwierige Auftrag bleibt weiterhin den 17.175 Blauhelmsoldaten der MONUC (Mission des Nations Unies en République Démocratique du Congo) vorbehalten.
Das nach seiner blauen Kopfbedeckung benannte Friedenskorps der Vereinten Nationen erreicht derzeit mit 15 parallel laufenden Einsätzen einen historischen Spitzenwert. 1988 wurde gar mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt, was Blauhelme bis dahin im Dienst der internationalen Sicherheit geleistet hatten, auch wenn das Peacekeeping (Friedenserhaltung) im Namen der Weltorganisation damals bereits auf eine äußerst wechselvolle Geschichte zurück blickte.
In der Pufferzone
Die offizielle Geburtsstunde der Blauhelmeinsätze schlug während der Suez-Krise 1956, als der Sicherheitsrat den damaligen UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld aus Schweden beauftragte, friedenserhaltende Maßnahmen auf der Halbinsel Sinai zwischen den Konfliktparteien Israel und Ägypten zu ergreifen. Aber wie kam es zu derartigen Aktionen, die lange ein Markenzeichen der Vereinten Nationen blieben, obwohl man nach einer Rechtsgrundlage in deren Charta vergeblich sucht?
Bereits unmittelbar nachdem die UNO im Sommer 1945 gegründet worden war, drohte der ausbrechende Ost-West-Gegensatz, die Weltorganisation zu lähmen - die ursprüngliche Annahme, die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges würden die internationalen Beziehungen kooperativ gestalten, erwies sich schnell als illusorisch. Gerade die über das Vetorecht verfügenden fünf ständigen Ratsmitglieder - USA, Sowjetunion, Frankreich, Großbritannien und China - wussten immer dann eine Entscheidung zu verhindern, wenn ihnen selbst oder einem ihrer Partner Nachteile winkten. Bis zum Ende des Kalten Krieges blockierte die diplomatische Notbremse den Sicherheitsrat in 235 Fällen.
Um der UNO unter diesen Umständen wenigstens eine periphere Friedensrolle zu lassen, waren die Blauhelm-Operationen willkommen, sofern für einen Einsatz die nötigen Vorbedingungen erfüllt waren. Dazu gehörte als conditio sine qua non, dass die Konfliktparteien jedwede militärische Konfrontation beendet haben und ausnahmslos einem Eingreifen der UNO zustimmen mussten. Dieses Einverständnis bezog sich nicht allein auf das Blauhelm-Mandat, sondern ebenso auf die Entsendestaaten einer Mission bis hin zum militärischen Oberbefehlshaber. Weil Blauhelme eine Waffenruhe nicht gewaltsam durchsetzen durften, erhielten sie nur leichte Waffen zur Selbstverteidigung.
Bei einem klassischen Einsatz bezogen die UN-Soldaten also eine Pufferzone zwischen den Kontrahenten und wachten darüber, dass keine erneuten Kämpfe ausbrachen, solange die Diplomatie nach der Lösung eines Konflikts suchte. Bei einigen Operationen - etwa der UNEF zwischen Israel und Ägypten (1956 bis 1979) - dauerte dieses Warten Jahrzehnte oder hält - wie bei UNICYP auf Zypern und UNMOGIP in Kaschmir - bis heute an.
Operation "Irene"
Die Lage änderte sich mit dem Ende des Kalten Krieges dramatisch. Lag die Zahl der Einsätze bis 1988/89 bei insgesamt 13, wuchs sie danach sprunghaft. Die Missionen wurden umfangreicher, langwieriger, vor allem gefährlicher - Blauhelm-Formationen mussten Kampfverbände entwaffnen und auflösen, Grenzen sichern, Waffenschmuggel unterbinden, die Rückkehr von Flüchtlingen überwachen - zuweilen gar einen paralysierten Verwaltungs- und Justizapparat reanimieren oder (wie im Kosovo) ein temporäres UN-Protektorat errichten.
Freilich finden sich UN-Friedenstruppen für Aufträge dieses Zuschnitts bis heute weder konzeptionell vorbereitet noch trainiert, ausgerüstet oder finanziert. Fehlschläge sind programmiert, angereichert durch die Selbstgefälligkeiten von Regierungen und Medien, die Blauhelme mit Vorliebe als "unfähig" oder "inkompetent" diskreditieren und gern übersehen, dass niemand anderes als die Staaten selbst - allen voran die ständigen Sicherheitsratsmitglieder - ein mögliches Versagen zu verantworten haben. Sie sind es, die der Weltorganisation Missionen aufbürden, die ihnen selbst als zu gefährlich, zu teuer oder einfach nicht von Interesse erscheinen. Sie sind es, die den Sicherheitsrat oft erst verspätet einschalten und für Blauhelmsoldaten unzureichende Mandate erteilen, weil es das Veto eines ständigen Sicherheitsratsmitglieds zu umschiffen gilt.
Zu einem ersten schweren Desaster nach dem Kalten Krieg wurde der UN-Einsatz in Somalia Anfang der neunziger Jahre. Der damalige Generalsekretär, Boutros Boutros-Ghali aus Ägypten, setzte sich vehement für einen Hilfseinsatz in dem von Elend und Chaos heimgesuchten Land am Horn von Afrika ein. Einen untätigen Sicherheitsrat geißelte er mit in der Diplomatie selten massiven Vorwürfen: "Die Ignoranz des Nordens ist praktizierender Rassismus!" In Somalia würden zehnmal mehr Menschen sterben als auf dem Balkan. Die Lage verschärfte sich, als nach Überfällen auf Lebensmitteltransporte zwei Millionen Menschen zu verhungern drohten. Die daraufhin entsandten UNOSOM-Soldaten waren weder von ihrer Zahl noch ihrer Bewaffnung her fähig, den aus dem Ausland kommenden Hilfstransfer ausreichend zu schützen.
Da änderte US-Präsident George Bush senior nicht zuletzt in der Hoffnung auf innenpolitische Effekte im Wahlkampf von 1992 seine bis dahin geübte Distanz und bot an, die UN-Maßnahmen militärisch abzusichern. Bedingung für die Operation Restore Hope war allerdings, dass ihr Kommando ausschließlich in amerikanischer Hand blieb. Das führte dazu, dass die Hilfs- und Militäroperationen weitgehend unkoordiniert verliefen. Die US-Truppen unter Führung des pensionierten Admirals Jonathan Howe setzten auf Gewalt statt auf Dialog und machten ungeachtet der Opfer unter der Bevölkerung vor allem Jagd auf den Clanführer Mohammed Farah Aidid. Am 3. Oktober 1993 kam es - fast vorhersehbar - zum Desaster. Eine Gruppe von US-Rangern der Sondereinheit Delta Force startete die Operation Irene zur Ergreifung von Aidid, doch das Unternehmen schlug fehl. 19 amerikanische Soldaten wurden bei einem Straßenkampf getötet und ihre nackten Leiber vor den Fernsehkameras durch den Straßenstaub von Mogadischu geschleift. Angesichts des innenpolitischen Aufschreis entschied der inzwischen regierende Präsident Clinton, die eigenen Truppen eilends abzuziehen. Damit war das Schicksal der UNOSOM-Mission besiegelt, besser gesagt als gescheitert beendet. Die Menschen in einem unregierbaren, von Gewalt und Hunger geplagten Land Ostafrikas blieben wieder sich selbst überlassen.
Killing field Ruanda
Lange ignorierte der Sicherheitsrat auch die sich anbahnende Katastrophe in Ruanda. Bereits seit Anfang der neunziger Jahre hatte die von der Volksgruppe der Hutu dominierte Regierung einen Krieg gegen die Tutsi-Guerilla des Front Patriotique (FPR) begonnen, und das ständige Mitglied des Sicherheitsrats Frankreich spielte dabei alles andere als eine rühmenswerte Rolle. 600 französische Soldaten waren bis 1993 in Ruanda stationiert und beteiligten sich zum Teil aktiv an den Kämpfen. Erst als das zentralafrikanische Land im Frühjahr 1994 bereits im Blut und in der Asche eines Völkermords versank, reagierte die internationale Staatengemeinschaft, jedoch völlig unzureichend. Dem Ersuchen des Sicherheitsrates an 19 Länder, 5.500 weitere Blauhelme zu entsenden und damit die UNAMIR-Truppen zu verstärken, entsprach zunächst keine einzige Regierung.
Innerhalb kurzer Zeit wurden so über 800.000 Angehörige der Tutsi-Ethnie regelrecht abgeschlachtet. Dabei hatte der UN-Kommandeur vor Ort, Romeo Dallaire, rechtzeitig gewarnt. Nachdem er von den Mordplänen der Hutu-Milizen und von Teilen der ruandischen Armee erfahren hatte, forderte er vom Hauptquartier in New York die Erlaubnis zum vorbeugenden Handeln. Sein Vorgesetzter Kofi Annan sah indes angesichts des vom Sicherheitsrat erteilten begrenzten Mandats keine Möglichkeit für ein offensives Vorgehen. Noch vier Jahre später schlugen dem nunmehr zum Generalsekretär Aufgestiegenen bei seinem Besuch in Kigali Anklage, Protest und Empörung entgegen. "Persönlich werde ich für immer von unserem Versagen verfolgt sein, den Völkermord in Ruanda nicht aufgehalten zu haben", bekannte er reuevoll.
Zu einem Symbol für Ohnmacht und Hilflosigkeit wurde im Sommer 1995 auch das Peacekeeping der UNO in Bosnien-Herzegowina: Holländische Blauhelmsoldaten waren an die Tore eines Militärdepots in Pale gekettet, während bosnisch-serbische Freischärler zuvor beschlagnahmte schwere Waffen wieder abtransportierten. Mit kaum einem anderen Ereignis verbindet sich das Versagen der UNO so deutlich wie mit dem Massaker von Srebrenica, als am 17. Juli 1995 serbische Truppen die UNPROFOR-Einheiten in dieser UN-Schutzzone überrannten.
Mit einer Papierflut von 86 wirkungslosen Resolutionen hatten die Mitglieder des Sicherheitsrats viel zu lange gehofft, den schwelenden Balkankonflikt löschen zu können. Als man sich endlich dazu durchgerungen hatte, Blauhelme zu entsenden, waren die 7.500 Mann nur ein Fünftel der vom UN-Generalsekretär geforderten Truppenstärke.
Robustes Mandat
Das bisherige Blauhelmkonzept hat sich offenkundig als unzulänglich erwiesen und muss reformiert werden. "Wir versuchten, den Frieden zu bewahren und die Regeln der Friedenserhaltung anzuwenden, wo es keinen Frieden zu bewahren gab", räumte Kofi Annan rückblickend ein und berief eine zehnköpfige Expertenkommission unter Leitung des ehemaligen algerischen UN-Botschafters Lakhdar Brahimi, der sich schon in manch schwieriger Lage als erfolgreicher Troubleshooter bewährt hatte. Dessen vorgelegter Report ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig und unterbreitete 57 konkrete Reformvorschläge und konstatierte: Vergangene Einsätze seien fehlgeschlagen, weil Blauhelme nicht in Nachkriegssituationen geschickt wurden, sondern diese erst schaffen mussten. Dafür aber waren sie weder hinreichend mandatiert, noch hinreichend bewaffnet. Vorgeschlagen wurde deshalb ein so genanntes "robustes" Peacekeeping, das die vereinbarten Ziele notfalls auch mit militärischer Gewalt durchsetzt. Für einen Übergang vom Krieg zum Frieden sei zugleich ein Peacebuilding - eine Friedenskonsolidierung - unverzichtbar, um an die Wurzeln künftiger Konflikte zu kommen.
Zwar begrüßten die UN-Mitgliedstaaten den Brahimi-Report, folgten aber den Empfehlungen nur zögerlich. Zu den immerhin erreichten Fortschritten gehört, dass Abkommen zur Bereitstellung von Truppen mit 83 Staaten abgeschlossen werden konnten. Um den Anforderungen multidimensionaler Einsätze besser gerecht zu werden, ergänzt künftig eine UN-Polizeiabteilung bisherige Militäreinheiten. Zudem wächst das Peacekeeping-Budget auf rund fünf Milliarden Dollar. Als eines der wenigen handfesten Ergebnisse des UN-Gipfels vom September 2005 wurde eine "Friedenskonsolidierungskommission" beschlossen, die demnächst ausnahmslos alle Peacekeeping-Missionen koordiniert.
Peacekeeping 1948-2006
Gesamtzahl der Blauhelm-Missionen | 60 |
Zur Zeit laufende Einsätze | 15 |
Teilnehmende Staaten seit 1948 | 107 |
Gesamtpersonal seit 1948 | 89.682 |
Budget (2005-2006) | 5,1 Mrd. Dollar |
Bei den Einsätzen getötete Blauhelm-Soldaten | 2.242 |
* Aus: Freitag 15, 14. April 2006
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