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Der Irrweg der USA und die Suche nach einer gerechten Weltordnung

Der Konfliktforscher Prof. Dr. Dr. Hans J. Giessmann über die weltpolitischen Folgen des 11. September 2001 *


Prof. Dr. Dr. Hans J. Giessmann ist Direktor von Berghof Conflict Research (BCR), einer international renommierten wissenschaftlichen Einrichtung an der Schnittstelle von Konfliktforschung und Friedenspolitik, und Direktor im Europäischen Masterprogramm »Menschenrechte und Demokratisierung« in Venedig. Er gehört unter anderem dem Beirat für Zivile Krisenprävention beim Auswärtigen Amt in Berlin an. Seine wissenschaftliche Publikationsliste umfasst etwa 300 Titel in mehr als zehn Sprachen. Mit dem Konfliktforscher sprach für "Neues Deutschland" (ND) Olaf Standke.

ND: Die Anschläge am 11. September 2001 haben die Welt in eine Art Ausnahmezustand versetzt. Der ehemalige US-amerikanische Außenminister Henry Kissinger sagte danach, nichts werde mehr so sein, wie es war. Wo sehen Sie die gravierendsten Veränderungen der vergangenen Dekade?

Giessmann: Der 11. September 2001 war in der Tat ein Einschnitt. Er hat in vielen Bereichen zu einem Paradigmenwechsel geführt. Vor allem die Remilitarisierung von Sicherheitspolitik ist hier zu nennen. Die Weltordnungspolitik der USA nach dem Ende des Kalten Krieges ist in Erosion begriffen. Zugleich wird unter der Flagge der Menschenrechtswahrung zunehmend Druck ausgeübt auf Staaten und Gesellschaften, sich bestimmten Normen zu unterwerfen. Und das alles überdeckt die großen zivilisatorischen Probleme und verzögert ihre Lösung – die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd ist gewachsen, wir haben eine ungleiche Verteilung von Macht zu beklagen, in der Weltpolitik wie in der Weltwirtschaft.

Der damalige USA-Präsident Georg W. Bush hat auf den Trümmern des New Yorker World Trade Centers den Terroristen den Krieg erklärt und verkündet: »Wir werden sie alle kriegen, wir werden die Welt zum Sieg führen.« Osama bin Laden ist zehn Jahre später tot, aber der Terrorismus?

Das Problem ist überhaupt nicht gelöst. Die militärische Überlegenheit der USA und der NATO hat etwa in Afghanistan kaum zu einer Stabilisierung der Lage geführt. Es gibt sogar eine sichtbare Ernüchterung im Anti-Terrorkampf. Nicht nur der Terror, sondern auch die Gegenmaßnahmen haben neue Risiken hervorgerufen, wenn man beispielsweise an die Lage in Pakistan denkt.

Der Terrorismus à la Al Qaida ist auch durch die gewaltsame Unterdrückung von Freiheitsrechten entstanden. Könnte sich die Ausbreitung des »Arabischen Frühlings« so als wirksames Mittel erweisen, um ihn zu schwächen?

Noch ist nicht ganz klar, wohin diese Umbruchprozesse führen. Auch hier gibt es eine gewisse Ernüchterung. Auffällig ist, dass Al Qaida und fundamentalistische Strömungen in den Umbrüchen keine Rolle spielen. Es handelt sich nicht um »islamische Revolutionen«, sondern es geht auf den Straßen um mehr Mitbestimmung, um mehr Minderheiten- und Menschenrechte. Was auch ein Schlag ins Gesicht jener ist, die davon ausgehen, dass diese Gesellschaften nichts anderes hervorbringen können als Fundamentalismus und Terror. Kein Wunder, dass sich die Demokratiebewegungen diese Revolution nicht vom Westen nehmen oder deren Richtung diktieren lassen wollen. Sie wollen ihren eigenen Weg gehen, und der scheint Fundamentalisten bisher jedenfalls keine Räume zu bieten.

Vereinfacht formuliert: Die Welt gerechter zu machen, wäre der beste Schutz vor Terrorismus?

Terrorismus hat verschiedene Ursachen, wie der jüngste Anschlag in Norwegen zeigt. Für viele war sofort klar: eine islamistische Tat. Dabei war sie Ausdruck der Erosion unserer eigenen Gesellschaften, des Verfalls von Moral und Werten, des Mangels an demokratischer Mitbestimmung. Die Rechtstendenzen sind in vielen Staaten nicht zu übersehen. Wichtig ist, Sorgen ernst zu nehmen, die von schwächeren Akteuren oder von Minderheiten artikuliert werden. Die Integrität von Gesellschaften wird durch die wachsende Explosivkraft der sozialen und politischen Spannungen immer mehr auf den Prüfstand gestellt. Die Welt gerechter zu machen, ist also nicht nur eine ökonomische oder soziale, sondern auch eine hoch brisante politische und Friedensfrage.

Der weltweite Imageverlust durch den Anti-Terrorkrieg, die Interventionen in Afghanistan und Irak mit ihren verheerenden politischen und wirtschaftlichen Folgen – haben die USA ihre globale Führungsrolle verspielt?

Die USA haben an Reputation eingebüßt, sind aber nach wie vor der stärkste Akteur auf dem Spielfeld der Weltpolitik, auch wenn sie nach 2011 in der Tat einen fürchterlichen Irrweg eingeschlagen haben. Bei aller Kritik: Wir brauchen die USA dringend als verantwortungsbewusste, aktive und konstruktive Weltmacht, um die Bildung einer Weltordnung zu unterstützen, die den heutigen und künftigen globalen Herausforderungen gerecht wird.

Sie sehen also nicht die auch in den USA selbst befürchtete Machtverschiebung hin zu einem »Jahrhundert Asiens«.

Es gibt fraglos Indizien, die für eine gewachsene Bedeutung Asiens sprechen. Da ist die wirtschaftliche Dynamik, die Attraktivität des chinesischen Marktes im Besonderen, da ist aber auch ein auf »asiatische Werte« und »Identität« gründendes und zunehmendes politisches Selbstbewusstsein. Dennoch, weltpolitisch ist es zu früh, ein asiatisch geprägtes Jahrhundert zu prognostizieren.

Aber es gibt interessante neue Konstellationen, wenn etwa die größte verbliebene kommunistische Macht besorgt darüber ist, dass die größte kapitalistische Macht chinesische Anleihen entwerten könnte, und die USA auffordert, doch eine bessere Wirtschaftspolitik zu machen. Das zeigt, wie groß die Verflechtungen und gegenseitigen Abhängigkeiten der Regionen sind und weiter wachsen, so dass man vielleicht besser von einem globalisierten Jahrhundert sprechen kann, in dem es viele Verlierer geben kann, wenn die Akteure auf der Weltbühne nicht kooperieren.

Brauchen wir da nicht vor allem eine stärkere Rolle der Vereinten Nationen?

Ja. Die Wegzeichen dafür sind schon seit den frühen 1990er Jahren gesteckt durch das von den Vereinten Nationen selbst entwickelte Konzept der Human Security. »Menschliche Sicherheit« wird künftig nicht dadurch bestimmt werden, wie sicher Staaten im Verhältnis untereinander sind, sondern dadurch, wie Staaten oder Organisationen in der Lage sind, die ihnen zufallende Verantwortung bei der Sicherstellung der Lebensgrundlagen der Menschheit wahrzunehmen.

Dazu bedarf es natürlich der koordinierenden Kraft einer starken UNO. Nehmen Sie nur den Klimaschutz, der ohne supranationale Kooperation nicht mehr möglich ist. Dazu bedarf es aber auch funktionsfähiger Staaten. Die UNO schätzt, dass inzwischen über ein Drittel ihrer Mitglieder fragil oder in Teilen nicht mehr funktionsfähig ist. Der Zerfall von Staaten ist eines der größten Risiken für eine intakte Weltordnung im 21. Jahrhundert.

Sind dafür nicht auch dringend Veränderungen in der UNO selbst notwendig, vor allem in ihrem wichtigsten Beschlussgremium, dem Weltsicherheitsrat?

Der gegenwärtige Sicherheitsrat ist ein Machtkartell und die Reformdiskussion leider sehr zäh, gerade auch, weil die ständigen Ratsmitglieder von ihren Privilegien nicht lassen wollen. Die Vereinten Nationen könnten durchaus eine Weltregierung im Sinne der UN-Charta bilden. Voraussetzung aber ist der politische Wille der Staatenlenker, vor allem in den stärksten Mitgliedstaaten. Und der fehlt.

Dafür wird die UNO gern missbraucht, um eigene Interessen durchzusetzen, wie im Fall Libyen, als die NATO gleichsam zum militärischen Arm der Vereinten Nationen mit einem überdehnbaren Mandat erklärt wurde.

Das Problem ist, dass sich das Militärbündnis in den vergangenen Jahren kaum als fähig erwiesen hat, eine verantwortliche Rolle als Mandatsnehmer der UNO auszufüllen. Es ist fatal, wenn die NATO als Erfüllungsorgan für die Interessen einzelner Mitgliedstaaten agiert, die dann die Vereinten Nationen zwingen, den NATO-Beschluss abzusegnen. Das ist Teil des machtpolitischen Defekts, mit dem die UNO zu kämpfen hat. Der Erfolg der NATO wiederum ist dürftig, gemessen an ihren Ressourcen und ihren Ansprüchen gegenüber der UNO.

Angesichts der sicherheitspolitischen Konfliktlinien seit dem 11. September 2001 wurde die Frage der atomaren Abrüstung trotz aller verkündeten Visionen in den Hintergrund gedrängt. Ist nicht auch das ein gefährliches Defizit?

Ohne Zweifel ist das eine fatale Entwicklung. Zum einen wird der nukleare Rüstungswettlauf durch neue Technologien in neue Dimensionen vorangetrieben. Und zum anderen sorgen die kernwaffenbesitzenden Staaten mit ihrem Festhalten an den Atomarsenalen dafür, dass auch andere wie Nordkorea oder Iran, die sich atomar bedroht fühlen, nach diesen Waffen streben. Die Folge ist eine Spirale ohne Ende.

Wenn die Abschaffung der Nuklearwaffen nicht auf der Tagesordnung bleibt, wird es immer Weiterentwicklungen und Weiterverbreitung geben, mit allen bekannten destabilisierenden Wirkungen. Hier ist zwingend Handeln geboten, zumal sich die Kernwaffenmächte im Nichtverbreitungsvertrag explizit zur atomaren Abrüstung verpflichtet haben.

Ihr Institut Berghof Conflict Research erforscht und entwickelt unter anderem innovative Ansätze für die Konfliktbearbeitung. Die scheinen heute nötiger denn je.

Konflikte gehören zum Leben und zur Entwicklung. Sie gewaltsam auszutragen, jedoch nicht. Konflikte so zu beeinflussen, dass sie konstruktive Effekte entfalten, dass sie nötigenfalls auch ausgehalten werden, unter allen Umständen jedoch kooperativ und nicht konfrontativ verlaufen, ist nicht nur eine intellektuelle Herausforderung, sondern eine Alternative zu der vielfach zu beobachtenden »Haudrauf«- oder »Scheuklappen«-Politik. Tiefer liegende Ursachen von Spannungen zu erkennen und zu beseitigen, die streitenden Parteien über Dialog und Mediation nachhaltig zu einem gewaltfreien Miteinander zu bringen, halten wir für ertragreicher als »Lösungsversuche« mit Gewalt und auf Kosten anderer.

* Aus: Neues Deutschland, 10. September 2011


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