Johan Galtung: "Noch lange kein Ende des Terrors"
Der Nestor der internationalen Friedensforschung zum Afghanistan-Krieg
Vor wenigen Tagen äußerte sich Johan Galtung, der international wohl bekannteste Friedensforscher, zum scheinbaren Sieg der USA über die Taliban in Afghanistan. Da die Militärstrategie der USA bisher offenbar aufgegangen ist, verstummen die kritischen Kommentare zum Krieg und machen einer leisen Bewunderung für das Erreichte Platz. Galtung schwimmt weiter gegen den Strom der veröffentlichten Meinung und warnt vor unliebsamen Überraschungen. Wir dokumentieren das Interview, das in der Sonntagszeitung erschien, in gekürzter Form. Das Interview führte Remo Leupin.
SonntagsZeitung: ... Der Erfolg der US-Intervention in Afghanistan scheint den
Militärstrategen Recht zu geben.
Johan Galtung: Das würde ich so nicht sagen. Im Moment ist die
Situation in Afghanistan chaotisch. Die Taliban sind noch nicht
besiegt, und selbst wenn es gelänge, Bin Laden und seine Leute
zu beseitigen, bedeutet das noch lange nicht das Ende des
Terrors. Vielleicht ist das Modell eines Teufels, der in einer Höhle
in Afghanistan sitzt und als Drahtzieher des Terrorismus agiert,
völlig falsch. Es ist gut möglich, dass es eine Menge autonomer
terroristischer Gruppen gibt, die völlig unabhängig von Bin Laden
zuschlagen können. Der Krieg in Afghanistan führt nicht zum Ziel.
SonntagsZeitung: Eine Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung
und die Regierungen vieler westlicher Staaten stellen sich aber
hinter das Konzept des «gerechten Kriegs».
Galtung: Auch der Taliban-Führer Mullah Omar funktioniert nach
diesem Prinzip und unterscheidet zwischen «gutem» und «bösem»
Terror. Solche Auffassungen führen aber nur zu noch mehr Hass
und Terrorismus. Laut einer Gallup-Umfrage, die Mitte September
in 33 Ländern durchgeführt wurde, waren durchschnittlich 80
Prozent der Befragten für eine Auslieferung Osama Bin Ladens und
ein Gerichtsverfahren gegen den Terroristenführer. Ein Krieg gegen
Afghanistan wurde nur in den USA, in Israel und Indien von einer
Mehrheit der Befragten gutgeheissen. Doch Gewalt ist die falsche
Antwort auf Terrorismus.
SonntagsZeitung: ... Sind den Pazifisten die Argumente ausgegangen?
Galtung: Nein. Es gibt eine sehr aktive Friedensbewegung im
islamischen Raum. Diese Leute sind im Westen kaum bekannt.
Sie entstammen der oberen Mittelschicht und kritisieren die Gewalt
in der islamischen Welt. Wenn es gelingt, die islamischen und die
westlichen Pazifisten zusammenzuführen, entsteht eine
Riesenbewegung. Ein ähnliches Phänomen zeigte sich während
des Kalten Kriegs. Die westlichen Pazifisten richteten sich gegen
das Wettrüsten, und die Friedensbewegung in den sozialistischen
Staaten kämpfte für Demokratie. 1983 kamen die beiden
Bewegungen zusammen - und 1989 waren der Kalte Krieg und der
Kommunismus überwunden.
SonntagsZeitung: Wer sind denn die Wortführer der islamischen
Friedensbewegung?
Galtung: Sehr einflussreich ist etwa die malaysische Organisation
International for the Just World von Chandra Muzaffar. Diese Leute
wenden sich gegen die dogmatische wahabitische Richtung des
Islams, der unter anderem die saudiarabische Regierung, die
Taliban und Bin Ladens Gefolgschaft angehören.
SonntagsZeitung: Im Westen werden die islamischen Pazifisten
kaum wahrgenommen. Warum?
Galtung: Im Westen wird vielfach zu wenig differenziert und der
Islam als Ganzes dämonisiert. In einem gewissen Sinn handelt es
sich bei diesem Konflikt um eine Auseinandersetzung zwischen
zwei Fundamentalismen: dem islamischen und dem christlichen.
US-Präsident George W. Bush etwa hat gesagt, Jesus sei der
bedeutendste politische Philosoph der Weltgeschichte, und
Aussenminister Colin Powell vertritt die Auffassung, Gott habe
Amerika eingesetzt, um die Welt zu führen. Eine fatale
dogmatische Haltung.
SonntagsZeitung: Die Friedensbewegung feierte ihren Höhepunkt zur Zeit des
Kalten Kriegs. Seit dem Fall des Kommunismus verliert die Bewegung
Mitglieder. ... Wie
erklären Sie sich diese Erosion?
Galtung: Die Pazifisten können Erfolge aufweisen, die noch immer nachwirken.
Sie haben sich erfolgreich gegen den Vietnamkrieg und das atomare Wettrüsten
eingesetzt. Diese Leute demonstrieren heute zwar nicht mehr auf den Strassen, aber sie sind noch immer da. Sie wirken in regierungsunabhängigen Organisationen. Sie arbeiten in Afghanistan, und sie engagierten sich im Irak und in Ex-Jugoslawien. Zudem wächst jetzt eine junge Generation von Pazifisten heran. In vielen westlichen Ländern wird gegen den Krieg in Afghanistan demonstriert. ...
SonntagsZeitung: Zeichnen Sie jetzt nicht ein etwas geschöntes Bild? Die
deutschen Grünen zum Beispiel sind in der Frage der Militäreinsätze
gespalten. ...
Galtung: Die Grünen waren nie eine Pazifisten-Partei. Ich war mit Petra
Kelly, die massgeblich an der Parteigründung beteiligt war, sehr eng
befreundet. Kelly sagte immer, dass es bei den Grünen zwei Gruppierungen
gibt: die Pazifisten und die Nationalisten. Der deutsche Aussenminister Joschka
Fischer zum Beispiel ist ein Nationalist. Er hat die pazifistische Strömung
der Partei benutzt, um Stimmen zu bekommen. Fischers Ziel ist keine gewaltfreie Gesellschaft, er macht Politik für ein starkes Deutschland in der EU
und eine starke EU in der Welt. ...
SonntagsZeitung: Kritiker werfen der Friedensbewegung Naivität vor. Die
herkömmlichen Konfliktlösungsmodelle seien für den Kampf gegen den
Terrorismus nicht geeignet.
Galtung: Ich halte es umgekehrt für naiv, mit Gewalt Änderungen herbeiführen
zu wollen. Der Terrorismus kann nur mit Dialog und dem Willen zur Versöhnung
bekämpft werden. Die Amerikaner haben es verpasst, mit den Taliban
zu verhandeln. Letztere waren sogar bereit, Osama Bin Laden an einen andern
islamischen Staat auszuliefern. Die USA haben das ausgeschlagen, einen Krieg
begonnen und damit noch mehr Hass auf sich gezogen. Der Westen muss
von seiner gewalttätigen Politik abkehren.
SonntagsZeitung: Eine etwas einfache Erklärung. Wir haben es hier immerhin
mit Leuten zu tun, die Flugzeuge in Hochhäuser rasen lassen.
Galtung: Es gibt bestimmt unbelehrbare, dogmatische Muslime, die unbedingt
Krieg wollen. Doch die Bombardements auf Afghanistan verschärfen das Problem
nur. Jetzt profitieren die extremistischen Muslime von einer Welle des Hasses gegen die USA. Nochmals: Dialogbereitschaft ist der Schlüssel zur Lösung des Problems. ...
Ich war im Februar als Vermittler in Afghanistan und bin auf
äusserst gesprächsbereite Partner gestossen. Es gibt moderate Wortführer in
der Nordallianz und unter den Taliban, die sich für eine Koalitionsregierung einsetzen würden. Man muss sie nur aufsuchen und ihnen eine Stimme geben.
SonntagsZeitung: Und wie soll das konkret gehen?
Galtung: Warum schicken wir nicht deutsche Friedensbotschafter nach
Washington und zu den Taliban? Die Deutschen hatten im Zweiten Weltkrieg 18
Länder besetzt, und sie wollten zwei Volksgruppen ausrotten: die Juden und die Roma. Deutschland hat sich mit der Welt versöhnt und geniesst einen hervorragenden Ruf. Warum nutzen wir nicht die Erfahrungen der Deutschen? Es muss jetzt auf beiden Seiten vermittelt werden: Die USA müssen ihre Politik ändern, und in der islamischen Welt müssen die harten Fronten aufgeweicht werden.
* Der Norweger Johan Galtung, 71, ist einer der wichtigsten Begründer der
Friedensforschung. 1959 baute er das Internationale
Friedensforschungsinstitut in Oslo auf. Galtung ist Direktor des
Friedensnetzwerks Transcend und lehrt an diversen Universitäten. 1987 erhielt er den alternativen
Friedensnobelpreis.
Aus: Sonntagszeitung, 18. November 2001
Zurück zur "Terrorismus-Seite"
Zur Seite "Friedenswissenschaft"
Zur Afghanistan-Seite
Zurück zur Homepage