"Zivilisationsargumente"? - "Alles verkappte Rassismen"!
Der Schweizer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Adolf Muschg im Deutschlandfunk
Der Deutschlandfunk strahlte am 12. August 2002 um 8 Uhr früh ein Interview mit dem Schweizer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Adolf Muschg aus. Das Gespräch führte Martin Gerner. Es geht darin u.a. um den Diskurs zwischen den wertkonservativen US-Intellektuellen, die für einen "gerechten Krieg" gegen den Terror eintreten, und ihren deutschen Kritikern. (siehe hierzu zuletzt: Antwort konservativer US-Intellektueller auf ihre Kritiker aus Deutschland). Wir dokumentieren Auszüge aus dem Interview.
Martin Gerner: Samuel Huntington hat die These vom Kampf
der Kulturen geprägt. Der Wissenschaftler gehört zu 60
Intellektuellen aus den Vereinigten Staaten, die jetzt in
einem offenen Brief ihren deutschen Kontrahenten
moralische Blindheit vorwerfen. ... Am Telefon ist ein
Intellektueller, der keiner der beiden
Unterschriftenseiten angehört, trotzdem ein kritischer
Beobachter ist, Adolf Muschg, Schweizer Schriftsteller
und Literaturwissenschaftler. Herr Muschg, wo stehen
Sie in dieser Auseinandersetzung?
Adolf Muschg: Ja, Herr Gerner, ich erinnere mich daran, dass
es auch in Deutschland noch nicht so lange her
war, dass der Krieg, den das eigene Land führte, schon
darum ein gerechter Krieg war. Ich denke vor allem an
den Kriegsausbruch von 1914, wo die damaligen
Intellektuellen fast wie ein Mann sozusagen hinter dem
eigenen Krieg standen. Dieser Reflex ist vermutlich -
ein abscheuliches Wort - der natürliche. Wir sind es
einfach in Europa nicht mehr gewohnt, weil wir andere
Erfahrungen gemacht haben - auch als Kriegsführende
und als Kriegsopfer -, dass die Intellektuellen sich
sozusagen hinter die Regierungen scharen, sobald sie
sich als im Kriegszustand befindlich erklärt. ... Ich muss allerdings dazu sagen, dass ich
ein anderes Amerika in den 60er Jahren erlebt habe,
wo es um den Vietnam-Krieg ging, weiß Gott auch ein
Krieg, der mit moralischen Argumenten geführt wurde.
Damals hat das "Right of dissent", das heißt, das
Recht zum bürgerlichen Widerspruch, durchgeschlagen.
Also, es muss nicht so sein, wie es jetzt ist.
Gerner: Können Sie die US-Intellektuellen verstehen,
wenn sie die Gleichgültigkeit gegenüber Gefahren, die
von muslimischen Extremisten ausgehen, kritisieren:
Aufrufe zur Ermordung an Schriftstellern werden da
zitiert. Salman Rushdi steht Pate für andere. ...
Muschg: Die Unterstellung, dass die deutschen
Intellektuellen das nicht kritisieren, was die Amerikaner
monieren, ist natürlich eine Frechheit. Dabei kommt mir die
ganze Argumentationslinie ziemlich genau wie eine
Wiederholung im palästinensisch-israelischen Konflikt
vor. Dort hat jede Seite sehr gute Gründe, sich selber
als Opfer zu gerieren und leitet daraus ebenso gute
Gründe ab, den Krieg verstärkt weiterzuführen und
zudem eine moralische Position in Anspruch zu nehmen.
Wir wissen, dass dort sozusagen ein Blinder sehen
kann, wohin das führt. Ich glaube, die amerikanischen
Intellektuellen sind jetzt eine Spezies, an die wir uns
gewöhnen müssen. Sie gleichen vielmehr - sagen wir
mal - den römischen Dichtern wie Vergil und anderen,
die sich jetzt als Träger einer Menschheitsmission und
als Rechtfertiger einer moralischen Position fühlen und
daraus ableiten, dass eigentlich die Geschichte bei
ihnen anfängt und aufhört. Auch die Stunde Null,
dieser 11. September, ist für viele Amerikaner eben die
Stunde, wo es sie getroffen hat. Dass das ein Ereignis
in einem Kontext war, ist verloren gegangen oder
verdrängt worden ..., aber die Geschichte
und einige Leute erinnern sich daran, dass hier nicht
etwas aus heiterem Himmel auf Amerika
heruntergekommen ist, sondern der Ausbruch einer
Verzweiflung war, an der die amerikanische
Großmacht-Politik mitverantwortlich ist.
Gerner: Heißt das, dass es auf absehbare Zeit in den
USA keine Kultur des Dissenses mehr geben wird?
Muschg: Wenn ich zynisch sein sollte, was ich nicht
gerne bin - auch besonders wenig im Bezug auf
Amerika bin -, würde ich sagen: Sobald die Dinge
schief laufen, sobald die eigenen Opfer mehr werden -
so war das auch schon in Vietnam -, dann meldet sich
der Widerstand und der Widerspruch wieder, dann
gerät die eigene Regierung unter Druck. ...
Gerner: Herr Muschg, dieser intellektuelle Streit kommt
zu einem Zeitpunkt, wo sich die deutsche Politik
größere Unabhängigkeit von der US-Politik zuzutrauen
scheint - vielleicht liegt es auch nur am Wahlkampf:
Ist denn der Beitrag der deutschen Intellektuellen da
hilfreich?
Muschg: Ich habe vorläufig noch sehr Mühe, die neue
Betonung des Wortes "deutsch", etwa im
sozialdemokratischen Wahlkampf und im Munde des
Kanzlers richtig einzuschätzen. Ich stelle fest, dass er
jetzt für das Auge eine 180-Grad-Kehrtwendung
vollzogen hat, wenn das denn eine substanzielle
Äußerung sein sollte, denn er hat vorher sozusagen
dem amerikanischen Bundesgenossen eine Art
Nibelungentreue zugeschworen - durch dick und dünn
-, eine blinde Solidarität, und jetzt das andere
Zeichen. Ich fürchte, dass es mehr mit Wahlkampf zu
tun hat als mit Substanz.
Gerner: Das heißt, Sie glauben möglicherweise auch
nicht, dass sich eine deutsche Ablehnung an einer
möglichen militärischen Einsatzbeteiligung gegen den
Irak durchhalten lassen wird, wenn es soweit kommen
sollte?
Muschg: Da bin ich sehr gespannt. Ich bin zwar
Schweizer, aber ich fühle mich als Europäer, und ich
meine, dass wir nicht verpflichtet sind, auch
gegenüber einem verdienstvollen Bundesgenossen -
das würden die Amerikaner ja wahrlich nicht bestreiten
-, dass wir zu einer Solidarität in einer Sache
verpflichtet wären, von der absehbar ist, zu was für
einer Kettenreaktion es im Nahen Osten führen müsste.
Wir haben eigentlich genug Schweinerei da, um es uns
ersparen zu können, noch eine viel größere
anzurichten. Nein, ich hoffe ..., dass, welche Regierung
auch immer an der Macht ist, diese das Abenteuer
nicht mitmacht.
Gerner: Ich habe eben Samuel Huntington genannt, die
These vom Kampf der Kulturen. Politiker weisen in
großer Mehrheit dieses Wort, diesen Ausdruck von
sich. Was ist das, was wir jetzt innerhalb des Westens
da erleben, im Kampf der Intellektuellen? Ist das ein
Kampf der westlichen Kulturen?
Muschg: Es ist schon ein deutlicher Riss in einem
Gefüge, das vorher gewissermaßen durch den Druck
des Kalten Krieges zusammengeschweißt gewesen ist.
Ein Riss, der sich nicht bemerkbar gemacht hat. Ich
wünsche mir ja auch nicht, dass die europäische
Identität gewissermaßen in einer Absatzbewegung
gegenüber Amerika gefunden wird. Aber Ansätze dazu
sind erkennbar, und ich glaube, die Europäer haben
aufgrund ihrer historischen Erfahrungen das Recht, mit
sich selbst, mit großen Worten, mit Worten, wie
"moralischer Krieg", mit dem, was sie dann in der
Praxis bedeuten, zu intervenieren. Für mich ist immer
Büchners Wort in diesem Fall wichtig: Geht Eure
Phrasen dort doch einmal, bis dorthin, wo sie verkörpert
werden. Und die Verkörperung sieht dann aus wie ein
bombardierter Hochzeitszug in Afghanistan,
versehentlich, "collatoral damage" heißt das dann. ...
Gerner: Vielleicht abschließend die Frage: In welchen
Fällen ist denn Ihrer Meinung nach der Einsatz von
Waffengewalt moralisch zu rechtfertigen?
Muschg: In meiner Erinnerung war es natürlich nötig,
dass man Hitler auf diese Weise auf den Boden kriegte,
und ich gebe zu, dass es eine unendlich schwierige
Frage ist, wann ein Krieg - ich möchte nicht sagen
moralisch, sondern zivilisatorisch - unvermeidlich wird.
Aber die Argumentation, die sich heute des
Zivilisationsarguments bedient, die habe ich fürchten
gelernt, denn sie unterstellt ja, dass die anderen keine
Zivilisationen sind: Der Islam ist nicht zivilisiert, der
Osten ist nicht zivilisiert, China ist es nicht. Das sind
alles verkappte Rassismen, die man einmal
geschichtlich zur Rechenschaft ziehen wird, und man
wird sich auch nicht scheuen, festzustellen, was sie
angerichtet haben.
Gerner: Intellektuellenstreit - der Schweizer
Schriftsteller Adolf Muschg war das.
Zur "Terrorismus"-Seite
Zurück zur Homepage