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Die Reflexe der Politik

Nach jedem Terroranschlag wird weiter an der Sicherheitsschraube gedreht - und die Bürgerrecht geraten unter Druck. Zwei Texte von Rolf Gössner

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Artikel von Rolf Gössner, die anlässlich des 5. Jahrestages der Terroranschläge vom 11. September 2001 in zwei verschiedenen Zeitungen erschienen sind und sich thematisch ergänzen.
Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, ist seit 2003 Präsident der "Internationalen Liga für Menschenrechte"; Mitherausgeber des Grundrechte-Reports und der Zweiwochenschrift Ossietzky; Mitglied des Kuratoriums zur Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille und der Jury zur Verleihung des Negativpreises "BigBrotherAward".
Hier geht es zur Homepage von Rolf Gössner: www.rolf-goessner.de.



Bürgerrechte in Zeiten des Terrors

Von Rolf Gössner *

Anstatt der Bevölkerung die Wahrheit über Unsicherheitsfaktoren in einer demokratischen und hochtechnisierten Risikogesellschaft zuzumuten, machen ihr Regierungspolitiker immer wieder unhaltbare Sicherheitsversprechen. Dreist bedienen sie das ohnehin starke Sicherheitsbedürfnis der Bürger und nutzen es zur Legitimierung längst geplanter Nachrüstungsmaßnahmen – auch wenn die wenigsten zur Bekämpfung eines religiös aufgeladenen, selbstmörderischen Terrors taugen. Längst sind dabei rechtsstaatliche Dämme und bürgerrechtliche Tabus gebrochen. Wir sind Zeugen nicht nur einer Demontage des Sozialstaates, sondern auch des Völkerrechts, der Bürgerrechte und rechtsstaatlicher Prinzipien – zivilisatorischer Errungenschaften, die mühsam erkämpft worden sind.

Vor fast fünf Jahren sind als Reaktion auf den 11.9. die umfangreichsten »Sicherheitsgesetze« der bundesdeutschen Rechtsgeschichte in Kraft getreten – mit zahlreichen Befugniserweiterungen für Polizei und Geheimdienste. Migranten sind per Gesetz unter Generalverdacht gestellt und einem rigiden Überwachungssystem unterworfen worden. Man unterzog sie exzessiven Rasterfahndungen, die das Bundesverfassungsgericht später als verfassungswidrig eingestuft hat. Geheimdienste bekamen neue Aufgaben und quasi polizeiliche Kontrollbefugnisse – obwohl sie selbst kaum demokratisch kontrollierbar sind. Zu allem Überfluss sollen sie demnächst noch mehr Befugnisse erhalten, obwohl die Machenschaften des Bundesnachrichtendienstes gerade Gegenstand eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses sind.

Tausende von Beschäftigten in »lebens- oder verteidigungswichtigen« Betrieben – darunter Energie- Unternehmen, Krankenhäuser, pharmazeutische Firmen, Bahn, Post, Telekommunikations- und Verkehrsbetriebe – werden geheimdienstlichen Sicherheitsüberprüfungen unterzogen und ausgeforscht – zum Teil nicht nur sie, sondern auch ihre Lebenspartner und ihr soziales Umfeld. In Pässen, bald auch in Personalausweisen, werden digitale Gesichtsbilder und Fingerabdrücke als biometrische Daten aufgenommen und auf Funkchips gespeichert. Die Inhaber müssen sich behandeln lassen, wie bislang nur Tatverdächtige oder Kriminelle für eine ED-Behandlung – eine deutliche Misstrauenserklärung an die Bevölkerung.

Obwohl niemand Notwendigkeit und Effizienz dieser »Antiterrorgesetze« abschätzen kann, erleben wir nach jedem Anschlag oder Anschlagsversuch reflexhaft neue Schübe. Die Große Koalition hat kürzlich den Entwurf eines »Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes« vorgelegt, mit dem die befristeten Antiterror-Befugnisse nicht nur um weitere fünf Jahre verlängert, sondern auch noch ausgeweitet werden sollen – ohne zuvor eine unabhängige, kritische Bilanzierung der Antiterrorgesetze von 2002 und ihrer Wirkungen vorzulegen. Jetzt sollen alle Geheimdienste noch mehr Befugnisse bekommen und zwar nicht allein zur Terrorabwehr, sondern auch schon zur Aufklärung verfassungsfeindlicher Bestrebungen, die Gewalt fördern könnten. Aus geheimdienstlichen Antiterror-Instrumenten mit Ausnahmecharakter werden so Regelbefugnisse des Alltags.

Der moderne Sicherheitsdiskurs dreht sich längst nicht mehr allein um Einzelmaßnahmen – die Rede ist von einer neuen Sicherheitsarchitektur. Es geht dabei im Kern um zwei Tabubrüche, die auf dem Hintergrund deutscher Geschichte von besonderer Bedeutung sind.

Erstens: die Militarisierung der »Inneren Sicherheit«, in deren Mittelpunkt der Einsatz der Bundeswehr als reguläre Sicherheitsreserve im Inland stehen soll – obwohl Polizei und Militär aus historischen Gründen sowie nach der Verfassung zu trennen sind. Zweitens: die verstärkte Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten – entgegen dem verfassungsmäßigen Trennungsgebot, einer Konsequenz aus den Erfahrungen mit der Gestapo der Nazizeit. Damit sollte eine unkontrollierbare staatliche Machtkonzentration der Sicherheitsapparate verhindert werden.

Gegenwärtig ist die gemeinsame »Antiterrordatei« von Polizei und Geheimdiensten das wohl brisanteste Vorhaben in dieser Hinsicht. Mit einer solchen Vernetzung von geheimdienstlichen Vorfeldinformationen und polizeilichen Verdachtsdaten wächst letztlich zusammen, was nicht zusammen gehört. Ohnehin erhöhen die Antiterrorgesetze die Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft beträchtlich; sie folgen einer Präventionsstrategie, die allmählich jedes Maß übersteigt. Die Unschuldsvermutung, eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, verliert ihre Macht begrenzende Funktion. Der Mensch mutiert zum potentiellen Sicherheitsrisiko, der Harmlosigkeit und Unschuld nachweisen muss. »Sicherheit« wird zum Supergrundrecht, das eigentliche Grundrechte der Bürger in den Schatten stellt.

Für eine offene, demokratische Gesellschaft und einen eben solchen Rechtsstaat ist diese Entwicklung fatal – eine Entwicklung, die letztlich kaum mehr Sicherheit schafft, stattdessen Freiheitsrechte unterhöhlt und damit ihrerseits Unsicherheit produziert. Wir brauchen einen anderen Sicherheitsbegriff, der endlich auch nachhaltig an den Ursachen und Bedingungen von Terror und Gewalt ansetzt, um dem internationalen Terrorismus, aber auch dem staatlichen Antiterror den Nährboden zu entziehen.

* Aus: Neues Deutschland, 11. September 2006


Der ganz normale Ausnahmezustand

Antiterrorismus nach dem 11. 9. 2001: auf dem Weg in den präventiv-autoritären Sicherheits- und Überwachungsstaat

Von Rolf Gössner *


Es ist das immer gleiche, absurde Ritual: Nach jedem Anschlag oder Anschlagsversuch spüren Politiker re­flexhaft vermeintliche Sicherheitslücken auf, machen sich an der Substanz der Bürgerrechte zu schaffen und verkaufen ihr zweifelhaftes Tun der verängstigten Bevölkerung als Sicherheitsgewinn. »Angst ist das Schmieröl der Staatstyrannei« – dies ist die Maxime der Terrorismusbekämpfung, wie sie seit 9/11 betrieben wird.

Angesichts der zumeist diffusen, hierzulande selten auch manifesten Bedrohungen scheinen allzu viele Menschen den oft unhaltbaren Sicherheitsversprechen Glauben zu schenken. Allzu viele sind bereit, dafür treuherzig eigene Freiheitsrechte zu opfern – nach dem stupiden Motto: »Ich hab’ ja nichts zu verbergen«. Tatsächlich befürworten nach den Kofferbombenfunden über achtzig Prozent der Bevölkerung eine weitere Ausdehnung der Videoüberwachungen, obwohl auch damit vollkommen unauffällige Täter nicht gestoppt, allenfalls später besser ermittelt werden könnten.

Schon seit längerem erleben wir hierzulande einen Niedergang des »Sicherheitsgefühls«, das demoskopisch ständig ge­messen wird. Doch Ängste und Realität sind zweierlei – denn Deutschland zählt zu den sichersten Ländern der Welt. Allzu oft tritt massenmediale Emotion an die Stelle von Vernunft, insbesondere nach spektakulären Kriminalfällen oder Gewaltakten. So wird der in weiten Teilen der Bevölkerung ohnehin vorhandene Hang zu einfachen »Lösungen« und autoritären Regelungen verstärkt, der mit immer neuen Gesetzesverschärfungen und Aufrüstungsmaßnahmen großzügig bedient wird – eine Spirale ohne Ende. Doch das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung läßt sich auch damit allenfalls kurzzeitig befriedigen, es ist tendenziell unersättlich.

Bedrohungsszenarien gab es zu allen Zeiten: Waren es früher Kommunisten und die Gefahr aus dem Osten, später Linksextremisten, Terroristen und ihre Sympathisanten, so galten seit den 90er Jahren vor allem »organisierte Kriminelle« und »kriminelle Ausländer« als Bedrohungspotentiale. Inzwischen, nach dem 11.9.2001, sind »islamistische Extremisten« und der »internationale Terrorismus« hinzugekommen. Solche Bedrohungsszenarien dienen zuverlässig als publikumswirksame Legitimationen für staatliche Nachrüstungsmaßnahmen – auch wenn die wenigsten zur Abwehr eines religiös aufgeladenen, selbstmörderischen Terrors überhaupt taugen. Von einer Bekämpfung der Ursachen und Bedingungen von Kriminalität, politisch motivierter Gewalt und Terror ist demgegenüber kaum die Rede.

Erhöhte Kontrolldichte

Der »War on Terror« nach dem 11.9.2001 hat nicht nur außenpolitisch eine Periode des permanenten Ausnahmezustands eingeläutet, sondern auch im Inneren der westlichen Demokratien. Im Jahr 2002, also vor knapp fünf Jahren, sind in der Bundesrepublik zwei umfangreiche »Antiterror«-Gesetzespa­kete in Kraft getreten mit zahlreichen Befugniserweiterungen für Polizei und Geheimdienste. So hat sich, eskalierend, ein Trend fortgesetzt, der schon längere Zeit zu beobachten ist: die Erhöhung der Kontrolldichte in Staat und Gesellschaft.

Damit schon an dieser Stelle keine Mißverständnisse auftreten: Selbstverständlich sind Regierung und Sicherheitsbehörden verpflichtet, die Mittäter und Hintermänner von Terroranschlägen zu ermitteln und mit geeigneten, aber auch mit angemessenen Maßnahmen für die Sicherheit der Bürger zu sorgen. Doch das damalige SPD/Grünen-Bundeskabinett hat weit mehr getan: Sie hat nach altbekanntem Muster überreagiert, obwohl es gerade in einer Situation der Unsicherheit und Angst Pflicht einer souveränen Regierung gewesen wäre, Realitätssinn und Augenmaß zu bewahren – statt dem hilflosen Schrei nach dem »starken Staat« mit weitgehend symbolischer Politik zu folgen, statt langgehegte Pläne aus den Schubladen der Macht zu kramen und mit neuen Etiketten zu bekleben.

Die »Antiterrorgesetze« von 2002 sind die umfangreichsten Sicherheitsgesetze, die in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich verabschiedet worden sind – ohne auch nur die Frage zu stellen, ob nicht die bereits geltenden Gesetze zur Bewältigung der Gefahren ausgereicht hätten. Schließlich gab es längst ein ausdifferenziertes System von »Antiterrorregelungen« mit zahlreichen Sondereingriffsbefugnissen für Polizei, Justiz und Geheimdienste. Längst gab es Raster- und Schleppnetzfahndung, verdachtsun­abhängige »Schleierfahndungen«, eine Fülle von Abhör- und Kontroll­möglichkeiten bis hin zum großen Lauschangriff mit elektronischen Wanzen in und aus Wohnungen, der 2004 für weitgehend verfassungswidrig erklärt wurde, wie übrigens auch die präventive Telekommunikationsüberwachung, das Luftsicherheitsgesetz und die Rasterfahndungen der letzten Jahre.

Kontra Unschuldsvermutung

Im Zuge dieser Art von Sicherheitspolitik waren bereits rechtsstaatliche Dämme geborsten und bürgerrechtliche Tabus gebrochen – insofern haben die aktuellen Gesetze kein vollkommen neues Kapitel eröffnet. Im Rahmen der modernen Präventionsstrategie sind Polizeiaufgaben und -befug­nisse ohnehin immer weiter in die Gesellschaft hinein vorverlagert worden, und zwar unabhängig von einem Straftatverdacht oder einer konkreten Gefahr. Wo jedoch die Prävention zur vorherrschenden Logik erhoben wird, da verkehren sich rasch die Beziehungen zwischen Bürger und Staat: Die Unschuldsvermutung, eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, verliert ihre machtbegrenzende Bedeutung; der Mensch mutiert zum potentiellen Sicherheits­risiko, der seine Harmlosigkeit und Unschuld nachweisen muß; die »Sicherheit« wird zum Supergrundrecht, das die Grundrechte der Bürger als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe in den Schatten zu stellen droht.

In diesem zur Maßlosigkeit neigenden Präventionskonzept werden immer mehr unverdächtige Menschen polizeipflichtig gemacht, d.h. polizeilichen Maßnahmen unterworfen, in Verdachtschöpfungsaktionen verstrickt und mit ihren persönlichen Daten erfaßt. Einige Beispiele für dieses Stochern im Nebel eines fast uferlosen Vorfelds: die verdachtsunabhängige »Schleierfahndung«, bei der alle Verkehrsteil­nehmer angehalten, kontrolliert, gegebenenfalls durchsucht werden dürfen – ohne jeglichen Ver­dacht oder Anlaß; oder die Rasterfahndung, jene automatisierte Datenabgleichsmethode, bei der Tausende unverdächtiger Personen auf elektronischem Wege in Verdacht geraten können; oder die ausufernde Videoüberwachung im öffentlichen Raum, in die alle Passanten einbezogen werden – ohne zu wissen, was mit den Videoaufzeich­nungen anschließend geschieht. Gerade diese Überwachungstechnik soll nach den Anschlagsversuchen der sogenannten Kofferbomber erneut stark ausgeweitet werden – obwohl mit der verstärkten Videografie eine flächendeckende Überwachungsstruktur zu wuchern beginnt, mit der allenfalls Sicherheit vorgetäuscht würde.

Die »Antiterrorgesetze« von 2002

Es existierte also längst eine hohe Kontrolldichte und eine große Fülle von Gefahrenabwehrregelungen – sozusagen für den ganz normalen Ausnahmezustand. Hier wurde mit den »Antiterrorgesetzen« noch draufgesattelt. Nur drei Beispiele:
  1. Schon bislang gehörten Migranten zu der am intensivsten überwachten Bevölkerungsgruppe. Nun wurden sie per Gesetz unter Generalverdacht gestellt, zu einem gesteigerten Sicherheitsrisiko erklärt, einem noch rigideren Überwachungssystem unterworfen und zu gläsernen Menschen gemacht. Dadurch wurden ihr Aufenthalt hierzulande noch weiter erschwert, gegebenenfalls ihre Auslieferung und Abschiebung erheblich erleichtert. Man muß es so klar und deutlich sagen: Migranten, besonders Muslime unter ihnen, gehören zu den eigentlichen Verlierern des staatlichen Antiterrorkampfes.
  2. Tausende Beschäftigte in »lebens- oder verteidigungswichtigen« Einrichtungen wurden und werden geheimdienstlichen Sicherheitsüberprüfungen unterzogen – im öffentlichen Dienst, aber auch in der Privatwirtschaft. Betroffen sind Einrichtungen und sicherheitsempfindliche Stellen, die – so heißt es im Gesetz wörtlich – »für das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar sind und deren Beeinträchtigung erhebliche Unruhe in großen Teilen der Bevölkerung entstehen lassen würde«. Gemeint sind Einrichtungen, die der Versorgung dienen, wie Energieunternehmen, Krankenhäuser, pharmazeutische Firmen, Bahn und Flughäfen, Post und Telekommunikationsunternehmen, aber auch die Bundesagentur für Arbeit sowie Rundfunk- und Fernsehanstalten. Menschen, die sich um relevante Stellen in solchen Betrieben bewerben oder sie bereits innehaben, werden geheimdienstlich überprüft– und nicht nur sie, sondern, je nach Sicherheitsstufe, auch ihre Lebenspartner und ihr soziales Umfeld.
  3. Die biometrische Erfassung der gesamten Bevölkerung mittels Ausweispapieren hat begonnen: Seit Ende 2005 gibt es den Reisepaß mit biometrischen Merkmalen – zunächst mit einem Digitalfoto, später kommen auch zwei digitale Fingerabdrücke hinzu, beides auf einem RFID-Funkchip gespeichert, der aus der Distanz auslesbar ist. Damit ließen sich Bewegungsbilder der Paßinhaber erstellen oder die Fingerabdrücke abgleichen mit solchen, die an irgendwelchen Tatorten gefunden werden; und die digitalisierten Gesichtsbilder könnten mit Videoauf­nahmen aus dem öffentlichen Raum abgeglichen werden, um verdächtige oder gesuchte Personen aus einer Menschenmenge herauszufiltern. Auf dem Mainzer Hauptbahnhof wird demnächst ein Pilotprojekt des Bundeskriminalamts zur Gesichtserkennung im öffentlichen Raum durchgeführt.
Zwar ist gegen Fälschungssicherheit aus Datenschutzsicht nichts einzuwenden – mal abgesehen davon, daß auch damit unauffällige »Schläfer« mit im Ausland ausgestellten Papieren bzw. mit echten Ausweisen nicht entdeckt worden wären. Aber die biometrische Erfassung aller Ausweisinhaber ist ein unverhältnismäßiger Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung und eine deutliche Mißtrauenserklärung an die Bevölkerung. Sie muß sich behandeln lassen wie bislang nur Tatverdächtige oder Kriminelle im Zuge erkennungsdienstlicher Maßnahmen.

Obwohl niemand Notwendigkeit und Effizienz dieser »Antiterrorgesetze« abschätzen kann, werden wir nach jedem Anschlag oder Anschlagsversuch mit neuen derartigen Vorschlägen konfrontiert. Die große Koalition hat kürzlich den Entwurf eines »Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes« vorgelegt, mit dem die befristeten »Antiterrorbefugnisse« nicht nur um weitere fünf Jahre verlängert, sondern auch noch ausgeweitet werden sollen – ohne zuvor eine unabhängige, kritische Bilanzierung der Gesetze von 2002 und ihrer Wirkungen vorzulegen.

Künftig sollen die Geheimdienste noch mehr Befugnisse bekommen und hochsensible Auskünfte bei Banken, Flug- und Telekommunikationsunternehmen nicht nur zur Terrorabwehr abfragen dürfen, sondern auch schon zur Aufklärung verfassungsfeindlicher Bestrebungen im Inland, sofern diese einen Gewaltbezug haben oder die Bereitschaft zu Gewalt erkennen lassen oder fördern könnten. Eigenhändige Gewaltanwendung ist nicht erforderlich – womöglich könnten schon Demonstrationsaufrufe gegen Neonazis oder Castortransporte genügen.

Mit dem ursprünglichen Zweck der Terrorabwehr hat diese Ausweitung nur noch wenig zu tun; aus ge­heimdienstlichen Antiterrorinstru­menten mit Ausnahmecharakter werden so Regelbefugnisse des Alltags zur erweiterten »Vorfelderfassung«.

Zentralisierung und Militarisierung

Der moderne Sicherheitsdiskurs dreht sich aber längst nicht mehr allein um Einzelmaßnahmen– die Rede ist von einer neuen Sicherheitsarchitektur, von einer Strukturänderung im Staatsgefüge. Im Kern geht es um zwei Tabubrüche, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund deutscher Geschichte von besonderer Bedeutung sind: erstens die verstärkte Vernetzung von Polizei und Geheimdiensten. In diesem Zusammenhang ist die »Antiterrorda­tei« gegenwärtig das brisanteste Vorhaben, die sowohl von der Polizei als auch von allen 19 Geheimdiensten bestückt und gemeinsam genutzt werden soll. In dieser zentralen »Präven­tivdatei«, die als erweiterte Indexdatei ausgestaltet wird, sollen Terrorismusverdächtige sowie deren Kontakt- und Begleitpersonen gespeichert werden. Damit können auch Unschuldige und Unbeteiligte in einen gravierenden Terrorverdacht geraten. Ohne wirksame Hürden können alle Polizeien des Bundes und der Länder im Onlineverfahren geheim­dienstliche Vorfeldinformationen einsehen und umgekehrt alle Geheimdienste poli­zeiliche Verdachtsdaten. Neben einem direkten Zugriff auf den Grunddatensatz zur Identifizierung des Verdächtigen ist nach Anfrage bei der speichernden Stelle ohne weiteres auch die Einsicht in den erwei­terten Datensatz möglich, der u.a. Telekommunikationskontakte, Bankverbindungen, Bildungsweg, Arbeitsstelle, Aufenthaltsorte, Reisebewegungen sowie Angaben zur Religionszugehörigkeit enthalten soll. Dieser zunächst verdeckte Dateibereich ist nicht durch Einzelfallprüfung gesichert – zumal er bei Gefahr im Verzug problemlos einsehbar ist.

Mit dieser Vernetzung könnte die Aufhebung des verfassungsmäßigen Gebots der Trennung von Polizei und Geheimdiensten verbunden sein– immerhin eine historisch bedeutsame Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo der Nazizeit, die sowohl geheimdienstlich als auch exekutiv-polizeilich tätig war. Mit dem »Trennungsgebot« sollte ursprünglich in Westdeutschland eine unkontrollierbare Machtkonzentration der Sicherheitsapparate verhindert werden. Auch wenn diese Trennung schon gehörig durchlöchert ist, so wird sie mit der geplanten Vernetzung auf dem elektronischen Datenwege praktisch ausgehebelt. Da wächst dann zusammen, was nicht zusammengehört.

Zum zweiten Tabubruch: Seit Jahren erleben wir nicht allein eine Militarisierung der Außenpolitik, sondern auch der »inneren Sicherheit«, in deren Mittelpunkt der Bundeswehreinsatz im Inland steht – obwohl hierzulande Polizei und Militär schon aus historischen Gründen sowie nach der Verfassung strikt zu trennen sind.

Doch die Bundesminister des Innern und der Verteidigung, beide CDU, wollen die Bundeswehr regulär als nationale Sicherheitsreserve im Inland einsetzen können, um damit die Polizei zu stärken – wobei es nicht etwa nur um Objektschutz gehen soll, sondern um den »Schutz der Bevölkerung vor terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen«. Zu diesem Zweck soll die verfassungsmäßige Trennung zwischen äußerer und innerer Sicherheit, zwischen Militär und Polizei, geschleift werden. Und es gibt bereits Pläne in den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« (2003) und im »Weißbuch« (Entwurf 2006) des Bundesverteidigungsministeriums, den »Verteidigungsfall« nach Artikel 87a Grundgesetz auch bei drohenden Terroranschlägen ausrufen zu können, die damit kriegerischen Angriffen von feindlichen Armeen im Sinne des Kriegsvölkerrechts gleichgesetzt würden.

An solche heimischen Militäreinsätze und die neue Rolle der Bundeswehr soll sich die Bevölkerung allmählich gewöhnen – und bereits die Fußball-WM 2006 diente dafür als willkommenes Exerzierfeld, um diesem Paradigmenwechsel jede Anstößigkeit zu nehmen. Soldaten sind aber keine Hilfspolizisten, sie sind nicht für zivile und polizeiliche Aufgaben ausgebildet, sondern zum Kriegführen. Und sie sind nicht dafür da, durch Stellenabbau produzierte personelle Defizite bei der Polizei auszugleichen. Im übrigen ist die Bundeswehr mit ihren problematischen Auslandseinsätzen selbst heillos überlastet und muß längst ihre eigenen Kasernen von privaten Sicherheitsdiensten schützen lassen.

Freiheitsrechte entwertet

Terror stärkt die Staatsgewalt und entwertet Freiheitsrechte – das hat sich seit dem 11.9. deutlich gezeigt. Etliche »Antiter­rormaßnahmen« und -pläne verstoßen gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die meisten der Befugniserweiterungen sind wenig geeignet zur Bekämpfung eines religiös aufgeladenen selbstmörderischen Terrors von weitgehend unauffälligen Tätern, die »aus dem Nichts kommen«. Nur in ganz wenigen Fällen haben die Sicherheitspolitiker plausibel dargelegt, daß ihre Gesetze zur Bekämpfung dieser Art von Terrorismus tauglich sein können. Dazu gehören insbesondere Maßnahmen zur Erhöhung der Flug- und Verkehrssicherheit.

Doch weder in einer hochtechnisierten Risikogesellschaft noch in einer liberalen und offenen Demokratie kann es einen absoluten Schutz vor Gefahren und Gewalt geben. Unhaltbare Sicherheitsversprechen und das Streben nach absoluter Sicherheit bergen vielmehr totalitäre Züge. Sie können zerstören, was sie zu schützen vorgeben: Freiheit und Demokratie. Der »Antiterrorkampf« hat sich als ein enormes Umge­staltungsprogramm herausgestellt – ein Programm der De­montage des Völkerrechts, der Menschen- und Bürgerrechte und des demokratischen Rechtsstaats. Erinnert sei an völkerrechtswidrige Angriffskriege, an systematische Folterungen in Abu Ghraib, Rechtlosstellung in Guantánamo; in der Bundesrepublik an eine unsägliche Folterdebatte und die Nutzung der verbotenen Früchte der Folter durch Sicherheitsorgane, des weiteren an die Relativierung der Menschenwürde und der Unschuldsvermutung. Jedenfalls werden demokratisch-rechtsstaat­liche Errungenschaften und zivilisatorische Grundwerte in ihrer Substanz in Frage gestellt, die mühsam und unter großen Opfern erkämpft worden sind. Liberalität und Bürgerrechte schwinden mehr und mehr, demokratische Lehren aus der deutschen Geschichte werden vollends entsorgt, und der autoritäre Präventions- und Sicherheitsstaat rückt in greifbare Nähe.

Da stellt sich dann doch die Frage, warum sich die Menschen in diesem Land – anders als etwa in Zeiten der Volkszählung in den 80er Jahren – das alles gefallen lassen, warum sich derart wenig Widerstand rührt. Am Ende könnte es zu spät sein: »In der Lebenswirklichkeit wird sich diese Umge­staltung des Staates ... erst dann spürbar bemerkbar machen, wenn die Machtinhaber von der Fülle der Freiheitsbeschränkungen einmal nachhaltig Gebrauch machen sollten ...«, so warnte der ehemalige Düsseldorfer Polizeipräsident, Hans Lisken, ein liberaler und demokratisch eingestellter Mann, schon frühzeitig vor den Spätfolgen dieser Art von »Sicherheitspolitik«: »An die Stelle des Freiheitsstaates wird der Kontrollstaat getreten sein. Das alles wird ›rechtsstaatlich‹ verlaufen, so daß die Mehrheit den fließenden Übergang vom Rechtsstaat zum Unrechtsstaat ... gar nicht bemerken wird«.

* Aus: junge Welt, 11. September 2006


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