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Unter Marxisten

Bei der Jahrestagung der Zeitschrift "Historical Materialism" diskutierten Linke über eine revolutionäre Idee und ihren heutigen Sinn

Von Regina Stötzel, London *

Auch wenn man Karl Marx zu den Krisengewinnlern zählen darf - die beeindruckende Größe der kürzlich stattgefundenen Londoner Konferenz zu Historischem Materialismus dürfte diesem Umstand nicht geschuldet sein. Hier versammeln sich seit acht Jahren echte Marxisten.

»Wir schließen. Es wird dunkel.« Tatsächlich ist es um 15.45 Uhr noch taghell in London. Die resolute Dame lässt eigentlich niemanden mehr auf den Highgate Friedhof. Nur weil es sich um eine Journalistin aus dem Ausland handelt, die »etwas über Karl Marx schreiben« möchte, macht sie schließlich eine Ausnahme. Also gut, zehn Minuten. Drei Pfund (ca. 3,50 Euro) koste es dennoch, sagt sie mit bedauernder Miene.

Das steinerne, bärtige Haupt von Karl Marx thront auf einem Sockel in rund drei Meter Höhe. Auf einen winzigen Vorsprung in Kopfhöhe haben Besucher ein Bonbon, Ohrringe, einen winzigen Messing-Buddha und andere kleine, persönliche Gegenstände für den vor beinahe 130 Jahren Verstorbenen zurückgelassen, am Fuß des Sockels finden sich ein paar Blumensträuße.

Beinahe hätte man mehr Blumen erwartet, tummeln sich doch an diesem Wochenende mehrere Hundert Marxisten in der Stadt. Sie haben sich zur achten Jahreskonferenz der Zeitschrift »Historical Materialism« an der School of Oriental and African Studies (SOAS) versammelt. Unter dem Motto »Spaces of Capital, Moments of Struggle« (Räume des Kapitals, Momente des Kampfs) versuchen sie eine »Bestandsaufnahme der intellektuellen Landschaft der Linken im Kontext der aktuellen sozialen und politischen Kämpfe«.

Wo sind die Gewerkschaften?

Ägypten, Griechenland, USA, Chile, Israel, Spanien, ... Immer wieder werden die Ereignisse der vergangenen Monate aufgezählt. Manche erkennen darin das seltene Phänomen einer internationalen sozialen Bewegung.

Als einen »radikal demokratischen Kampf gegen die sinnentleerte Demokratie« bezeichnet Ana Cecilia Dinerstein, Dozentin an der Universität in Bath, die Bewegung der »Empörten« in Spanien und anderen europäischen Ländern. Mònica Clua-Losada, Gastprofessorin in Barcelona, vermisst den Versuch der Linken, ein neues hegemoniales Projekt zu schaffen: »Die Linke fordert das neoliberale Projekt nicht direkt heraus.« Sie kritisiert auch die Gewerkschaften, die bei den Protesten gefehlt hätten. »Die Arbeiter waren da, aber ihre traditionellen Vertretungen nicht.« Wer zehn Jahre oder länger arbeitslos sei - in Spanien bei 20 Prozent Arbeitslosigkeit keine Seltenheit - fühle sich von ihnen ohnehin nicht repräsentiert.

Marina Sitrin von der »Occupy-Wall Street«-Bewegung in New York scheinen die Formen wichtiger zu sein als die Inhalte. Die »horizontale Kommunikation« ist ihr Thema - das Weitersagen des Gehörten bei einer Versammlung an die weiter entfernt Stehenden -, ebenso das Besetzen öffentlicher Räume, die Blockaden, die für den Staat ein »Stop!« signalisiert hätten. Ein Zuhörer aus dem Publikum erinnert daran, dass es revolutionärer wäre, Privateigentum zu erobern statt öffentlicher Räume.

Schlüge Marx noch einmal die Augen auf, sähe er sofort, dass aus der klassenlosen Gesellschaft bisher noch nichts geworden ist. Gleich gegenüber dem Highgate Friedhof versperren Gatter die Zufahrt zu Reihen von prächtigen Häusern, die an schottische Schlösser erinnern.

Bei den Veranstaltungen spielt auch die Sparpolitik in Europa und anderswo eine zentrale Rolle. Der französische Wissenschaftler Michel Husson sieht in der Abkehr vom Euro die einzige Möglichkeit für hoch verschuldete Länder, sich vom Liberalisierungsdruck zu befreien. Für Costas Lapavitsas, Wirtschaftsprofessor an der SOAS, der agitiert, als stünde er an einer Barrikade vor Tausenden zorniger Bergarbeiter, ist das große Übel die nach deutschen Ideen formierte Europäische Union. Ein »nettes Europa« werde es nicht geben, kein Staat verteile Almosen, selbst Eurobonds seien nicht ohne Gegenleistungen der wirtschaftlich schwächeren Länder zu haben. »Der Euro ist nicht reformierbar im Interesse der Arbeiterklasse«, steht für ihn fest. Griechenland und andere Länder müssten die Eurozone verlassen. »Wir wollen Sozialismus!«, skandiert er.

Ozlem Onaran, Ökonomiedozentin an der Middlesex University, plädiert als einzige bei der Podiumsdiskussion zur Europäischen Krise, dem Weltmarkt und der Linken gegen ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone. Sie geht davon aus, dass andere Länder folgen müssten, die dann im Abwerten ihrer Währungen miteinander konkurrieren würden. Inflation und sinkende Löhne wären die Folge.

Alle drei sind sich einig, die Banken sollten selbst für ihre Schulden aufkommen und verstaatlicht, die Sparpolitik beendet und schließlich ein Europa auf der Basis von Arbeiterinteressen gebildet werden. Doch die zentrale Frage aus dem Publikum bleibt unbeantwortet: »Wie können wir die Kraft gewinnen, dies alles zu erreichen?« Sie ist gestellt mit Blick auf all die Länder, wo den Regierungswechseln nur noch striktere Sparpläne folgten.

Nach zwei Tagen London fragt man sich - noch mehr als sonst -, wie Menschen überhaupt in der Lage sein sollen, Widerstand zu leisten, die in ihrem Alltag derartig gegängelt und überwacht werden. Am Flughafen sind Kameras installiert, die an Roboter erinnern und vermuten lassen, man werde beim Wiedersehen freundlich mit Namen begrüßt. Vor den Konferenzräumen der als links geltenden SOAS sitzt ein Aufpasser, im angesagten East End steht vor jeder Kneipe Security-Personal. Oder besser: Anweisungspersonal. Denn wo man trinken darf, darf man nicht rauchen, wo man rauchen darf, nicht trinken. Das, bitteschön, nicht hier, sondern zwei Meter weiter. Man darf dies nicht und das nicht, wird ständig angehalten, etwas anders zu machen. Und Horden von hysterisch feiernden Briten trotten innerhalb von Sekunden widerstandslos aus der Kneipe, wenn die - offiziell aufgehobene - Sperrstunde beginnt.

»Wir als revolutionäre Marxisten«

Mit den Worten »Wir als revolutionäre Marxisten ...« beginnen nicht wenige Beiträge bei den Podiumsdiskussionen und in den gut 120 Arbeitsgruppen zu allen möglichen Facetten linker Theorie und Praxis. »Unser Job als revolutionäre Marxisten ist es, in dieser Bewegung zu sein«, predigt auch Joel Geier, Herausgeber des Magazins »International Socialist Review« und Referent bei einem ansonsten eher schwachen Podium. In seinem Überschwang spricht er zwar am Mikrofon vorbei, aber keineswegs leiser als die anderen Referenten. »Revolutionäre Bewegungen entstehen aus Massenbewegungen, wenn sie sich radikalisieren«, brüllt er. Zwar seien Ziele und Slogans der »Occupy«-Bewegung ein wenig schlicht. »Mögen sie mit Inhalt gefüllt werden!«

Dies übernimmt David Harvey für die »Räume des Kapitals«. Der US-amerikanische Geograf ist mit der von ihm geprägten Begrifflichkeit der Mottogeber der Konferenz, sein Vortrag über Marx' Kritik der politischen Ökonomie in einem riesigen, altehrwürdigen Auditorium bildet ihren Höhepunkt. Der Mittsiebziger mit dem sympathischen Ansatz, »Marx nicht komplizierter zu machen, als er ist«, erklärt in eineinhalb Stunden, ohne einmal merklich auf sein Skript zu schauen, in klarer, verständlicher Sprache, was dieser mit seinen drei Bänden »Kapital« sagen wollte - und was nicht. So habe Marx zwar die Kapitalflüsse allgemeingültig erklären können, nicht aber Nachfrage und Konsumverhalten. »Ich wurde nicht als Marxist geboren, sondern bin erst verhältnismäßig spät einer geworden«, sagt Harvey. »Der Grund war: Sein Werk ergab Sinn.«

* Aus: neues deutschland, 9. Dezember 2011


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