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Die Vereinten Nationen am Scheideweg

Irak, Westsahara, Haiti und die "Militarisierung" der UNO - Das Jahr 2000 war kein gutes Jahr

Es gibt viele gute Gründe, das Gewaltmonopol der UNO zu verteidigen und auf die universelle Einhaltung der Völker- und Menschenrechtsprinzipien der Staatengemeinschaft zu dringen. Es gibt aber auch Gründe, der "Weisheit" der Vereinten Nationen, insbesondere ihres Sicherheitsrats, zu misstrauen und bei ihren Entscheidungen jeweils zu fragen, ob sie selbst im Einklang mit ihrer eigenen Charta und den allgemeinen Regeln des Völkerrechts stehen. Ein paar Beispiele aus dem abgelaufenen Jahr 2000 sollen das verdeutlichen.

Das Embargo gegen den Irak, am 2. August 1990 vom UN-Sicherheitsrat wegen des Überfalls auf Kuwait beschlossen, ist trotz seiner katastrophalen Folgen für die Zivilbevölkerung bis zum heutigen Tag nicht aufgehoben worden. Mehr als 1,4 Millionen Menschen ließen nach irakischen Angaben als Blockadeopfer in den letzten zehn Jahren ihr Leben, darunter mehr als 500.000 Kinder unter fünf Jahren. Eine Zahl, die auch vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) be-stätigt wird. Noch wesentlich mehr Kinder bleiben auf Dauer körperlich in ihrer Entwicklung zurück oder behalten chronische Schäden. Das Embargo gegen den Irak ist "keine Außenpolitik - es ist sanktionierter Massenmord", schrieben die US-Wissenschaftler Noam Chomsky und Edward Said. 250 Menschen sterben täglich im Irak laut UNICEF weiterhin an den Folgen der Blockade. Die Kindersterblichkeitsrate hat sich seit 1990 versechsfacht. Ein Drittel der irakischen Kinder leidet an Unterernährung und Untergewicht. Laut UNICEF konnten im Schuljahr 1997/98 eine Million irakische Kinder aus wirtschaftlichen Gründen gar nicht zur Schule gehen. Eine "verlorene Generation" nennt der ehemalige Leiter des UN-Hilfsprogramms für Irak, Hans von Sponeck, die Kinder im Irak. "Wir werden ihnen niemals zurückgeben können, was sie in diesen Jahren verloren haben." Der deutsche Diplomat legte im Februar aus Protest gegen die unnachgiebige Blocka-depolitik sein Amt nieder.

Das zweite Beispiel für eine verhängnisvolle Politik, die im Namen der Vereinten Nationen betrieben wird, ist in der Öffentlichkeit viel weniger bekannt, betrifft aber auch das Schicksal eines ganzen Volkes. Die Rede ist von der Demokratischen Arabischen Republik Sahara. Diese frühere spanische Kolonie, seit 1975 von Mauretanien und Marokko, seit 1978 nur noch von Marokko besetzt, kämpft seit Jahrzehnten um ihre Unabhängigkeit, die ihr von Marokko aber verwehrt wird. In zahlreichen Resolutionen haben die UN-Generalversammlung und der UN-Sicherheitsrat dem saharaouischen Volk das "unveräußerliche Recht auf Selbstbestimmung" garantiert und ein "freies Referendum unter der Aufsicht der Vereinten Nationen" in Aussicht gestellt. Seit 25 Jahren verhindert Marokko mit allen möglichen Tricks die Durchführung einer solchen Volksabstimmung in Westsahara. Was tut der Sicherheitsrat? Verhängt er ein Embargo gegen Marokko? Droht er irgendwelche andere Sanktionen an? Nichts von alledem. Im Juli 2000 begrenzte er sein Mandat MINURSO bis zum 31. Oktober (dieses Mandat ist inzwischen um ein halbes Jahr verlängert worden) und erwartet, "dass die beiden Parteien" - also die POLISARIO als Vertreter des saharaouischen Volks und die Besatzungsmacht Marokko - versuchen, "sich über eine beiderseitig akzeptierte Lösung ihrer Streitigkeiten über West-Sahara zu verständigen."

Werner Ruf (Professor für Internati-onale Politik an der Universität Gesamthochschule Kassel) kommentierte diese Entscheidung auf einer UNO-Konferenz in New York im Oktober mit folgenden Worten: "Diese Flucht aus der Verantwortung der Vereinten Nationen ist nicht nur ein Schlag gegen die Prinzipien des Völkerrechts, es ist ein gefährlicher Schlag gegen die Vereinten Nationen selbst. Denn damit treten sie eine Frage höchster Wichtigkeit, die den internationalen Frieden und die Sicherheit bedroht, an dritte Parteien ab. Ist dies ein Präzedenzfall dafür, dass solche Angelegenheiten künftig gewissermaßen privatisiert, d.h. an die streitenden Parteien selbst übergeben werden? Die Vereinten Nationen und ihr Sicherheitsrat untergraben damit die Charta und die Standards des Völkerrechts und schaffen einen gefährlichen Präzedenzfall für die Rolle der VN in zukünftigen Konfliktlösungsaufgaben." Außerdem stelle sich die Frage, welche politischen Folgen es haben wird, wenn sich die Vereinten Nationen aus ihrer Verantwortung zurückziehen. Ruf: "Was passiert mit den 150.000 Flüchtlingen in den Lagern bei Tindouf? Wer kann wissen, ob sie sich der marokkanischen Verwaltung übergeben? ... Höchst wahrscheinlich werden sie ... nach Mauretanien auswandern, in eins der ärmsten Länder der Welt. Wird das die nächste Gefährdung des internationalen Friedens und der Sicherheit sein - hervorgerufen durch Entscheidungen der Sicherheitsrats? Es fällt schwer sich vorzustellen, dass die Vereinten Nationen selbst zur Wiederherstellung der Anarchie in den internationalen Beziehungen beitragen."

Es gibt weitere Beispiele für die Grenzen und die Fehler der Vereinten Nationen, insbesondere was deren Mandatierung zu bewaffneten Einsätzen betrifft. Der Fehlschlag in Somalia ist in ebenso guter Erinnerung wie die in vieler Hinsicht problematische Situation im ethnisch dreigeteilten Bosnien, sodass hier nicht weiter darauf eingegangen werden muss. (Über das bescheidene Ergebnis der Kosovo-Mission siehe den Abschnitt über Jugoslawien.) Weit weniger Diskussion hat es seinerzeit über die UN-Mission in Haiti gegeben. 1994 sorgten die USA mit einer UN-mandatierten Militäraktion (ausnahmsweise haben die USA ein UN-Mandat abgewartet!) für die Vertreibung einer Militärjunta, die zuvor den gewählten Präsiden-ten Aristide gestürzt hatte. Die Demokratie - oder das was man darunter verstand - war wieder hergestellt. Sechs Jahre später sind "Unfähigkeit", "Korruption", "Willkürherrschaft" und "Rauschgifthandel" die meist gehörten Begriffe, wenn über das Aristide-Regime gesprochen wird. Kofi Annan hat sich im November dafür ausgesprochen, die 70 in Haiti tätigen UN-Berater abzuziehen, weil deren Möglichkeiten durch Kriminalität und Gewalt behindert würden. Im Dezember ließ sich der frühere Armenpriester Aristide in einer Scheinwahl zum Präsidenten küren. Eine 70-prozentige Wahlbeteiligung gab das Regime bekannt, die Opposition, die die Wahl boykottierte, sprach von höchstens 10 Prozent.

Auch dieses Beispiel macht deutlich, dass der Weg zur "Zivilgesellschaft", zur weltweiten Durchsetzung anerkannter Menschenrechte und zu einer Zivilisierung der internationalen Beziehungen kaum über Militäreinsätze und Waffengewalt gehen kann, auch nicht, wenn sie im Auftrag oder im Namen des UN-Sicherheitsrats durchgeführt werden. Die Vereinten Nationen stehen an einer Wegscheide: Sie müssen sich entscheiden, ob sie den Weg der Militarisierung, den ihnen die großen Staaten dieser Erde vormachen, mitgehen und dabei natürlich Gefahr laufen, selbst zum verlängerten Arm der großen Mächte zu werden, oder ob sie sich auf ihre zivilen Aufgaben, auf kulturelle, soziale, erzieherische und entwicklungspolitische Aufgaben konzentrieren, Aufgaben, worin die Vereinten Nationen in ihrer 55-jährigen Geschichte ihre eigentlichen Stärken bewiesen haben.

Insofern ist die im vergangenen Jahr mit der Vorlage des so genannten Brahimi-Reports entfachte Diskussion um eine Reform des Einsatzes von UN-"Friedenstruppen" kritisch zu bewerten. Die UNO braucht neutrale Blauhelme, sie braucht auch internationale Polizeikräfte, die für Ordnungsaufgaben ausgebildet sind, sie braucht Juristen und Verwaltungsfachkräfte und andere zivile Experten, die sich bei der Entwicklung humaner Lebensbedingungen und beim Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens nützlich machen können. Ob die UNO aber auch militärische Kampfverbände mit einer, wie es in der einschlägigen UN-Sicherheitsrats-Resolution 1327 (2000) heißt, "glaubhaften Abschreckungsfähigkeit" braucht, möchten wir doch sehr bezweifeln. Interessanterweise enthält dieselbe Resolution auch die Widerlegung der militärischen Ambitionen der UNO, wenn nämlich "betont" wird, "dass das wirksamste Mittel, gewalttätige Konflikte zu vermeiden, die Auseinandersetzung mit den tieferen Ursachen der Konflikte ist, namentlich durch die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung und einer demokratischen Gesellschaft auf der Grund-lage eines starken Rechtsstaats und stabiler rechtsstaatlicher Institutionen, einschließlich der Achtung aller - der bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen wie kulturellen - Menschenrechte." Weiter wird hervorgehoben, "dass jeder Schritt in Richtung auf die Armutsminderung und die Herbeiführung eines breit angelegten Wirtschaftswachstums auch ein Schritt auf dem Weg zur Konfliktverhütung ist". (UN-RS 1327 [2000], Abschnitt V)

Aus: Friedens-Memorandum 2001, hrsg. vom Bundesausschuss Friedensratschlag, Kassel 2001, S. 30-33

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