Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Nicht der Terror überrascht, sondern die Resignationsfähigkeit der Milliarden Armen"

Der französische Sozialwissenschaftler Serge Latouche im Gespräch

Als Philosoph, Anthropologe und Ökonom attackiert Serge Latouche die Folgen der kapitalistischen Globalisierung. Umweltschäden, das extreme Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd, die fortwährende Kommerzialisierung aller Lebensbereiche sind für ihn alarmierend. In seinem neuesten Buch (La déraison de la raison économique) bricht Latouche eine Lanze für die Rückkehr zur ökonomischen Vernunft - Vorbilder sind ihm dabei das antike Griechenland, Indien und China. Der Westen, so Latouche, sei nichts anderes als "eine von der Rationalität geprägte techno-ökonomische Megamaschine ..."
Im "Freitag" vom 7. Dezember 2001 erschien ein Interview mit dem bedeutenden französischen Sozialwissenschaftler, das wir im Folgenden gekürzt dokumentieren. Der Artikel erschien unter dem Titel: "Coca-Cola und Heiliger Krieg.


FREITAG: Wie deuten Sie einen mit den Attentaten vom 11. September verbundenen Qualitätssprung des Terrorismus?


SERGE LATOUCHE: Nach den Statistiken des UNDP kontrolliert die eine Milliarde reichster Menschen der Welt 100 Mal mehr Reichtum als die eine Milliarde der Ärmsten. Das Wohlstandsgefälle zwischen Süden und Norden, das im 17. Jahrhundert praktisch nicht existierte, liegt heute bei 1 zu 100. Das treibt die Massen in die Verzweifelung. Von daher überrascht es mich, dass nicht Hunderttausende von Terroristen am Werk sind. Was erstaunt, ist die außergewöhnliche Resignationsfähigkeit dieser Milliarden und Milliarden Frustrierter, die praktisch nichts mehr zum Leben haben und größtenteils ihr Schicksal hinnehmen, aber die trotz allem ein sehr fruchtbares Terrain darstellen für jede Art von Terrorismus - der selbstmörderischen Form von sozialer Revolte.

Betrachten Sie den 11. September auch als Antwort auf die "Verwestlichung der Welt", die Sie in Ihren Büchern beschreiben?


Wissen Sie, eine Studentin aus Benin, die gerade bei mir ihre Dissertation verteidigt, meinte im Moment der Attentate: Für die Afrikaner haben diese Vorfälle keinen Sinn. Das sind Dinge zwischen Weißen. Dinge, die sich außerhalb des afrikanischen Kontinents abspielen. Das heißt, die tatsächlich Ärmsten und Ausgeschlossensten haben sich nicht von diesen Geschehnisse angesprochen gefühlt. Aber das ist nicht neu - schon die Französische Revolution wurde von aristokratischen Dissidenten gemacht, nicht von der Masse des Volkes. Es ist auch kein Zufall, dass sich der jetzige Terrorismus in der arabisch-muslimischen Welt entwickelt hat, die immer Hegemonieabsichten hegte - in Konkurrenz zum Westen - und eine universale Weltanschauung pflegt, die wiederum Teil der Geschichte des Westens ist.

Aber wir hören doch gerade, der Heilige Krieg reflektiere vor allem den Vormarsch von MacDonald´s, dem sich die islamische Tradition vehement widersetzen wolle ...


Diese These trifft sich ein bisschen mit meinen Ideen, aber anders, als Sie vielleicht annehmen. Natürlich, man kann die kulturelle Analyse nicht von der wirtschaftlichen trennen. Das heißt aber, wäre der westliche Plan des Wohlstands für jedermann im Süden aufgegangen, wären die Forderungen nach kultureller Identität wahrscheinlich weitaus schwächer, weil es letztlich doch viele Leute auf der Welt gibt, die bereit sind, auf eigene Identität zu verzichten, wenn sie ein gutes Einkommen haben.

Mit anderen Worten, das Drama einer Zerstörung kultureller Identität hängt von der Dynamik der westlichen Entwicklungswalze ab?


Ja, weil für die Schiffbrüchigen Identität das Einzige ist, das ihnen bleibt, ihr einziger Reichtum. Wenn man ihnen auch noch diesen Reichtum nimmt, haben sie gar nichts mehr. Den nationalistischen Bewegungen, die versuchten, den Islam zu verwestlichen - ich denke an Kemal Atatürk, den Ägypter Nasser, die Baath-Partei im Irak -, ist es zunächst gelungen, die arabischen Massen zu erobern, aber schließlich sind sie gescheitert, weil ihre hauptsächliche Rechtfertigung in der wirtschaftlichen Entwicklung bestand. Und da die ausblieb, waren sie diskreditiert. Dem setzen die Fundamentalisten von heute den Plan entgegen, die Moderne zu islamisieren, das heißt, im Grunde verwerfen sie die Moderne nicht. Es sind Leute, die die moderne Technologie nutzen, moderne Menschen, die einfach nur eine Moderne in islamischer Sauce wollen - ihre eigene Moderne.

Ist der Krieg in Afghanistan ein Versuch, dagegen die wirtschaftliche Globalisierung mit Gewalt durchzusetzen und so diesen Typus des Widerstandes, von dem Sie sprechen, zu brechen?


Man kann die Leute nicht dazu zwingen, Coca-Cola zu trinken, wenn sie das nicht wollen. Aber hinter dem Rauchvorhang der Militäraktionen haben ja gerade die Verhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO) in Katar stattgefunden. Der militärische Kontext hat es erlaubt, Druck auf die Länder auszuüben, die in Seattle 1999 noch widerstanden hatten. Europa beispielsweise folgt jetzt handelspolitisch vollständig dem Kurs der USA. In diesem Sinne wird der Krieg als Druckmittel eingesetzt, um Globalisierung zu beschleunigen. Das sieht man auch daran, dass Präsident Bush weiter schärfsten Druck ausübt, damit die Gerichtsverfahren gegen Microsoft eingestellt werden. Microsoft ist angesichts der Rezession unverzichtbar. Es gibt einen klaren ökonomischen Nationalismus der USA. Man darf nicht die Worte Kissingers vergessen, der gesagt hat: Was ist Globalisierung? Ein neuer Name für amerikanische Hegemonialpolitik.

Das Gespräch führte Cyrus Salimi-Asl.



Zurück zur "Terrorismus-Seite"

Zur "Islam"-Seite

Zur "Globalisierungs"-Seite

Zurück zur Homepage