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Schweigen der Männer

US-Militärverfahren gegen 9/11-Angeklagte *

Zum Auftakt des »Jahrhundertverfahrens« um die Anschläge vom 11. September 2001 haben die fünf angeklagten mutmaßlichen Hauptdrahtzieher geschwiegen.

Die Angeklagten verweigerten jegliche direkte Beteiligung an der Sitzung des Militärsondergerichts im Gefangenenlager Guantanamo Bay auf Kuba und sorgten damit für eine Verzögerung der Anklageverlesung.

Das Verfahren, in dem den Beschuldigten im Fall eines Schuldspruchs die Todesstrafe droht, soll nun vom 12. bis 15. Juni mit Anhörungen fortgesetzt werden. Diesen Termin setzte Militärrichter James Pohl fest, nachdem ihn die Angeklagten um den mutmaßlichen Chefplaner der Anschläge, Chalid Scheich Mohammed, zuvor praktisch völlig ignoriert hatten. Stattdessen brachten ihre Anwälte auch auf Routinefragen Pohls immer wieder Vorwürfe auf den Tisch, nach denen die Angeklagten in Gefangenschaft misshandelt oder gefoltert worden seien.

Keiner der Fünf bekannte sich in der Prozedur schuldig oder nicht schuldig, wie es sonst zum Verfahrensauftakt üblich, aber nicht vorgeschrieben ist. Das wurde auf einen späteren Zeitpunkt vertagt.

Zu den Angeklagten neben Scheich Mohammed zählt Ramzi Binalshibh, der zur Hamburger Zelle um den Todespiloten Mohammed Atta gehörte. Daneben müssen sich Ali Abdel Asis Ali, Mustafa Ahmed al-Hausawi und Walid bin Attasch vor dem Militärtribunal verantworten.

Die Hauptanklagepunkte sind Terrorismus, Flugzeugentführung, Verschwörung, Mord, Angriff auf Zivilisten, vorsätzliche schwere Körperverletzung und Zerstörung von Eigentum.

Bei den Selbstmordanschlägen mit entführten Passagierflugzeugen auf die Zwillingstürme des New Yorker World Trade Center, das Pentagon bei Washington sowie beim Absturz einer entführten Maschine in Pennsylvania waren am 11. September 2001 fast 3000 Menschen ums Leben gekommen.

Als frühester Termin für den Beginn der Hauptverhandlung mit Zeugenaussagen und Beweisvorlagen wurde der Mai 2013 genannt. Bis dahin wird eine Serie von komplizierten und langwierigen Anhörungen zu Fragen der Prozedur erwartet - erst recht nach dem zähen Verfahrenauftakt.

So lehnten es beispielsweise alle Angeklagten ab, die zur Übersetzung vom Englischen ins Arabische dienenden Kopfhörer zu tragen. Wiederholt knieten sie sich zum Gebet auf den Boden und starrten auf Fragen des Richters unbeteiligt in die Luft, während sie sich nach Angaben von Prozessbeobachtern während Verfahrenspausen miteinander unterhielten, lachten und ein Magazin austauschten.

Als einziger wurde Binalshibh laut. »Sie versuchen, uns (im Gefangenenlager) zu töten«, rief er während des Verfahrens zornig aus. »Vielleicht werdet ihr mich nicht wiedersehen.«

Schon zu Beginn des Verfahrens hatten auch mehrere Verteidiger das Thema Misshandlung und Folter angesprochen, das nach Experteneinschätzung im Prozess eine große Rolle spielen wird. Der 2003 in Pakistan gefasste Scheich Mohammed war zunächst in ein geheimes CIA-Gefängnis gebracht worden und dort laut Aufzeichnungen des Geheimdienstes 183 Mal dem »Waterboarding« unterzogen worden, einem simulierten Ertränken. Damit sollten Aussagen erzwungen werden.

Auch die anderen Mitangeklagten befanden sich anfangs in CIA-Gewahrsam.

Journalisten und Angehörige der Opfer konnten das Verfahren per Video in Guantánamo und an vier Orten in den USA verfolgen, so auch auf dem US-Militärstützpunkt Fort Meade in Maryland.

* Aus: neues deutschland, Montag, 7. Mai 2012


Der Jahrhundertprozess

Von Roland Etzel **

Die Welt werde jetzt Zeuge, wie der Gerechtigkeit in einem »Jahrhundertprozess« Genüge getan wird. Der US-Präsident hatte keine Hemmungen, den nun begonnenen Prozess gegen die der Attentate vom 11. September 2001 Beschuldigten so zu klassifizieren; ausgerechnet er und ausgerechnet bei diesem Verfahren in Guantanamo.

Er selbst hatte, als er um sein jetziges Amt noch kämpfte, den US-Stützpunkt an der Ostspitze Kubas zum Synonym für Willkür und Verlust an Rechtsstaatlichkeit erklärt. Nachdem er jedoch nicht einmal die versprochene Schließung der Folterbasis einlöste, hat er vor Beginn der heißen Phase des Wahlkampfes wohl ganz die Position der Republikaner übernommen. Die Beschuldigten haben vermutlich sehr viel mit den ihnen zur Last gelegten Schwerstverbrechen zu tun. Aber was hindert die USA eigentlich daran zu versuchen, ihnen das in einem rechtsstaatlichen Prozess zu beweisen? Mit beinahe allem, was in Guantanamo abläuft, erhärtet die US-Administration im Gegenteil die Annahme, dass sie selbst hier unheimlich viel Dreck am Stecken hat. Warum verhandelt ein Militärgericht mit dubioser Strafprozessordnung? Warum sollen viele der Beweise geheim bleiben? Warum sehen Prozessbeobachter zeitversetzt nur eine zensierte Version der Verhandlung?

Im Nürnberger Prozess 1945/46 gaben die USA einst mit ein Beispiel, wie auch gegen schwerste Kriegsverbrecher rechtsstaatlich geurteilt werden kann. Dahinter sind sie jetzt ein Jahrhundert zurückgefallen.

** Aus: neues deutschland, Montag, 7. Mai 2012 (Kommentar)


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