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Nuklearterrorismus: Geklaut wird überall

Radioaktives Material ist leicht zu beschaffen und verschwindet tagtäglich - Umfassende Sicherheit nur über Atomausstieg machbar

Von Wolfgang Kötter*

Eine Gruppe jihadistischer Terroristen stiehlt aus einem Atomreaktor in Weißrussland hochangereichertes Uran und baut daraus einen primitiven nuklearen Sprengsatz. Wenig später nähert sich der NATO-Zentrale auf dem Boulevard Leopold III in Brüssel ein Pickup Lieferwagen. Bevor Sicherheitskräfte eingreifen können, explodiert am Haupteingang eine Zehn-Kilotonnen-Atombombe. In Sekundenschnelle verwandeln sich die Gebäude in einem Umkreis von knapp zwei Kilometer in ein Feuermeer.

Dieses fiktive Inferno ist die Ausgangssituation beim Planspiel "Black Dawn" - "Schwarze Dämmerung", das Sicherheitsexperten aus EU und NATO im vergangenen Frühjahr im slowenischen Ljubljana vorstellten. Innerhalb von 24 Stunden sterben 40.000 Menschen, und etwa 300.000 werden schwer verletzt, berichtet Gunnar Westberg von der Vereinigung Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW), der an der Auswertung der Übungsergebnisse teilnimmt. Er schildert, dass - folgt man dem Szenario - in mehreren Ländern auf riesigen Flächen radioaktive Niederschläge niedergehen. Etwa 60.000 Menschen sterben in Folge der radioaktiven Verseuchung, und die Landwirtschaft in weiten Teilen Belgiens, der Niederlande und Nordwestdeutschlands liegt für Jahre brach. Die Antiterrorübung offenbart, dass Europa auf solche Angriffe völlig unzureichend vorbereitet ist. So ständen für die geschätzten 30.000 Brandopfer in ganz Nordeuropa lediglich 500 Betten bereit. "Wir befinden uns in einem Wettrennen zwischen internationaler Kooperation und nuklearer Katastrophe", warnt Sam Nunn, Ex-US-Senator und einer der Initiatoren für die Überprüfung.

Panikmache oder reale Gefahr? Wie wahrscheinlich sind nuklearterroristische Anschläge wirklich? Für UN-Generalsekretär Kofi Annan sind sie alles andere als Science Fiction, und die Indizien verdichten sich, dass es früher oder später tatsächlich dazu kommen wird. In der Vergangenheit griffen Terroristen eher selten zu Massenvernichtungsmitteln. Die japanische Sekte Aum-Shinrikyo, die bei ihrem Anschlag auf die Tokioter U-Bahn im März 1995 das Gift Sarin freisetzte, oder die Bagwhan-Sekte, die im US-Bundesstaat Oregon im September 1984 mit Krankheitserregern eine Salmonellenepidemie auslöste, blieben bisher die Ausnahme. Neben diesen chemischen und biologischen Kampfstoffen streben terroristische Gruppierungen aber neuerdings auch verstärkt nach atomaren Materialien. Osama Bin Laden hat wiederholt Interesse an Kernwaffen geäußert und mehrfach versucht, über pakistanische Wissenschaftler an Nuklearmaterial heranzukommen. Nachdem erstmals auch in Deutschland ein Verdächtiger verhaftet wurde, der hochangereichertes Uran für das Netzwerk al-Qaida beschaffen wollte, sehen Sicherheitsexperten eine neue Qualität der Gefahr. Derartige Anschläge wären auf verschiedenen Wegen möglich: So könnten Terroristen eine funktionstüchtige Atomwaffe stehlen beziehungsweise auf dem atomaren Schwarzmarkt erwerben, vagabundierende Wissenschaftler anheuern oder selbst einen einfachen nuklearen Sprengsatz bauen. Zumindest wären sie fähig, eine mit radioaktivem Material gefüllte sogenannte "schmutzige" Bombe zu bauen, die einen Stadtteil mit mehreren tausend Einwohnern langfristig verstrahlen und unbewohnbar machen kann.

Relativ leicht zu beschaffen sind radioaktive Stoffe aus Atomkraftwerken oder Forschungseinrichtungen. Cäsium, Strontium oder Kobalt werden millionenfach in Krankenhäusern, Fabriken, Universitäten oder privaten Labors verwendet und immer wieder verschwinden radioaktive Stoffe. So gingen unlängst 30 Kilo Plutonium in der britischen Wiederaufbereitungsanlage Sellafield verloren. Nach Angaben der Times sei es allein im Verlaufe eines Jahres zu 45 Sicherheitsverstößen in atomaren Anlagen gekommen. Auch der Diebstahl von vertraulichen Informationen sowie der unberechtigte Zutritt zu Nukleareinrichtungen sind nachweisbar.

Attraktiv für terroristische Beschaffer sind ebenfalls die in 40 Ländern betriebenen rund 130 Forschungsreaktoren. Ein harsches Urteil über mangelnde Sicherheitsvorkehrungen in den USA fällt der Atomwissenschaftler Matthew Bunn von der Harvard-Universität: "Vier Jahre nach dem 11. September sind die meisten Reaktoren an den Universitäten überall in den Vereinigten Staaten im Wesentlichen ungeschützt. Sie sind ohne Bewacher vor Ort, um die Gebäude herum gibt es keine Zäune oder Überwachungskameras, und nur wenige andere Sicherheitsmaßnahmen sind getroffen." Diese Einschätzung bestätigt eine Recherche des US-Fernsehsenders ABC, die ebenfalls Reaktoren ohne bewaffnete Posten und mit Türen vorfand, durch die Besucher mit großen Gepäckstücken unkontrolliert passieren durften.

Eine wahrlich kritische Masse der Verwüstung entsteht, wenn herkömmliche Terrormethoden mit der Freisetzung von Massenvernichtungsmitteln kombiniert werden. So könnten Attentäter ein Passagierflugzeug entführen und es in eines der weltweit 443 Atomkraftwerke steuern. Bereits 2001 hatte al-Qaida mit dem Gedanken gespielt, ein Atomkraftwerk bei New York anzugreifen, den Plan dann aber wegen nicht kontrollierbarer Folgen zunächst aufgegeben.

Tatsächlich überträfe die Strahlung des radioaktiven Reaktorinventars das Unglück von Tschernobyl um ein Vielfaches, denn bis in die Stratosphäre hinein würde Radioaktivität in der Größenordnung aller bisherigen überirdischen Atomwaffentests freigesetzt. Expertenmeinungen zufolge wären die fürchterlichen Folgen eines nuklearterroristischen Anschlags mit denen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki vergleichbar. Die Umweltorganisation Greenpeace meint, dass kein einziges der 17 in Deutschland betriebenen Atomkraftwerke einem gezielten Absturz einer Verkehrsmaschine standhalten würde. "Nahezu jeder Kernreaktor könnte das Ziel eines koordinierten Terroranschlags sein", warnt Daryl Kimball, Direktor der rüstungskritischen Vereinigung Arms Control in Washington. "Im Falle einer Beschädigung würde ein Reaktor zur Waffe werden, indem nukleares Material über ein großes Gebiet verteilt wird." Doch um verheerende Schäden anzurichten, müssen nicht einmal die Kernreaktoren selbst beschädigt werden. Auch aus einer Anreicherungs- oder Wiederaufbereitungsanlage, einem Transportzug mit Brennelementen oder einer Lagerhalle für atomare Abfälle können radioaktive Stoffe freigesetzt werden. Allein Sabotageakte an den Kühlsystemen der Atommeiler würden unvorstellbare Katastrophen auslösen.

Vor allem die ungenügende Sicherheit der Atomkraftwerke und des Nuklearmaterials in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion rufen Besorgnis hervor. Wie russische Behörden meldeten, kam es in den vergangenen Jahren zu mehreren Fällen, in denen terroristische Gruppen Nuklearanlagen und -transporte ausspähten, mehr als 500 Mal wurde versucht, radioaktives Material illegal aus dem Land zu schaffen. Auch aus dem Reaktor Tschernobyl wurden zum Teil kiloschwere Brennstäbe gestohlen. Die Befürworter einer neuerlichen Renaissance der Atomkraft als Energiequelle müssen also neben Umweltabwägungen auch mögliche Konsequenzen einer terroristischen Bedrohung berücksichtigen. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) sieht in Terroranschlägen mit Kernwaffen oder radioaktivem Material eine echte und unmittelbare Gefahr. Seit Jahren verfolgt die Organisation deshalb ein umfangreiches Programm zur Verstärkung der nuklearen Sicherheit. So beschloss sie eine Nachbesserung der Vereinbarung zum physischen Schutz von Nuklearmaterial und im vergangenen Jahr eine Konvention gegen den Nuklearterrorismus. Mit dem Abkommen besteht nun eine Rechtsgrundlage für die internationale Zusammenarbeit bei der Untersuchung, Bestrafung und Auslieferung aller Personen, die Straftaten mit atomarem Spaltmaterial oder Nuklearmitteln begehen.

Konsequente Sicherungsmaßnahmen und internationale Terrorismusbekämpfung können das Risiko aber höchstens eindämmen. Ein wirklich zuverlässiger Schutz erfordert einen umfassenden Ansatz. Denn atomare Sicherheit, Abrüstung und Nuklearterrorismus hängen unmittelbar zusammen. Darum, so fordern die Atomgegner, muss eine wirksame Strategie den Ausstieg aus der Atomenergie und die globale Nichtverbreitung ebenso einschließen wie die Beseitigung von Kernwaffen und nuklearem Spaltmaterial. Da für Terroristen der Zugang zu atomarem Explosionsstoff die entscheidende Hürde bildet, wird die Gefahr erst mit dessen Vernichtung völlig gebannt sein. Schon die gewaltige Masse von 3.755 Tonnen global verstreuten Spaltmaterials bildet eine hochgradige Risikoquelle. Im vergangenen Jahrzehnt hat die IAEO mehr als 650 Fälle aufgelistet, in denen radioaktives Material auf dem Schwarzmarkt gehandelt wurde, Tendenz steigend. Erst im Dezember 2005 gelang es verdeckten US-Ermittlern, im Ausland erworbenes Strahlenmaterial unbemerkt an Grenzübergängen zu Kanada und Mexiko einzuschmuggeln. Die Menge an Cäsium-137 hätte für den Bau von zwei radiologischen Bomben ausgereicht. Auch das Arsenal von weltweit immer noch über 27.000 Atomwaffen ist ein ständiger Gefahrenherd, weil es Terroristen den Zugriff auf nicht ausreichend gesicherte Lagerstätten oder durch die Bestechung korrupter Militärs ermöglicht. Statt der dringend erforderlichen nuklearen Abrüstung jedoch haben die Kernwaffenstaaten gerade eine neue Runde atomarer Aufrüstung begonnen.

* Aus: Freitag 16, 21. April 2006


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