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Die seltsame Sucht nach Arbeit

Paul Lafargue - ein Streiter für das Recht auf ein gutes und schönes Leben

Von Ronald Blaschke *

Er war ein bemerkenswerter Politiker und Publizist der internationalen Arbeiterbewegung. Bemerkenswert, weil sich seine von Karl Marx und Friedrich Engels geprägten Auffassungen mit einer großen Eigenständigkeit und geistigen Freiheit im politischen sowie publizistischen Wirken verbanden.

Der am 15. Januar 1842 in Santiago de Cuba geborene Paul Lafargue stammte aus einer multiethnischen und multikulturellen Familie. Eine Großmutter war Mulattin aus Haiti, die andere eine Karibin, die Großväter französischer Herkunft. Flucht und Übersiedlungen aus politischen Gründen waren Alltagserfahrungen seiner Eltern und Großeltern. Sie prägten Lafargues Leben und Wirken ebenso wie das multiethnische und multikulturelle Milieu. Er genoss eine Ausbildung in klassischen Sprachen, Philosophie und Literatur, studierte Medizin in Frankreich, zog es dann aber vor, sich als Berufsrevolutionär in die politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit zu begeben.

Zunächst Anhänger von Pierre-Joseph Proudhon (»Gott ist das Übel«, »Eigentum ist Diebstahl«, »Mein Vergnügen ist mein Gesetz«) lernte er Karl Marx in London kennen, wo Lafargue sein Medizin-Studium fortsetzen sollte, da er aufgrund politischer Umtriebe von allen französischen Universitäten ausgeschlossen worden war. Von Marx erhielt er Unterweisungen in politischer Ökonomie - und, nach langem Zaudern (er möge doch erst die ökonomische Basis einer Ehe sicherstellen), das Jawort zur Hochzeit mit Laura, einer Tochter von Marx. Friedrich Engels war Trauzeuge. Er war nicht nur der Mäzen der Familie von Karl Marx, sondern auch der chronisch an Geldmangel leidenden Familie Lafargue.

Laura war eine hochgebildete, sprachversierte und schöne Frau. Paul: »Ihr üppig krauses Haar glänzte goldig, als ob sich die untergehende Sonne hinein gebettet hätte.« Bisher Marxens Privatsekretärin und Übersetzerin, übernahm sie neben dem Ehehaushalt auch Schreib- und Übersetzungsarbeiten für Paul. Paul schätzte Laura: Auf den bösen Vorwurf hin, sie würde seine Schriften verfassen, die er nur mit seinen Witzen verderbe, entgegnete er, dass Laura begabt sei, ganz andere Dinge zu schreiben, als er vermöge. Laura gründete politische Frauenzirkel, gab eine Arbeiterinnen-Zeitung heraus und publizierte eigene Beiträge. Sie gebar in der Ehe mit Lafargue drei Kinder, zwei starben nach Monaten, eins wurde vier Jahre alt.

Die Lafargues waren oft getrennt. Paul war viel auf politischen Reisen, auf der Flucht vor politischer Verfolgung oder im Gefängnis. Die Gefängniszeiten wurden zur Ausarbeitung von Studien und politischen Programmen und, ermöglicht durch die damalige Selbstversorgung, ausgiebig zu Essensgelagen genutzt. Die Lafargues pflegten freundschaftliche Beziehungen zu Franz Mehring, Clara und Ossip Zetkin. Zu Besuch bei ihnen waren Wladimir I. Lenin, Nadeschda Krupskaja, Karl Kautsky, Alexandra Kollontai und Karl Liebknecht.

Lafargue, der mit Laura viele Werke von Marx und Engels in verschiedene Sprachen übersetzte, vertrat in Auseinandersetzungen mit den Bakunisten und Proudhonisten in der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) die Ansichten der beiden, war Funktionär und Vertreter verschiedener Ländersektionen der IAA, gründete die Parti Ouvrier und war zeitweilig Abgeordneter in der französischen Abgeordnetenkammer. Er gab Zeitschriften heraus, veröffentlichte sprachwissenschaftliche, kulturhistorische, religions- und literaturkritische Abhandlungen sowie Aufsätze zu aktuell politischen Fragen. Lafargue publizierte mehrfach auch zur Frauenfrage und zum Geschlechterverhältnis: Die marxistische Feministin Frigga Haug bezeichnete ihn als einen Spurensucher der Geschlechterkämpfe und weiblicher Emanzipationsbestrebungen. Im Sinne des späteren Antonio Gramsci lag es dem vielseitig gebildeten Lafargue daran, die kulturelle Hegemonie der herrschenden Klasse zu bekämpfen.

Ein Schmuckstück besonderer Art ist seine sehr ernst gemeinte Satire »Widerlegung des ›Rechts auf Arbeit‹ von 1848«, mit dem Haupttitel »Das Recht auf Faulheit«. Dabei handelt es sich um eine Schelte des von bürgerlichen und christlichen Philanthropen verwirrten und durch die kapitalistische Arbeitsmoral korrumpierten Proletariats, das selbst im ökonomischen Überfluss die Kapitalisten nach Arbeit, sogar für weniger Lohn, anflehte: »Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht … Diese Sucht ist die Liebe zur Arbeit.« Statt nach Arbeit zu verlangen, sollten die Arbeiterinnen und Arbeiter sich die Produkte ihrer Arbeit aneignen und ein gutes und schönes Leben führen. Lafargue schlug dazu das Verbot jeder Arbeit über drei Stunden täglich vor, pries den Einsatz moderner Maschinerie und eine lokale Produktion und Konsumtion. Produkte vom Feinsten, Edelsten sollten es aber sein. Eine solche für das gute und schöne Leben regulierte Produktion würde Arbeitszeit und Arbeitskräfte freisetzen - Arbeit, die, um das Lohnarbeits- und Profithamsterrad aufrechtzuerhalten, sich nicht vor verfälschter, bewusst kurzlebiger und unsinniger Produktion scheue. Um der Überproduktion entgegenzuwirken wäre es auch sinnvoll, dass die Produzierenden ihre Produkte selbst konsumieren. Statt unsinniger Produktion anzuhängen, sollten Feste gefeiert, den Musen und der freien Liebe gehuldigt werden. Für Lafargue galt, dass »die Arbeit erst dann eine Würze der Vergnügungen der Faulheit, eine dem menschlichen Körper nützliche Leidenschaft sein wird, wenn sie weise geregelt« werde.

Lafargue entwickelte die Vision einer Menschengemeinschaft, die das Was und Wie ihrer Produktion bewusst gestaltet. Einem unsinnigen Produktionswachstum stellte er die Idee der gesteigerten Genussfähigkeit für unverfälschte, edelste Produkte und für ein erotisches Leben gegenüber. Das Recht auf ein gutes und schönes Lebens für alle setzte er dem »Recht« auf Lohnarbeit, die tagtäglich die Herrschaft des Kapitals und der bürgerlichen Kultur reproduziert, entgegen.

Laura und Paul Lafargue gingen in der Nacht zum 26. November 1911 in den Freitod. Paul hinterließ eine Abschiedsnotiz: »Gesund an Leib und Seele töte ich mich, bevor mich das gnadenlose Alter schrittweise nach und nach der Freuden der Existenz beraubt und meine physische und geistige Stärke untergräbt, meine Energie lähmt, meinen Willen bricht und mich mir selbst und den anderen zur Last macht.« Selbstbestimmung bis in den Tod!

* Aus: neues deutschland, 14. Januar 2012


Der Inbegriff der Freiheit?

Reflexionen einer selbstständigen Gewerkschaftslinken

Von Mag Wompel **


Bedeutet freiberufliche Arbeit mehr Autonomie, weil man sich seine Jobs selbst aussuchen und seine Zeit eigenständig einteilen kann? Oder ist freischaffende Tätigkeit vor allem Selbstausbeutung ohne soziale Absicherung?

Eines Nachmittags im Coworking-Space. »Mist, schon wieder kein Netz!« Paul klappte verärgert sein Laptop zu. Martina am Tisch nebenan nickte zustimmend. »Im Café um die Ecke ist das Wifi viel stabiler.« »Ja, der Cappuccino aber viel teurer«, warf Paul ein. Robert ging ihr Genörgel auf den Keks: »Warum kommt ihr beiden eigentlich ständig hierhin, wenn es euch nicht gefällt? Ihr habt doch bestimmt ein Homeoffice?« »Ja klar, sogar ein perfekt eingerichtetes«, gab Paul kleinlaut zu, »aber die Fenster müssten mal wieder geputzt werden.« Martina lachte auf: »Bei mir muss die Wäsche gebügelt werden«.

Kein Wecker, sondern Selbstbestimmung

Auch Robert kannte zu gut die Ersatzbefriedigung einer ungeahnt sauberen Wohnung. Laut sagte er jedoch: »Nett mal zu plaudern. Aber wenn ich jetzt nicht endlich anfange, schaff ich es bis zum Abgabetermin nie.« »Ich bewundere deine Eigendisziplin.« In Pauls Stimme klang Neid. »Quatsch. Ich hab Angst vor Hartz IV und brauche den Folgeauftrag.«

»Wie kommst Du denn voran?«, fragte in dem Moment Claudia. Sie sitzt eigentlich weiter weg, nutzt aber den Weg zur Kaffeeküche für einen Blick auf Roberts Laptop. Er klappte es schnell zu. »Wie bist du denn drauf?«, staunte Paul. »Sie ist schon lange scharf auf mein Projekt«, erklärte Robert verärgert.

Martina hatte längst abgeschaltet und schaute aus dem Fenster. »Regen, schon wieder Regen«, dachte sie. »Ein Tag zum im Bett bleiben. Oh Gott, wie toll hatte ich mir das vorgestellt, das mit der Selbstständigkeit! Kein Wecker, keine Fremdbestimmung und nie wieder schleimen oder arbeiten mit Kotzbrocken. Der Inbegriff der Freiheit! Ausschlafen, den ganzen Tag im Schlampenlook.«

Doch sie wurde aus den Gedanken gerissen, als die Eingangstür aufging und Manuela laut in alle Richtungen grüßte. Martina grüßte erfreut zurück, doch einige andere rümpften ob der Störung die Nase.

Manuela plumpste auf den Stuhl neben Martina und nah an Paul. Dieser nutzte die Gelegenheit, der Soziologin seinen Textentwurf zum Gegenlesen zu geben: »… Vor der Entdeckung der unbezahlten Kreativität durch die Lean Production suchten linke Industriesoziologen die Mühlen der entfremdeten Fabrik und Büroarbeit durch Humanisierung der Arbeit zu mildern. Dazu gehörte autonome Gruppenarbeit und Aufhebung der Arbeitsteilung. Wer diese als Selbstständiger ausreichend genossen hat, singt (meist insgeheim) das Hohelied der Arbeitsteilung. Aber: Als Selbstausbeuter ist niemand so billig wie ich…«

Nehmen, was man kriegen kann

An dieser Stelle unterbrach Manuela die Lektüre. »Es ist, als ob Du mir über die Schulter geschaut hättest, als ich heute die kaputten Umlaute aus dem Text entfernen musste, 40 Seiten lang!«, sagte sie zu Paul. Und: »Apropos so billig wie ich« - und an dieser Stelle lauter: »Hört mal Leute, die, die auch schreiben: Ich hab das Angebot, eine Glosse zu schreiben, 47 Cent pro Zeile! Soll ich das machen? Die dju empfiehlt mindestens 60 Cent.« Sie schaute fragend in die Runde. Sprachloses Erstaunen. Nie, noch nie hat jemand seine Honorare verraten! Claudia hatte als Erste die Sprache gefunden: »Spinnst Du? Gewerkschaft war gestern. Nimm, was du kriegen kannst! Und jetzt lass mich in Ruhe weitermachen.« Kopfschüttelnd widmete sie sich wieder ihrem Laptop.

»Typisch«, dachte Manuela, »ich kenne gefühlte Tausend selbstständige Journalisten und Webdesigner allein in Berlin - alle links, alle nach Feierabend politisch aktiv, alle träumen von der Revolution - aber dem gegenseitigen Unterbietungswettbewerb ein Schnippchen schlagen? Oh nein, das wäre ja wirklich eine ›freie Produktion in den Händen der assoziierten Individuen‹…«

** Die Industriesoziologin Mag Wompel ist freiberufliche Redakteurin bei labournet.de, der Internetplattform für gewerkschaftliche Linke. In ihrem nebenstehenden Beitrag reflektiert sie in einer beruflichen Szene das Arbeitsleben Selbstständiger.

Aus: neues deutschland, 14. Januar 2012



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