Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die Tötung Osama bin Ladens - im Einklang mit dem Völkerrecht?

Von Andreas Zumach

Von Andreas Zumach "Wir werden Osama bin Laden kriegen, tot oder lebendig!" Das erklärte US-Präsident George Bush am 17. September 2001, sechs Tage nach den Terroranschlägen von New York und Washington. Jetzt ist der al-Kaida-Chef tot und der weltweite Jubel ist groß. Doch die Frage,ob seine Tötung im Einklang mit dem Völkerrecht erfolgte, ist noch ungeklärt. Wurde der al-Kaida-Chef im Verlauf eines Feuergefechts erschossen, in dem er selber eine Waffe gegen die Angreifer einsetzte? Oder hat die amerikanische Spezialeinheit bin Laden erst nach Ende eines Feuergefechts und unter Verstoß gegen das Völkerrecht durch einen Kopfschuß hingerichtet, anstatt ihn gefangen zu nehmen und vor ein Gericht in den USA zu bringen? Präsident Barack Obama ließ in seiner Rede an die Nation beide Interpretationen zu "Nach einem Feuergefecht töteten sie Osama bin Laden und bemächtigten sich seiner Leiche", erklärte der Präsident wörtlich ("After a firefight, they killed Osama bin Laden and took custody of his body.)" Laut einem hochrangige Mitglied der Obama-Administration "leistete bin Laden Widerstand und wurde in den Kopf geschossen".

Es wäre gut, wenn sich die Obama-Administration möglichst bald auf eine einheitliche Sprachregelung einigt.

Die Frage nach der Völkerrechtskonformität der Tötung bin Ladens stellt sich aber nicht nur wegen aktueller Ungereimtheiten, sondern auch angesichts der fast zehnjährigen Vorgeschichte. Denn seit Beginn des "Krieges gegen den Terrorismus", den Präsident Bush nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ausrief, haben seine Regierung und die von Nachfolger Obama in vielfacher und zum Teil präzedenzloser Weise gegen die Genfer Konventionen und andere Bestimmungen des humanitären Völkerrechts (oder: Kriegsvölkerrechts) verstoßen. Die Bush-Administration rief den nationalen und globalen Notstand aus und stufte mutmaßliche Terroristen und ihre Verbündeten als "feindliche und gesetzlose Kämpfer" ein, für die das internationale Recht ebenso wie die amerikanische Verfassung keine Gültigkeit hätten. Mit dieser völkerrechtswidrigen Klassifizierung ihrer Feinde im "Krieg gegen den Terrorismus" rechtfertigten die Regierungen Bush und Obama die Entführung und Verschleppung hunderter Personen . Weit über 2.000 Menschen wurden seit Herbst 2001 in Guantanamo und anderen Gefangenenlagern jahrelang inhaftiert. Ohne Prozeß und anwaltlichen Beistand. Auch dem "Internationalen Komitte vom Roten Kreuz" versagte Washington lange Zeit den Zugang zu diesen Hafteinrichtungen . Die Anwendung von Folter gegen zahlreiche dieser Häftlinge, um Geständnisse zu erzwingen, galt der Bush-Administration als unverzichtbares Mittel im "Krieg gegen den Terrorismus". Ex-Präsident Bush verteidigt die von seiner Regierung angeordneten Folterpraktiken bis heute als legitim.

Ob der in den letzten anderthalb Jahren von der Obama-Administration massiv verstärkte Einsatz von Drohnen zur gezielten Tötung von mutmaßlichen al-Kaida-Kämpfern ein legitimes Mittel in einem bewaffneten Konflikt ist, ist unter Völkerrechtlern umstritten. Konsens besteht aber,daß die Erschießung von feindlichen Kämpfern,die sich ergeben haben, in jedem Fall ein eindeutiger schwerer Verstoß gegen die Genfer Konventionen ist. Danach darf selbst ein "Kombattant" nur angegriffen werden, wenn er sich etwa bewaffnet als solcher zu erkennen gibt und "unmittelbar" an Feindseligkeiten teilnimmt. Die "Hinrichtung" eines mutmaßlichen Verbrechers ohne Gerichtsverfahren untersagt auch der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966.

Die bisherigen Völkerechtsverstöße der USA im bald zehnjährigen "Krieg gegen den Terrorismus" sind allerdings kein Beweis dafür, daß auch bei der Tötung von Osama bin Laden völkerrechtswidrig verfahren wurde. Doch es läge im Interesse der USA, alle Fragen zu den genaueren Umständen dieser Tötung so rasch wie möglich zu beantworten, um Verschwörungstheorien und Legendenbildungen zu verhindern. Laut Berichten aus Washington wurde die gesamte rund 40-minütige Kommando-Aktion der Spezialeinheit gefilmt und live ins Weiße Haus übertragen. Dieser Film sollte veröffentlicht werden. Zudem ist zu erklären, warum keine forensische Untersuchung der Leiche bin Ladens stattfand. Erforderten die muslimischen Bestattungsgebräuche tatsächlich , daß die Leiche so schnell und unwiederbringbar im Meer beseitigt wurde? Schließlich sollte die Obama-Administration dafür sorgen, daß keinerlei Zweifel an der Identität des Getöteten bleiben und zu diesem Zweck die Ergebnisse des DNA-Tests veröffentlichen.

Es ist gut möglich, daß all diese Fragen niemals restlos und befriedigend beantwortet werden. Das war in der Vergangenheit fast in allen Gewaltkonflikten der Fall , in denen die Frage der Verletzung oder Einhaltung des Kriegsvölkerrechts umstritten war. Das Grunddilemma: diejenigen, die mutmaßlich einen Verstoß begangen haben, verfügen in der Regel auch über die Informations-und Interpretationshohheit. Es gibt im aktuellen Fall der Tötung bin Ladens keine Zeugen außer den Mitgliedern der amerikanischen Spezialeinheit sowie möglicherweise einigen der von ihr festgenommen Personen. Dasselbe gilt etwa für den Fall der mutmaßlichen Tötung eines Sohnes und dreier Enkel des libyschen Diktators Gaddafi durch Bomben der NATO Ende letzter Woche. Ob sich, wie die NATO behauptet, in dem zerstörten Gebäude in Tripolis eine Kommandozentrale befand und damit ein "legitimes" militärisches Ziel,wird kaum jemand eindeutig widerlegen können. Seien es die Kriege im Irak, in Ex-Jugoslawien, in Afghanistan, Tschetschenien , im Gazastreifen oder im Gazastreifen: Nur bei ganz wenigen der Gewaltkonflikte seit Ende des Kalten Krieges konnten mutmaßliche Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht -ob durch den Beschuß ziviler Ziele, durch die Ermordung von Gefangenen oder durch den Mißbrauch von Zivilisten zum Schutz militärischer Objekte - eindeutig nachgewiesen werden. Und in noch weniger Fällen wurden diese Verstöße auch strafrechtlich geahndet. Das Kriegsvölkerrecht ist der Kriegspraxis nicht gewachsen.

Lesen Sie auch:

"Heute Nacht haben die Kräfte des Friedens einen Erfolg errungen"
Angela Merkel zum Tod von bin Laden. Weitere Statements und Erklärungen aus der Friedensbewegung und von der Neuen Richtervereinigung (3. Mai 2011)




Zurück zur "Terrorismus"-Seite

Zur Völkerrechts-Seite

Zurück zur Homepage