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Gescheiterte Anklage

Vor einem New Yorker Zivilgericht erwies sich nur einer von 286 Vorwürfen gegen einen Guantánamo-Häftling als belastbar

Von Philipp Schläger, New York *

Die erste Entscheidung eines zivilen Strafgerichtes gegen einen ehemaligen Guantánamo-Häftling hat in den Vereinigten Staaten die Kontroverse über den Umgang mit Terrorverdächtigen neu entfacht. Ein New Yorker Gericht befand den Angeklagten Ahmed Khalfan Ghailani in der vergangenen Woche in nur einem der 286 Anklagepunkte für schuldig. Die Jury kam zu dem Schluß, daß sich Ghailani im Zusammenhang mit den Anschlägen auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania 1998 nur wegen der Beteiligung an einer Verschwörung zur Zerstörung von US-Eigentum verantworten muß. In allen anderen Anklagepunkten sprachen die zwölf Geschworenen Ghailani frei.

Wie zu erwarten war, nutzten Konservative dieses Ergebnis für einen Angriff auf zivile Strafprozesse für Terrorverdächtige und verteidigten die von Bush eingeführten Militärtribunale. Trotz des vermeintlich glimpflichen Ausgangs droht Ghailani, der einen Lastwagen und Sprengstoff für das Attentat in Tansania gekauft haben soll, eine lebenslange Freiheitsstrafe (das Strafmaß wird im Januar 2011 bestimmt). Doch dies ist den Konservativen nicht genug. Die Entscheidung belege, daß man alle Terror-Fälle in Militärtribunalen abhandeln sollte, erklärte der republikanische Senator John McCain. Sein Parteikollege im Repräsentantenhaus, Peter King, sprach von einem »totalen Justizirrtum«.

Vier Komplizen Ghailanis wurden zuvor von Bundesgerichten zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt. Im Gegensatz zu ihnen wurde der 36jährige Tansanier nach seiner Verhaftung 2004 von der CIA zunächst zwei Jahre lang in einem Geheimgefängnis in Polen festgehalten und gefoltert. 2006 kam er in das Gefangenenlager Guantánamo. Sein 2008 begonnenes Verfahren vor einem Militärtribunal scheitert und der Fall kam auf Anweisung von Justizminister Eric Holder vor das Bundesgericht. Der Großteil der Anklage scheiterte schließlich offenbar wegen der Ablehnung eines zentralen Belastungszeugen der Anklage. Der für das Verfahren zuständige Richter ließ den Zeugen auf Grundlage der Lehre von der »Frucht des vergifteten Baumes« nicht zu, da er erst aufgrund von Informationen aus den Folter-Verhören Ghailanis gefunden worden war. Die Staatsanwaltschaft hatte wegen der Folter schon auf sämtliche Aussagen Ghailanis aus seiner Zeit in CIA-Gefangenschaft oder in Guantanamo verzichtet.

In Reaktion auf das Urteil bekräftigte das Weiße Haus die Absicht, Guantánamo zu schließen. Die Regierung werde »alle zur Verfügung stehenden Instrumente« nutzen, um die Schließung des Lagers zu erreichen, erklärte Sprecher Robert Gibbs. Der Umgang mit Terrorverdächtigen bleibt jedoch weiterhin offen. Im Fall von Khalid Scheich Mohammed und anderen Hintermännern der Anschläge vom 11. September 2001 scheint US-Präsident Barack Obama inzwischen von einer zivilen Anklage abzurücken.

Obwohl führende Republikaner immer wieder Angst vor Chaos und Terrorangriffen im Fall von Verfahren vor zivilen Gerichten schüren, waren die Lage im Prozeß Ghailanis zu keinem Zeitpunkt bedrohlich und die Sicherheitsmaßnahmen normal. Auch die Zahlen sprechen für die ordentliche Gerichtsbarkeit. Nach einer Untersuchung der New York University vom Januar 2010 wurden in acht Jahren nach den Anschlägen vom 11. September 2001 insgesamt 337 Terrorverfahren gegen 804 Angeklagte vor Bundesgerichten durchgeführt. 89 Prozent endeten mit einer Verurteilung und einer Freiheitsstrafe von im Schnitt 5,6 Jahren. Vor den umstrittenen Militärtribunalen wurden dagegen in mehr als neun Jahren (bis Oktober 2010) gerade einmal fünf Angeklagte verurteilt. Menschenrechtsorganisationen begrüßten die Entscheidung im Fall Ghailani. Das Urteil zeige, daß Ängste unbegründet seien und die US-Justiz faire, sichere und effektive Terror-Prozesse durchführen könne, sagte Hina Shamsi, Leiterin des Nationalen Sicherheitsprojektes der Bürgerrechtsvereinigung American Civil Liberties Union. »Die Obama-Administration muß jetzt handeln und auch die anderen in Guantánamo verbliebenen Häftlinge vor Bundesgerichten anklagen ein System, das sich als viel erfolgreicher und versierter erwiesen hat als Militärkommissionen«, sagte Daphne Eviatar von Human Rights First.

* Aus: junge Welt, 22. November 2010


Guantanamo-Premiere

Von Olaf Standke **

Es war eine Premiere nach fast einem Jahrzehnt Guantanamo: Erstmals wurde in einem Zivilprozess über einen Insassen des berüchtigten Gefangenenlagers aus Bushs »Krieg gegen den Terror« geurteilt. Die Geschworenen eines New Yorker Bundesgerichts sprachen Ahmed Khalfan Ghailani lediglich in einem von 286 Anklagepunkten schuldig. Dem 36-Jährigen drohen als mutmaßlichem Drahtzieher der Anschläge auf die USA-Botschaften in Tansania und Kenia im Jahr 1998 zwischen 20 Jahren Gefängnis und lebenslanger Haft. Das Verfahren galt auch als Testfall für die Politik von Präsident Obama, der Guantanamo schon Anfang des Jahres schließen wollte. Die verbliebenen Häftlinge sollten vor US-amerikanischen Zivilgerichten abgeurteilt werden. Bislang wurden sie mit stark eingeschränkten Rechten vor Militärtribunale gestellt. Wochenendabo

Doch während Menschenrechtler den Prozess als »effizient, fair und transparent« bezeichneten und das Urteil begrüßten, sieht man im Weißen Haus absurderweise mit Sorge, dass der Angeklagte von fast allen Vorwürfen freigesprochen wurde. Denn das hatte umgehend scharfe Kritik von Seiten der erstarkten republikanischen Opposition zur Folge, und der angeschlagene Präsident befürchtet wohl weitere Popularitätsverluste. Dabei zeigt dieses Premierenverfahren exemplarisch, dass es keinen vernünftigen Grund mehr gibt, das Gefangenenlager in Guantanamo samt seinen Sondergerichten weiter zu betreiben.

** Aus: Neues Deutschland, 19. November 2010 (Kommentar)


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