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Frankfurter Allgemeine Verunsicherung

Kapitalismuskritische Texte im Hausblatt des Kapitals

Von Tom Strohschneider *

Ist das bloß Lust an der Überraschung, die zur Provokation nur werden kann in diesem Umfeld? Oder einfach Einsicht, Umdenken, Erkenntnisfortschritt? Jedenfalls passiert da etwas im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen und ihrer Sonntagszeitung, und in »linken Kreisen« wird es mit Ahs und Ohs begleitet: Erst Frank Schirrmachers Text über Charles Moores Lob der Linken, die eben doch recht behalten hätten mit ihrer Kritik am Kapitalismus. Das war im August, ein paar Tage später erschien ein großer Text der Max-Planck-Soziologen Jens Beckert und Wolfgang Streeck, die warnen, »in der nächsten Stufe wird die Krise auf das soziale System übergreifen« und die Frage aufwerfen, »ob und mit welchen Mitteln die Wohlhabenden versuchen werden, ihre Position auch um den Preis einer massiven sozialen und politischen Krise zu verteidigen«.

Kurz darauf schrieb der in linken Kreisen hoch angesehene österreichische Ökonom Stephan Schulmeister, es handele sich bei der gegenwärtigen Krise mehr noch um die »schrittweise Implosion ›jener Spielart‹ einer Marktwirtschaft, in der die kapitalistische ›Kernenergie‹, das Gewinnstreben, auf Finanzveranlagung und -spekulation fokussiert ist«.

Irgendwann in der Zwischenzeit muss auch Dietmar Dath ins Feuilleton der FAZ zurückgekehrt sein, jedenfalls freut sich sein Kollege Lorenz Jäger in einem Beitrag ausgerechnet (wieso eigentlich »ausgerechnet«?) für »neues deutschland« darüber. nd-Feuilletonist Martin Hatzius hat ein lesenswertes Interviewbuch mit Dath veröffentlicht, das Jäger dort bespricht und sich dabei mit Daths Sozialismus-Idee auseinandersetzt. Kurz vorher hatte Jäger sich in einem dezent empathischen Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen von den Rechten mit dem Ruf »Nein, ich bin nicht mehr dabei, please count me out« verabschiedet.

Das allein ist ja nun noch kein Linksrutsch, es wirft aber ein kleines Licht auf die vielleicht in der Redaktion in der Hellerhofstraße verbreitete Stimmung: ein bisschen Koketterie mit dem Renegatentum, ein bisschen Revision alter Überzeugungen, ein bisschen Gefühlssozialismus im Angesicht des großen Kladderadatsch. Und natürlich das Schirrmachersche Gespür für die großen Themen, die weniger eine logische Kette der Erkenntnis bilden, sondern in einem formalen Sinne avantgardistisch sind - immer vorn: von der Gentechnologie über die Hirnforschung und die Netzpolitik zur Kapitalismuskritik.

Wo von Dietmar Dath schon die Rede war, sollte man auch dessen in der FAZ erschienenen Text zur Ideologie nennen, der zwar »nach draußen« geschrieben ist, indem er die Krisendebatte thematisiert. Aber gerade hier richtet sich sein Beitrag auch »nach innen«, weil ein wichtiger Strang dieser Krisendebatte nun einmal in der Frankfurter Allgemeinen geführt wird. Mit Engels und Lenin im Hausblatt des Kapitals eine ideologiekritische Lanze brechen, das ist vielleicht auch, aber eben nicht nur das journalistische Reiten von angenommenen Tabus, die ja doch in den meisten Fällen sich als Vorurteile erweisen.

»Sozialkritik, die nicht ihre Positionen offen vermittelt mit der Praxis derer, die da reden«, schreibt Dath, »ist Anlauf zur Errichtung oder Verschärfung von Herrschaft.« Ideologie gebe es, »wo immer Leute sich einen Vorteil davon versprechen, sich selbst und anderen nicht erkennbar werden zu lassen, was sie tun und vorhaben. Wir stehen mitten- drin.«

Den letzten Coup, wenn man es einmal von der Wirkung her betrachtet, die diese beiden Beiträge dank der technologischen Möglichkeiten der schwarmartigen Verbreitung von Texten vor allem im Netz erzielt haben, landete Schirrmacher Anfang Dezember. Wenn irgendwann einmal jemand die Geschichte dieser Frankfurter Allgemeinen Verunsicherung (eine nach innen und nach außen) aufschreibt, wird er auch auf die Rezension des Schulden-Buches von David Graeber zu sprechen kommen müssen, denn diese ist ein Stein auf dem Weg durch den reißenden Bach auf das andere Ufer. Das Werk des in England lebenden Anthropologen und Anarchisten mache »etwas mit dem Gehirn und dem Bewusstsein«, es mache nämlich »klar, dass wir es selber sind, die über unsere Symbole und deren Macht entscheiden«.

Schirrmacher nennt Graebers Buch »Debt« sogar »eine Befreiung« und verweist auf den US-Ökonomen Michael Hudson, »dessen Studien Graeber viel zu verdanken hat«. Ein paar Tage später bekommt eben dieser Hudson zuerst den Kulturaufmacher und in der darauffolgenden Sonntagszeitung noch eine Doppelseite.

Und an diesem Donnerstag hat sich nun auch Sahra Wagenknecht in Schirrmachers Liste kapitalismuskritischer Autoren eingereiht - mit einem Appell für radikale Regulierung des Finanzsektors, erschienen selbstredend als Aufmacher der FAZ-Kulturseiten. »Wem das alles zu radikal erscheint«, schreibt die Linkspartei-Vize dort, »der sollte die Alternativen bedenken.«

Vielleicht ist es dieser Gedanke, der Schirrmachers »linker« Begeisterung zugrunde liegt. Von ihr aus lässt sich ein roter Faden verfolgen, auf dem sich Knoten gebildet haben: die Schulden und ihre soziale Bedeutung. Hudson erklärt nun dem FAZ-Herausgeber zuerst »Was sind Schulden« - und damit einer ziemlich großen Öffentlichkeit. Die muss sich allerdings die Mühe eines längeren Textes machen, um Sätze zu lesen, die noch vor Jahren als unerhört im eigentlichen Sinne galten, als zwar aussprechbar, weil ein bestimmtes Maß an Meinungsfreiheit herrscht, aber nicht anschlussfähig an hegemoniale Diskurse und Kulturen: »Krieg gegen das Volk«, das hatte doch den Hautgout von K-Gruppen.

Heute ist das anders und es steht deshalb in der Frankfurter Allgemeinen - oder es ist anders, weil es in der FAZ steht: »Damit verlegt sich die internationale Finanzwelt auf eine neue Art von Kriegsführung, die dasselbe Ziel verfolgt wie in früheren Zeiten die militärische Eroberung: die Aneignung von Land und Bodenschätzen, die Übernahme staatlicher Infrastruktur und die Erhebung von Tributzahlungen.«

Michael Hudson ist zwar Berater eines relativ linken demokratischen Präsidentschaftsbewerbers gewesen, aber er ist kein Linker in dem Sinne, in dem hierzulande schnell die Grenzen der eigenen Hinterhöfe gezogen werden. Was in seinem ersten Text noch eher die Entwicklung eines bestimmten Begriffs des Systems »Schulden« aus der Geschichte ist, wird in seinem zweiten Beitrag zu einem politischen Plädoyer für, hierzulande würde man wohl sagen: die soziale Marktwirtschaft, eine politische Ökonomie des starken Staates, des an die Kette genommenen Finanzsektors, einen auf ihre »ursprünglichen« Funktionen zurückgeführten Sektor der Banken und die Besinnung auf »die klassischen Grundsätze der Wirtschaftsreformer des 20. Jahrhunderts«.

Das alles wird marxistische Autoren vielleicht nicht vom Hocker reißen, es wird linke Ökonomen sogar zu Widerspruch anregen. Gut so, denn eine Debatte, die sich über die Reaktion auf das tagespolitische Vorankommen der Krisenbearbeitung in Zentimeterschritten nicht hinausschwingt und in der nicht auch die Intermediäre aufeinander statt nur auf sich selbst reagieren, ist gar keine. »Die heutige Wirtschaftskrise ist eine Frage des politischen Wollens und keine Notwendigkeit«, schreibt Hudson gegen das Sachzwang-Dogma und das herrschende Paradigma der staatlichen Rettungspolitik an. Und er zitiert Obamas früheren Stabschef Rahm Emanuel: »Krisen sind viel zu gute Chancen, als dass man sie ungenutzt verstreichen lassen dürfte.« Die Frankfurter Allgemeine macht es vor.

Der Text erschien zuerst im Internetblog »Lafontaines Linke«

* Aus: neues deutschland, 9. Dezember 2011


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