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Das Recht und die Macht

Hermann Klenner: "Ein deutscher Gelehrter ohne Misere"

Von Norman Paech *

Rechtsphilosophie ist ein Orchideenfach im Studium der Rechte an den Universitäten, weder zur Prüfung noch für die Berufswahl geeignet, noch abseitiger als Rechtsgeschichte. Das liegt vor allem an der Verfassung dieses Studiums, welches den Studierenden weitgehend von Geschichte und anderem geistes- und sozialwissenschaftlichen »Ballast« befreit in die Praxis der Fallösung entlassen will – die sozialwissenschaftlichen Flügel der einstufigen Juristenausbildung sind ihm vor etlichen Jahren wieder gekappt worden. Philosophie müßte unter diesen Verhältnissen schon die Rechtsverhältnisse erhellend, die Rechtserkenntnis bereichernd und das Verständnis vertiefend vorgetragen werden, um einige der Tausenden Studierenden von ihrer Nützlichkeit überzeugen zu können. Einer, dem diese Gabe uneingeschränkt zur Verfügung steht, ist Hermann Klenner, emeritierter Professor der Akademie der Wissenschaft in Berlin/DDR, bekannt durch die Herausgabe der im Haufe Verlag erschienenen »Schriftenreihe zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung«. In dieser Reihe sind seit 1990 insgesamt 20 Bände juristischer Basistexte ediert worden, beginnend mit Julius Hermann von Kirchmanns »Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft« aus dem Jahr 1847 bis hin zu Heinrich Bernhard Oppenheims »Philosophie des Rechts und der Gesellschaft« aus demselben Jahr. Unter ihnen befinden sich ebenfalls Texte von Autoren, die auch über den Kreis von Juristen hinaus bekannt sind wie: Eugen Paschukanis, Rudolf von Jhering, Anselm Feuerbach, Wilhelm von Humboldt, Francis Bacon und Karl von Rotteck. Das alles ist eine Fundgrube rechtstheoretischer und rechtspraktischer Diskurse, die für unser euro­päisches Rechtsdenken fundamental sind, d.h. auch heute noch die Denkmethode und das materiale Gerechtigkeitsverständnis bestimmen.

Dialektische Analyse

Im 21. Band der Reihe führt Hermann Klenner nun 31 Texte zusammen, die er selbst nach dem Untergang der DDR geschrieben und überwiegend in Festschriften für Kolleginnen und Kollegen publiziert hat. Ohne Übertreibung kann man sie als die Summe seines Denkeinsatzes – ein von Klenner gern und oft benutztes Kürzel für intellektuelle Anstrengung – in jahrzehntelanger Rechtsforschung bezeichnen. Und, um es vorwegzunehmen: Ich kenne keine interessantere, lehrreichere wie gelehrtere und spannendere juristische Lektüre als diese 700 Seiten.

Sie beginnen nach einer Anthologie aphoristischer Gerechtigkeitsparolen von Jesaja bis Friedrich Dürrenmatt und John Rawls mit einer enzyklopädischen Einführung in »Recht und Unrecht«, die Klenner bereits 2004 in der »Bibliothek dialektischer Grundbegriffe« im transcript Verlag veröffentlicht hatte. Der Text ist ein Musterbeispiel dialektischer Analyse, die sich nicht erst bei der Gegenüberstellung von Recht und Unrecht, sondern bereits in der das Recht selbst konstituierenden inneren Gegensätzlichkeit und dem Selbstwiderspruch der Gesellschaft zeigt, wie ihn der Urvater der Dialektik, Heraklit, bereits 500 v. .Z. erkannt hat. Klenner folgt ihm zwar nicht in der Ansicht, daß das Gesetz, welches die Gegensätze vereinigt, auch die Lösung der Welträtsel bedeute, wohl aber darin, daß die Schaffung des Rechts wie auch das Denken über das Recht immer im Konflikt, im Streit erfolgt – das sei das Gemeinsame: der Kampf, der Widerstreit über das, was Recht und Unrecht sei. Aus der Erkenntnis, daß Recht nicht ohne Unrecht, das Gemeinsame nicht ohne Widerstreit besteht, folgt auch, daß »jedes Recht die innergesellschaftlichen Antagonismen höchstens domestizieren, nicht aber zu liquidieren imstande ist« (S. 42), daß »Recht das Unrecht nicht zu verhindern, höchstens einzudämmen« (S. 43) vermag. Und nicht einmal immer das, wie Klenner mit dem statistischen Hinweis auf die fehlende Abschreckungswirkung der Todesstrafe in den USA zu bedenken gibt. Da Recht und Unrecht die dialektischen Erscheinungsformen ein und derselben gesellschaftlichen Ursachen sind, bedingen auch privater Terrorismus und Staatsterrorismus einander – ein in der aktuellen Terrorismusdiskussion nur ungern eingestandener Schluß, den Klenner jedoch durch eine ausreichende Anzahl beeindruckender historischer Gesetzesbeispiele vom Codex des sumerischen Königs Urnammu (zirka 2100 v. .Z.) bis zu dem Verbot der Anbringung eines Kruzifix in einer staatlichen bekenntnisfreien Schule durch das Bundesverfassungsgericht am 16. Mai 1995 zu belegen weiß.

Klenners analytisch-dialektische Vorgehensweise ist zugleich eine materialistische, die heute in der universitären Jurisprudenz ausgestorben ist – wenn es sie je in der BRD gegeben hat, denn Wolfgang Abendroth hatte nie einen juristischen Lehrstuhl bekommen. Sie geht tiefer in der Frage nach dem Schöpfer der Gesetze und ihrer Adressaten, als lediglich den jeweiligen Gesetzgeber (Parlamente, Parteien etc.) und das Volk (Individuen, Organisationen, Unternehmen etc.) zu benennen. Sie greift zurück auf die ökonomischen Verhältnisse, die in »langwierigen Klassenkämpfen« das Recht hervorgebracht haben, welches wiederum rückwirkend das Funktionieren kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse (vulgo: »freie Marktwirtschaft«) garantiert. Rechtsverhältnisse sind Willensverhältnisse, in denen sich jedoch nicht individuelle oder kollektive Träger »parlamentarischer Hirnweberei« (Karl Marx) widerspiegeln, sondern die ökonomischen Verhältnisse selbst. »Letztlich sind es die wirtschaftlichen, medialen und politischen, notfalls mit polizeilicher Gewalt exekutierten Machtverhältnisse, die aus den subjektiven Absichten und Einsichten des Gesetzgebers objektives Recht werden lassen.« (S. 57). Daß diese Machtverhältnisse in letzter Instanz durch die herrschende Produktionsweise bestimmt werden, ist eine alte materialistische Erkenntnis. Da jedoch die Schöpfer wie Adressaten gleichermaßen an den Kämpfen um die Machtverhältnisse teilgenommen haben, folgt daraus, daß auch die Schöpfer Adressaten des Rechts sind. Sie können ihre Machtposition nur erhalten, indem sie ihr Recht gleichfalls befolgen: »Es ist der Gehorsam der Gehorchenden, der den Befehlenden ihre Autorität beschert.« (S. 57) Das ist die Essenz der Rule of law, der Rechtsstaatlichkeit in deutscher Diktion.

Form der Gewaltanwendung

Recht ist ein Instrument der Macht. Es ist daher keine Alternative zur Gewalt, kein Ersatz der Gewalt, sondern selbst eine Form direkter oder indirekter Gewaltanwendung. Daß diese »von der bloßen Predigt bis hin zur Medienpräsenz in Permanenz; von den Subventionsverteilungen bis hin zur brutalen Gewaltanwendung im In- und Ausland« (S. 59) reicht, nimmt ihr nicht in den milderen Formen den Charakter der Gewalt. Ihre Eskalation ist abhängig von den konkreten Machtverhältnissen, deren rechtliche Ordnung, sprich Durchsetzung, unterschiedliche Gewaltformen erfordern kann. Wo die Macht allerdings die Normativität des Rechts durchbricht, d.h. ihren selbstbegrenzenden Charakter zerstört, negiert dieser Rechtsnihilimus das Recht selbst. Klenner erinnert an Cromwells Umgang mit CharlesI. im Januar 1649, den jakobinischen terreur vom September 1793 und den bolschewistischen Beschluß des Rates der Volkskommissare vom 30. August 1918 über den Roten Terror. Er hätte auch den Krieg der NATO gegen Exjugoslawien im Frühjahr 1999 und den Überfall der USA auf den Irak im Mai 2003 nennen können. Und: »Insoweit die Bürger gegenüber dem Staat kein subjektives Recht haben, gibt es letztlich auch kein objektives Recht.« (S. 61, 62) Klenner betont die Bedeutung der subjektiven Rechte des einzelnen Bürgers nicht nur für den Zusammenhalt der gesellschaftlichen Verfassung, sondern auch für die Veränderung der Verhältnisse hin zur Demokratisierung der Staatsgewalt. Denn ohne ein Selbstbestimmungsrecht der Bürger gibt es auch keines des Volkes, welches wiederum für die Vergesellschaftung des Staates und damit die Vergesellschaftung der Produktionsmittel Voraussetzung ist. Spätestens hier hat Klenner die ausgetretenen Pfade bürgerlicher Rechtsphilosophie verlassen, die allenfalls in spekulativer »Hirnweberei« eine alternative Rechts- und Gesellschaftsordnung sich vorstellen kann. Allerdings stoppt er sofort mit einer doppelten Warnung jede Illusion auch im materialistischen Denken. So habe die Verstaatlichung der Produktionsmittel sich nicht als Garant von Sozialismus erwiesen, wie die Implosion der realsozialistischen Gesellschaften in Europa und ihrer Rechtsordnungen gezeigt habe. Ebenso aber sei das historische Programm des Kapitalismus in Gestalt der englischen und französischen Menschenrechtsprogramme des 17. und 18. Jahrhunderts gescheitert, da es nicht gelang, »eine Gesellschaft zu etablieren, in der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für einen jeden wenigstens die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen beendet« (S. 62).

Reflexivität und Normdiktat

Kein Recht, kein Gesetz ohne Richter und Gericht. Denn wenn Rechtssicherheit vornehmlich durch Gesetzlichkeit garantiert wird, ist diese durch eine besondere Institution, die Gerichtsbarkeit, festzustellen, wie es schon im Codex Justinianus von 529 u.Z. geschrieben steht. Deren noch heute unabdingbare Standards wie das Verbot des Urteilens nach Präjudizien, das Rückwirkungsverbot und die Gesetzesbindung waren spätestens seit der europäischen Aufklärung verpflichtend. Dabei genügt Klenner ein Hinweis auf Hegel, um dem allgemeinen Mißverständnis, daß der Begriff der Klassenjustiz den Vorwurf der Parteilichkeit gegen die Richter erhebe, zu begegnen. Hegel begriff darin die »Parteilichkeit für das Recht«, welche damit half, die Klassenspaltung in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Womit wiederum nicht gesagt sei, daß richterliche Tätigkeit in ihrer Subsumtionslogik unpolitisch ist. Denn wenn der Richter wirklich nur, wie es Fichte verlangte, zu entscheiden habe, was geschehen ist und das dazu passende Gesetz auszuführen, da der Urteilsspruch schon im Gesetz enthalten sein müsse, würde dies zu einer vollständigen Axiomatisierung und Automatisierung der Gerichts-, ja auch der Verwaltungstätigkeit führen. Sie würde ein lückenloses Normensystem voraussetzen, welches nicht einmal das »Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten« von 1794 mit seinen nahezu zwanzigtausend Paragraphen für sich in Anspruch nahm. Klenner bemerkt zutreffend, gäbe es einen solchen Justizsyllogismus, »gäbe es zwar Klassen-, aber keine Willkürjustiz« (S. 73). Das spricht nicht gegen eine formale Rationalität, die jede Gesetzgebungs- und Richtertätigkeit haben muß. Ihr aber auch eine materiale Rationalität überzustreifen, widerspricht »dem fundamentalen Abhängigkeitsverhältnis der Rechts- von der Gesellschaftsentwicklung. Wenn es hart auf hart kommt, dann determiniert nicht das Recht die Gesellschaft, sondern diese jenes« (S. 75). Um in diesem Balanceakt zwischen Normativität und politischer Macht nicht den in der Realität wirkenden Rechtsbegriff aus den Augen zu verlieren, plädiert Klenner dafür, keines der drei wesentlichen Attribute des Rechts zu verabsolutieren oder zu vergessen: seine Reflexivität, d.h. seine Funktion, die Gesellschaftsverhältnisse widerzuspiegeln, seine Normativität, die die Verhältnisse reguliert, und seine Instrumentalität (Funktionalität), als Mittel der Macht zu wirken.

Gegen die »Guantánamoisierung«

Bleibt noch die Gerechtigkeitsfrage. Genügt der universitäre Lehrsatz, daß Recht nicht Gerechtigkeit, sondern Rechtssicherheit herstellt? Ist also der Legitimation von Recht und Gesetz Genüge getan, wenn es Rechtssicherheit in der Gesellschaft garantiert? Oder müssen wir uns dem Codex Juris Canonici zuwenden, der in seiner 1983 von Papst Johannes Paul II. herausgegebenen Fassung behauptet, daß es ein alle Menschen (und nicht nur die Katholiken) verpflichtendes göttliches Gesetz gebe (S. 50), die Legitimation von Recht also außerirdisch, letztlich metaphysisch nur zu begründen sei? Das geht zurück auf Thomas von Aquin und den Scholastiker Francisco Suárez, die jede Selbstlegitimation von Recht und Gesetz bestritten. Ihre Ableitung des menschlichen Gesetzes führte zum Naturrecht und damit zum göttlichen Recht zurück. Dies ist zweifellos nicht nur für Agnostiker schwer nachzuvollziehen und nach materialistischer Auffassung nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Geht man von dem dialektischen Begriff des Rechts aus, der wie sein Gegenteil, das Unrecht, durch den inneren Widerspruch der Gesellschaft bedingt ist, so gilt das auch für die Gerechtigkeit und ihr Gegenteil.

Es gibt keinen Universalismus ewiger Werte und Gerechtigkeit mehr, da dieser durch den Partikularismus individueller Interessen in der kapitalistischen Gesellschaft ständig durchbrochen und fragmentiert wird: »Wo Interessen konfligieren, konfligieren letztlich die Ideen auch. Noch keines Philosophen Gerechtigkeitskriterium erwies sich als widerspruchs- oder gar widerlegungsfest« (S. 83), stellt Klenner durchaus nüchtern und keinesfalls resigniert fest. Denn transponiert man die alten, in der Scholastik noch im überirdischen Recht angesiedelten Universalismusvorstellungen auf den »Kampfplatz individueller Privatinteressen aller gegen alle« (Adam Smith), so ergibt sich aus der Gerechtigkeitsforderung notwendig die Forderung nach Demokratisierung der Gesellschaft. Nimmt man sie ernst, so erfüllt sich diese demokratische Gerechtigkeit nur in der uneingeschränkten Volkssouveränität einer vergesellschafteten Rechts- und Staatsordnung.

Was folgt nun aus dieser Erkenntnis? Wozu Rechtsphilosophie heute? Will man die Hülle der machtstabilisierenden Dogmatisierung des Rechts durchstoßen, bleibt nur das Widerstandsrecht, wie es Arthur Kaufmann legitimierte, »um das Recht gerechter und damit die Verhältnisse menschlicher zu machen«, und auf den sich Klenner beruft (S. 90). Das Widerstandsrecht ist ebenso wie die Volkssouveränität im Grundgesetz verankert (Artikel 20). Gegenüber der zunehmenden Entwicklung in Richtung eines »präventiv-autokratisch praktizierten Sicherheitsstaats« und einer »Guantánamoisierung der Rechtsordnung« im Namen einer »Staatsräson«, die nichts anderes bedeutet als »die Selbstbehauptung des Staates um jeden Preis und mit allen Mitteln, nach innen wie nach außen, ohne Rücksicht auf Moral und Recht« (S. 91, 92), ist die Volkssouveränität allerdings ins Hintertreffen geraten. Rechtswissenschaft ist eben Herrschaftswissenschaft, solange sie nicht den Dogmatikern entrissen und für die Volkssouveränität und menschlichere Verhältnisse eingesetzt wird. Denn »wichtiger als zu betonen, wie unrichtig es ist, Unrecht zu tun, ist es, zu betonen, wie unrichtig es ist, Unrecht zu dulden«, sagte der von Klenner viel zitierte Bertolt Brecht.

Durchaus aktuell

Mit diesem intellektuellen Rüstzeug versehen, ist es ein Vergnügen, sich den folgenden Texten »historisierender Rechtsphilosophie« zuzuwenden, die bedeutenden Denkern und Ereignissen der europäischen Rechtsgeschichte gewidmet sind. Etwa in dem »Das Jahr 529« überschriebenen Artikel, welches Klenner zum weltgeschichtlichen Moment der Trennung des Rechts von der Philosophie kürt. Denn in diesem Jahr hat Justinian, Kaiser des Oströmischen Reiches, durch ein Edikt nicht nur die vor fast tausend Jahren von Platon gegründete Philosophenschule, »Akademie« genannt, aufgekündigt und abgewickelt, sondern auch eine Zusammenstellung des römischen Kaiserrechts seit Hadrian als Codex Justinianus bestätigt, welches mit den später hinzukommenden Digesten und Institutionen authentische Quelle und herrschendes Lehrbuch des römischen Rechts für Jahrhunderte werden sollte und an den deutschen Universitäten die Studierenden noch bis ins 20. Jahrhundert malträtiert hat. Oder die Erklärungen über »Bacons Wissenschaftsverständnis und Scheitern«. Francis Bacon – den Karl Marx den »wahren Stammvater des englischen Materialismus« nannte und den der Enzyklopädist Jean-Baptiste le Rond d’Alembert an der Spitze derer sah, die die Aufklärung vorbereiteten, »ein Lehrmeister des Menschengeschlechts«, wie ihn Jean-Jacques Rousseau charakterisierte – war bekennender Royalist und praktizierender wie theoretisierender Jurist im Dienste des Monarchen. Das hinderte ihn nicht, aggressiv gegen den Dogmatismus seiner von der Scholastik geprägten Wissenschaft zu polemisieren, eine Denkweise, die er als das Ende eines schier endlosen Irrtums bezeichnete. Er verspottete Platon und Aristoteles, gab Gott in der Philosophie den Laufpaß und bekannte sich zur Tradition der antiken Materialisten, wie Demokrit und Epikur, sowie zu den Dialektikern Heraklit und Empedokles – ein säkularer Jurist und unsystematischer Philosoph ganz nach dem philosophischen Geschmack Hermann Klenners.

Oder, um ein letztes Beispiel lehrreicher Lektüre zu bringen, die »Kant-Mendelssohn-Kontroverse über das Völkerrecht«. In ihr ging es um die fundamentale Frage, ob es überhaupt einen Fortschrittsprozeß für das Menschengeschlecht als Ganzes gäbe, was Kant bejahte, Mendelssohn aber allenfalls nur für das einzelne Individuum, nicht aber für das Kollektiv der Menschen anerkennen wollte. Auf das Feld des Völkerrechts übertragen folgerte Kant daraus, daß, so wie die Vernunft den Menschen mittels eines Vertrages in die staatsbürgerliche Verfassung habe eintreten lassen, so entstehe das Völkerrecht durch einen Föderationsvertrag der Staaten, der schließlich zu einem »ewigen Frieden« führen würde. So wenig das Mendelssohn akzeptieren konnte, so sehr stimmten beide in der Einschätzung des elenden Zustands der zeitgenössischen Welt mit ihrer Gewalt, dem »Menschenwürgen«, Aufruhr und dem Menschenschlachten überein, und auch darin, daß weder Moral noch eine christliche Universalmonarchie eine Friedensgarantie darstelle, sondern eher kriegsfördernd sei. Doch war es der Jude Mendelssohn, der ein Widerstandsrecht von unten, von den Schwächeren und Bedrückten – wahrscheinlich aus eigener Erfahrung – befürwortete, während Kant den Fortschritt von oben erhoffte. Eine Debatte, deren archetypische Positionen auch heute noch Anspruch auf Aktualität erheben können.

Denkanstöße

»Historisieren« bedeutet gemeinhin die Verlagerung eines Themas, eines Problems in das Archiv der Geschichte, die Ablagerung aus der Aktualität der Debatte in die Historizität der Vergangenheit. Allen, auch den hier nicht erwähnten Texten, ist diese Methode der Entsorgung zum Glück fern. Insofern ist der Titel dieser Sammlung zumindest irreführend. Denn das belebende Merkmal aller Beiträge ist ihr Denkanstoß für die gegenwärtigen Rechts- und Staatsfragen. Der Erkenntnisgewinn dieses Bandes ist ein doppelter: die Wiederentdeckung einer reichen rechtstheoretischen und -praktischen historischen Debatte mit der lehrreichen Methode dialektisch-materialistischer Analyse. Das ist heute wohl nur außerhalb der juristischen Fakultäten möglich, und es bedarf solcher Wissenschaftler wie Hermann Klenner, auf die das Wort Ernst Blochs zutrifft, mit dem er einen anderen bedeutenden deutschen Juristen, Christian Thomasius (1655–1728), würdigte: »ein deutscher Gelehrter ohne Misere«. Doch sei mir zum Schluß eine Anregung erlaubt. Klenner zitiert Marx und Engels ausschließlich aus der großen, immer noch unvollendeten »Marx-Engels Gesamtausgabe« (MEGA), von der inzwischen nur noch höchstens ein Band jährlich, nicht unter 200 Euro, erscheint. Alle Zitate sind auch in der lange Zeit maßgeblichen und sehr viel günstigeren MEW zu finden. Für allgemein interessierte Leserinnen und Leser wäre es entlastend, wenn der Meister in Zukunft neben der MEGA auch die Fundstelle in der MEW angibt.

Hermann Klenner: Historisierende Rechtsphilosophie. Rudolf Haufe Verlag, Freiburg 2009, 708 Seiten, 50,00 Euro

* Norman Paech ist emeritierter Professor für Völkerrecht. Er war von 2005 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages und außenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke

Aus: junge Welt, 20. Dezember 2011



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