Osama bin Laden: Vom Freiheitskämpfer zum Top-Terroristen
Über die Karriere eines Zauberlehrlings
In der Wochenzeitung "Freitag" erschien eine sehr instruktive Kurzbiografie über den vermutlichen Top-Terroristen Osama bin Laden. Der Titel des Beitrags: "Der Zauberlehrling. Vom Freiheitskämpfer zum vermeintlichen Top-Terroristen - eine Karriere in Washingtons Great Game um Öl und Macht". Autor: Armin Wertz. Wir dokumentieren den Beitrag leicht gekürzt.
... Osama bin Laden wird als tapfer, reich,
gebildet, fromm und höflich gerühmt. Bis 1998 jedoch wusste kaum
jemand von dem Guerillakrieger in der felsig zerklüfteten Öde der
afghanischen Bergwelt. Doch in jenem Jahr katapultierten ihn zwei
Anschläge auf die amerikanischen Botschaften in Kenia sowie Tansania,
denen 224 Menschen zum Opfer fielen, weltweit ins Bewusstsein der
Öffentlichkeit.
Damit machte er sich praktisch über Nacht für alle terroristischen
Scheußlichkeiten schuldig, die der Supermacht in den Jahren zuvor
angetan worden waren. Doch niemand weiß, wie viel Verantwortung für
diverse Gewalttaten bin Laden tatsächlich zuzuschreiben ist. Er selbst
rühmt die Attentate auf US-Einrichtungen zwar als gute moslemische
Taten, bestreitet aber stereotyp jede Beteiligung. Die amerikanischen
Anschuldigungen seien ungerechtfertigt, es sei denn, sie bezögen sich
darauf, dass er sie mit einer Fetwa angestiftet habe. Das sei richtig, dazu
stehe er.
Washingtons Freiheitskämpfer
Folgt man den Spezialisten von CIA und FBI, dann kontrolliert bin Laden
ein weltweites Netz terroristischer Organisationen, besitzt mehr als 300
Millionen Dollar, befehligt in über 60 Ländern zwischen 3.000 und 5.000
Terroristen, unterhält in 80 Staaten - einschließlich den USA - geheime
Unterschlüpfe, verfügt über biologische und chemische Waffen und hat
darüber hinaus versucht, in den Besitz einer Nuklearbombe zu gelangen.
Andere sehen in ihm weniger einen Kommandeur von Terroristen als eine
Inspiration für sie - unerreichbar für seine ungläubigen Feinde in der Weite
des Hindukusch. Eine Legende, ein Mythos.
1957 wurde Osama bin Mohammad bin Laden in Riad als 17. von
insgesamt 57 Kindern geboren, die sein Vater mit seinen zehn Frauen
zeugte. Sein Vater, ein jemenitischer Baumagnat und enger Freund des
ehemaligen saudischen Königs Faisal, war mit den Renovierungs- und
Erweiterungsaufträgen für die heiligen Moscheen von Mekka und Medina,
mit Bauaufträgen für Schulen, Hospitäler und Straßen märchenhaft reich
geworden. Nach dem Schulbesuch in Jiddah studierte Osama
Wirtschaftswissenschaften und Betriebsmanagement an Jiddahs König
Abdul Aziz Universität.
Schon 1973 begann er, mit islamischen Gruppen zusammenzuarbeiten.
Anfang der achtziger Jahre kämpfte er an der Seite jemenitischer
Mujaheddin im Südjemen gegen die Sozialistische Partei. Dann ging er
nach Afghanistan. Sein Vater finanzierte den moslemischen Widerstand
gegen die »gottlosen Russen« und unterstützte seinen Sohn, der
Ingenieure und schweres Gerät ins Land brachte, um Straßen für die
Mujaheddin, Lager und Unterkünfte für die Kriegsflüchtlinge zu bauen.
US-Präsident Ronald Reagan, der in antikommunistischen Bewegungen
gleich welcher Couleur stets Freiheitskämpfer sah, die Amerikas
Unterstützung verdienten, erhöhte den Einsatz, um das sowjetische
»Reich des Bösen« zu Fall zu bringen. Sein CIA-Chef William Casey ließ
sich vom Kongress gleich ein ganzes Paketes von Maßnahmen
genehmigen. Die Mujaheddin sollten mit Stinger-Luftabwehrraketen
ausgerüstet und von US-Militärberatern ausgebildet werden. Außerdem
sagte Casey seinen pakistanischen Kollegen vom militärischen
Geheimdienst, ISI, CIA-Unterstützung für Islamabads Lieblingsprojekt zu,
weltweit radikale Moslems für den afghanischen Widerstand anzuwerben.
Pakistanische und amerikanische Offiziere bildeten die Neuankömmlinge
aus, die USA lieferten die Waffen und Saudi Arabien das Geld.
Pakistan hoffte, dass sein Engagement die islamische Welt vereinen und
Islamabad zum Führer aller Moslems machen würde. Die Saudis sahen die
Möglichkeit, einerseits den Wahhabismus, ihre
fundamentalistisch-puritanisch Form des Islam, weiter zu verbreiten und
andererseits die eigenen unzufriedenen Radikalen loszuwerden. Und die
USA wollten der internationalen Öffentlichkeit zeigen, dass die gesamte
islamische Welt an der Seite ihrer amerikanischen Wohltäter den
russischen Aggressor bekämpfte.
Waffen für sechs Milliarden Dollar und nicht weniger als 100.000 Freiwillige
- Moro-Rebellen von den Philippinen, Usbeken aus Zentralasien, Araber
aus Algerien, Ägypten, Saudi-Arabien oder Kuwait und Uighuren aus
Chinas Xinjiang-Provinz - strömten nach Afghanistan. ...
»Die Lager«, so schrieb der langjährige Korrespondent der Far Eastern
Economic Review in der Region, Ahmed Rashid, »wurden praktisch
Universitäten des zukünftigen islamischen Radikalismus.« Zehntausende
pilgerten in die Koranschulen entlang der afghanisch-pakistanischen
Grenze. Sie sollten in den neunziger Jahren die Reihen der Taliban füllen.
Osama bin Laden baute bei Khost tief in den Bergen des Hindukusch
einen von der CIA finanzierten Tunnelkomplex mit Militärdepots,
Ausbildungszentren und medizinischen Einrichtungen - jene Anlage, die
US-Kriegsschiffe nach den Anschlägen von Kenia und Daressalam mit
Raketen beschossen und die jetzt wieder im Visier sind. Danach schlug er
einen Mujaheddin-Pfad durch die Felsen bis 30 Kilometer vor Kabul und
lieferte den russischen Truppen heftige Gefechte.
Persona non grata
Nach dem sowjetischen Abzug aus Afghanistan kehrte bin Laden,
enttäuscht über die Fraktionskämpfe der Mujaheddin, in seine Heimat
zurück. Der Einmarsch irakischer Truppen in Kuwait schließlich leitete den
endgültigen Bruch nicht nur mit dem Westen, sondern auch mit
Saudi-Arabien ein. Begeistert von einer neuen Aufgabe drängte er das
saudische Königshaus, eine Art Volksverteidigung zu organisieren und bot
an, eine Armee von Kriegsveteranen aufzubauen, um Iraks Saddam
Hussein zu bekämpfen. Doch wenig erbaut von der Idee einer solchen
Volksarmee lud der saudische Feudalherrscher statt dessen die
Amerikaner ein, sein Land zu verteidigen.
Zutiefst schockiert von dieser Entscheidung äußerte Osama öffentlich
harsche Kritik an der königlichen Familie und bedrängte die saudische
Ulama, Fetwas gegen die im Lande stationierten Ungläubigen zu erlassen.
Als auch nach dem irakischen Abzug aus Kuwait 20.000 amerikanische
und britische Soldaten in Saudi-Arabien blieben, kam es zum Eklat.
Während einer heftigen Kontroverse beschimpfte bin Laden den
saudischen Innenminister Prinz Nayef als »Verräter«, der ihn prompt und
im Einvernehmen mit König Fahd zur persona non grata erklärte.
1992 verließ der Geächtete erneut seine Heimat, um an der islamischen
Revolution im Sudan teilzunehmen. Auf amerikanischen und saudischen
Druck hin legten ihm die Sudanesen zwei Jahre später nahe, ihr Land zu
verlassen. So kehrte er im Frühjahr 1996 mit drei seiner vier Frauen und 13
Kindern nach Afghanistan zurück. Am 23. August veröffentlichte er seine
erste Erklärung eines Heiligen Krieges gegen die Amerikaner: »Die
Amerikaner führen Krieg gegen den Islam und gegen alle Moslems überall
auf der Welt. Jeder Amerikaner ist unser Ziel, weil er der amerikanischen
Kriegsmaschine gegen die islamische Nation hilft.«
Zurück in den Bergen bei Khost baute er seinen alten Stützpunkt Al´Qaeda
aus. Seine Arab-Afghanen kämpften nun an der Seite der Taliban und
metzelten in einigen der blutigsten Massaker des gesamten
Afghanistan-Konflikts Tausende schiitischer Hazaras nieder. Sie suchten
ihren wahhabistischen Islam sogar im zwischen Indien und Pakistan
umstrittenen Kashmir zu verbreiten und unterstützten gemeinsam mit
eingesickerten pakistanischen sowie afghanischen Taliban den Kampf der
islamischen Kashmir-Separatisten gegen Indien. ...
Kaspische Ölmafia
Erst der Wettlauf internationaler Ölgesellschaften um die bislang
unerschlossenen Öl- und Gasreserven in der kaspischen Region weckte
erneut Washingtons Interesse an Zentralasien. Zwischen 1994 und 1998
unterzeichneten nicht weniger als 24 Ölgesellschaften 13 Verträge in
Kasachstan, Turkmenistan, Aserbeidschan oder Usbekistan. Die
verbissenen Kämpfe amerikanischer, britischer, italienischer und sogar
argentinischer Konsortien in den Vorzimmern und Büros der Präsidenten
und Diktatoren der neuen, unabhängigen Republiken um
Bohrgenehmigungen und Verträge zum Bau lukrativer Pipelines sowie die
divergierenden Interessen Amerikas, Russlands, Chinas und nicht zuletzt
der Türkei entfachten ein neues »Great Game« - vergleichbar jenem »Great
Game« des 19. Jahrhunderts, als Russland und Großbritannien um die
Kontrolle und Vorherrschaft in Zentralasien, besonders in Afghanistan,
rangen. Die Entwicklung zweier antagonistischer Blöcke war
unübersehbar: auf der einen Seite Usbekistan, Turkmenistan,
Aserbeidschan und die USA mit ihren Verbündeten Saudi-Arabien, Israel,
Türkei sowie Pakistan; auf der anderen Seite Kasachstan, Kirgisien,
Tadschikistan sowie Russland.
Die naheliegende und kostengünstigste Ölleitung durch Iran kam für die
USA nicht in Frage. Immer noch sah Washington in den Teheraner Mullahs
die größeren Feinde. Also unterstützte Washington mit allen verfügbaren
Mitteln die Pläne der amerikanischen Ölgesellschaft Unocal, eine Pipeline
von den Ölfeldern Turkmenistans durch Afghanistan an die Küste
Pakistans zu bauen. Im Oktober 1995 schließlich unterzeichnete Unocal
gemeinsam mit seinem saudischen Partner Delta Oil und Turkmenistans
Präsident Saparmurad Niyazov (der Ex-Außenminister Alexander Haig als
Berater angeheuert hatte) in New York den Vertrag zum Bau der Pipeline,
an dem auch die russische Gazprom beteiligt werden sollte.
Noch kämpften zu diesem Zeitpunkt die verschiedensten, untereinander
völlig zerstrittenen Mujaheddin-Fraktionen um die Vorherrschaft in
Afghanistan. Die Taliban aber - diese neue Kraft im afghanischen Mächte-
und Ränkespiel - versprachen die Befriedung Afghanistans. Solchem
Sirenengesang lauschte Washington gern, war doch an einen Baubeginn
der geplanten Pipeline kaum zu denken, solange dort kein Friede herrschte
und hinter jeder Biegung jedes Bergpfads eine andere Gruppe irgendeines
Warlords Steuern erhob.
Die Vereinigten Staaten könnten »nichts Anstößiges« an der Einführung
der Sharia, des islamischen Rechts, finden, erklärte seinerzeit der
Sprecher des State Departments Glyn Davies. »Die äußere Einmischung
in Afghanistan ist nun eng mit dem Kampf um Öl und Pipelines verknüpft.
Es ist zu befürchten, dass diese Firmen und Mächte die Taliban nur für
ihre eigenen Absichten benutzen«, kritisierte der UN-Sekretär für
Menschenrechtsfragen Yasushi Akashi. In diesem Spiel mit hohem
Einsatz und weltpolitischen Implikationen wurde die potentielle Gefahr, die
bin Laden darstellte, nahezu völlig ignoriert. Zudem schützten ihn seine
engen Verbindungen zu einem der wichtigsten US-Verbündeten im neuen
Great Game, zu Pakistans militärischem Geheimdienst ISI.
Unter dem Eindruck, dass weder Pakistan noch die Taliban die
Kampfhandlungen in absehbarer Zeit beenden und das Land endlich einen
könnten sowie aufgrund wachsenden Drucks amerikanischer
Frauenorganisationen, die angesichts der inhumanen Behandlung von
Frauen durch die Taliban von ihrer Regierung eine Revision der
Afghanistan-Politik verlangten, kündigte Washington 1997 eine Kehrtwende
an: Man habe keine Einwände gegen eine Ölleitung von Turkmenistan
durch Iran in die Türkei. Zudem drängten inzwischen andere US-Ölfirmen
die Clinton-Administration, die Sanktionen gegen Iran zu lockern, wo sich
europäische und asiatische Ölförderer schon einen harten
Konkurrenzkampf lieferten.
Damit war dieser Teil des Great Game vorüber. Über Jahre blieb
Washingtons Afghanistan-Politik nur Stückwerk ohne jede strategische
Vision. Von 1994 bis 1996 unterstützte man die Taliban als anti-iranisch,
anti-schiitisch, anti-russisch und pro-westlich. Von 1995 bis 1997 war es
der rein wirtschaftliche Aspekt, Unocal zu einem Großauftrag zu verhelfen.
Die Kehrtwende 1997 schließlich war innenpolitisch motiviert. Clinton hatte
seine Wahlsiege nicht zuletzt den Frauen zu verdanken. Der sanfte
Umgang mit den Taliban war unmöglich geworden. ... Und nach den
Attentaten in Kenia und Tansania wurde die Ergreifung Osama bin Ladens
zum vorrangigen Ziel amerikanischer Außenpolitik.
Agent des Bösen
Doch nun zahlte es sich für den Gejagten aus, die Taliban militärisch
unterstützt zu haben. »Von bloßen Anhängseln des afghanischen Jihad
sowie des Kalten Krieges in den achtziger Jahren waren die Arab-Afghanen
in den Neunzigern in den Mittelpunkt der politischen Bühne Afghanistans,
seiner Nachbarstaaten sowie der USA gerückt«, schrieb der pakistanische
Journalist Ahmed Rashid. Die Taliban sahen sich von den USA verraten
und lehnten eine Auslieferung ihres weltweit gesuchten Gastes ab.
Überzeugt davon, ganz allein das mächtige Sowjetreich zum Einsturz
gebracht zu haben, glaubten die Taliban, auch der anderen, der letzten
Supermacht, die Stirn bieten zu können. »Afghanistan war der Ort, wo wir
die Sowjetunion beerdigt haben«, gab Osama bin Laden diese
Überzeugung wieder, »und es wird der Ort sein, wo wir die Amerikaner
beerdigen werden.«
Aus: Freitag, 39, 21. September 2001
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