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911 truth movement - eine Bewegung um eine Verschwörungstheorie

Von Cornelia Beyer*

Obwohl die meisten Verschwörungstheorien sich auf politische Themen beziehen, gibt es in der politischen Wissenschaft keine originäre Theorie über Verschwörungstheorien oder Verschwörungen. Eines der wenigen Beispiele ist Michael Barkun, der unter dem Titel "Apocalyptic Vision in Contemporary America" veröffentlicht hat. In diesem Werk schreibt er auch über Verschwörungstheorien nach dem 11. September, leider aber evaluiert er diese nicht weiter und sie erhalten auch nur kurze Beachtung.

Im Vorfeld muss gesagt werden, dass eine klare analytische Unterscheidung getroffen werden muss zwischen Verschwörungen und den dazu gehörigen Theorien. Nicht hinter jeder Verschwörungstheorie steht eine tatsächliche Verschwörung und nicht jede stattfindende Verschwörung findet ihre Theorie. Verschwörungen werden im Model Penal Code, § 5.03 definiert als:

"[A conspiracy is] A combination or confederacy between two or more persons formed for the purpose of committing, by their joint efforts, some unlawful or criminal act, or some act which is lawful in itself, but becomes unlawful when done by the concerted action of conspirators, or for the purpose of using criminal or unlawful means to the commission of an act not in itself unlawful."

Das bedeutet, eine Verschwörung ist eine geheime und versteckte Aktion einer Gruppe mit dem Ziel, Recht zu umgehen oder davon abzuweichen.

Verschwörungstheorien sind gekennzeichnet durch bestimmte Charakteristika. Ihnen allen ist der Glaube an die Existenz einer großen, unaufgedeckten Netzwerkaktivität mit kriminellem Charakter gemeinsam (a `vast, insidious, preternaturally effective international conspirational network designed to perpetrate acts of the most fiendish character`, acts which aim to `undermine and destroy a way of life`[1]). Die meisten der aktuell existierenden und die prominentesten Verschwörungstheorien beziehen sich auf Themen, Ereignisse und Personen von internationaler Bedeutung und speziell aus dem Bereich internationaler Politik. Um einige von diesen beim Namen zu nennen: es gibt Verschwörungstheorien um die Ermordung Kennedys, dem Tod von Prinzessin Diana und alle möglichen anderen Vorkommnisse besonders auch aus dem Umfeld US-amerikanischer Militäroperationen. Jedes Vorkommnis, das internationale Aufmerksamkeit erlangt, ungenügend erklärt wird und wo die Hintergründe nicht absolut sicher bewiesen werden, besonders wenn die offizielle Erklärung emotional störend ist, ist Boden für eine Verschwörungstheorie.

Da Verschwörungstheorien politisch empfindliche Themen betreffen, führen sie manchmal zu der Notwendigkeit, Theorien zu hinterfragen. Aus genau diesem Grund werden manche Fakten gerne unterdrückt und einige historische Wahrheiten gelangen nie vollständig ans Licht der Öffentlichkeit oder in die Aufmerksamkeit der Wissenschaft:

"For decades scholars interested in politics have directed their attention toward explicating and evaluating the merits of various political theories, or toward analyzing the more conventional, formal, and overt aspects of practical politics. ... only a handful of scholarly publications have been devoted to the general theme of political conspiracies ... and virtually all of these concern themselves with the deleterious social impact of the `paranoid style´ of thought manifested in classic conspirational theories."[2]

Innerhalb der amerikanischen Gesellschaft, auf der hier der Fokus liegt, ist der Glauben in wenigstens eine oder zwei der prominentesten Verschwörungstheorien sehr verbreitet. In einer Umfrage von 1997 von Guido H. Stempel III, Professor an der EW Scripps School für Journalismus an der Universität Ohio und Thomas Hargrove wurden 1,009 Menschen in ganz Amerika befragt. Die Resultate wurden auf alle amerikanischen Haushalte projiziert. Zu dieser Zeit glaubten mehr als die Hälfte der Bevölkerung, dass es sehr wahrscheinlich sei, das Regierungsmitglieder "direkt verantwortlich für die Ermoderung Präsident Kennedys" seien. Im Jahr 2001 zeigte ein Gallup Poll, dass 81 Prozent der Amerikaner an einer Verschwörung in diesem Zusammenhang glaubten.

Verschwörungstheorien adressieren emotional hoch aufgeladene Ereignisse oder Situationen, sie formulieren generellen Verdacht und hinter ihnen steht ein meist von Paranoia gefärbtes Denken. Der 11. September ist durch seiner schreckliche Realität und die leider ungenügende Aufklärung ein guter Ansatzpunkt für solche Theorien. Zwar wurden direkt nach den Attacken offizielle Erklärungen preisgegeben, doch reichten diese vielen Menschen in und außerhalb der Vereinigten Staaten nicht aus. Von privater Seite wurde deshalb die Einsetzung einer Kommission gefordert, die sich mit den Abläufen und ungeklärten Fragen des 11. September befasst. Diese hat ihre Arbeit nun abgeschlossen. Inzwischen ist jedoch eine soziale Bewegung innerhalb der Vereinigten Staaten entstanden, die weder dem Abschlussbericht der Kommission noch den offiziellen Darstellungen Glauben schenkt.

Verschwörungstheorien bezüglich des 11. September kamen zuerst auf - oder wenigstens zur selben Zeit wie im Westen - im Mittleren und Nahen Osten. Hier sind sie lange verankert und haben Tradition. In Deutschland war es der Journalist Mathias Bröckers von dem online-Journal Telepolis, der die Debatte um den 11.9. als erster regelmäßig im Internet dokumentierte. Der frühere Minister Andreas von Bülow war der erste deutsche Politiker, der sich des Themas annahm. Er und Mathias Bröckers publizierten. Beide wurden gelesen und diskutiert, dennoch dauerte es eine Weile, bis das Thema in die breitere Öffentlichkeit kam und damit in die großen Medien. Der Spiegel nahm sich des Themas mit einer Ausgabe über Verschwörungstheorien an, wobei er diese als unglaubwürdig ablehnte. Thierry Meyssan, eine französischer Autor, ist eine andere führende Figur einer Bewegung, die sich aufgrund der in diesen und anderen kritischen Publikationen geäußerten Fragen mit dem 11. September beschäftigt. Interessanterweise nahm sich Michael Moore, der sich sehr kritisch in seinem letzten Film gegen die Bush-Regierung wandte, nicht des Themas an. Er erschaffte dahingegen seine eigene Verschwörungstheorie, die sich aber eher auf die Hintergründe des Krieges gegen den Irak bezog. Meyssan war der erste, der die Möglichkeit eines Betrugs bezüglich des Pentagon aufdeckte. Er wurde im Mittleren Osten wahrgenommen und sprach vor der Arabischen Liga in Abu Dhabi. Innerhalb der Vereinigten Staaten wurden Verschwörungstheorien zuerst von unabhängigen Journalisten wir Sherman Skolnick und Robert Fisk aufgebracht. Sie unterhalten ihre eigenen Webseiten, die anscheinend so weit wahrgenommen werden, dass ihr Inhalt andere Kanäle erreicht, selbst wenn sie innerhalb der Vereinigten Staaten und besonders für die dortigen Massenmedien als Sonderlinge gelten. Die politische Opposition engagierte sich ebenfalls sehr bald in der Debatte. Es dauerte eine Weile und einige Bücher, bevor die allgemeine Öffentlichkeit mehr und mehr aufmerksam auf das Thema und aktiv wurde. Inzwischen sind vermutlich 100.000 Webseiten online, die die Vermutungen und kritischen Fragen bezüglich der Abläufe und des Vorwissens zum 11. September aufgreifen. Der aktivste von diesen ist der New Yorker "hub" des 911 Visibility Projects, das als eine Schirmorganisation für andere amerikanische Gruppen fungiert, die sich formiert und im Internet vernetzt haben. Insgesamt ist daraus eine soziale Bewegung entstanden, die sich selbst "truth movement" nennt und mögliche Verstrickungen hinter dem 11. September aufdecken will. Ihr geht es insbesondere um die Frage nach Vorwissen der Administration und dem Nicht-Aktiv-Werden derselben. Die extremen Positionen finden sich hier bei der Frage nach der Möglichkeit, dass das WTC nach dem Einschlag der beiden Flugzeuge gesprengt worden sein könnte (hierfür werden beispielsweise Videoanalysen aufgeführt) und der Möglichkeit, dass keine Boeing in das Pentagon gestürzt sei. Der gemäßigtere Teil der Bewegung richtet sein Interesse auf die Finanztransaktionen im Vorfeld der Anschläge sowie zum Beispiel die Behauptung, dass neun der genannten Attentäter nach den Anschlägen noch am Leben gewesen sein sollen. Die Verschwörungstheorie dahinter ist, dass Teile der amerikanischen Administration oder Eliten in irgendeiner - über das Ausmaß scheiden sich die Geister - Form involviert gewesen sein sollen in die Anschläge des 11. September. Besonders enttäuscht richtet sich die Bewegung gegen die offizielle Kommission, die die Aufklärung der Umstände des 11. September zum Auftrag hatte. Ihr wird vorgeworfen, dass sie lange nicht alle offenen Fragen beantwortet hat und überdies in einem Interessenkonflikt befindlich war. Mit diesen und weiteren Vorwürfen und Spekulationen soll eine alternative Realität aufgedeckt werden, die der offiziellen Darstellung zuwiderläuft. Insgesamt teilt sich das movement in die LIHOP- (let it happen - man ließ es geschehen) und die MIHOP- (make it happen - man veranlasste es) Fraktion. Während erstere auf die Ungereimtheiten bei der Erklärung des Versagens der Abwehr- und Sicherheitsmaßnahmen fokussiert, versucht zweitere, eine Verwicklung der Administration in die Ereignisse und deren direkte Mitschuld zu beweisen.

Zum Beispiel in New York ist man dabei politisch sehr aktiv. Im Januar 2003 gab es eine Demonstration mit rund 100.000 Teilnehmern, die mit Transparenten marschierten und den Ruf nach Wahrheit über den 11. September in die Straßen brachten. Der selbst-deklarierte antifaschistische Aktivist Jeff Blank protestierte mit einem Poster mit der Aufschrift "Das Bush-Regime hat den 11. September veranlasst" vor dem Ground Zero. Andernorts arbeitet man eher in kleinen Diskussionsgruppen, organisiert Veranstaltungen und Demonstrationen, versucht Studenten der Universitäten mit Flugblättern zu erreichen. Seit 2001 gab es auch zwei Konferenzen der Bewegung - eine in San Franzisco und eine in Toronto. Weitere Aktionen sind geplant. Die Bewegung fühlt sich von den Medien vernachlässigt und von den etablierten Linken im Stich gelassen. Dies mag daran liegen, dass der berechtigte Wunsch nach besserer Aufklärung zum Teil mit viel wilder Spekulation und Vorwürfen präsentiert wird. Die gesamte Bewegung ist "unter dem Radar der US Medien. Die US Medien (einschließlich der alternativen Medien) haben übermenschliche Arbeit geleistet, nichts zu hören, zu sehen und nichts unangenehmes zu äußern." (http://ny911truth.org/news.htm). Aus dem Interesse heraus, wie viele New Yorker wirklich in eine Verschwörung um den 11. September glauben, in die die Regierung involviert sein könnte, wurde eine privat finanzierte Umfrage organisiert und herausgefunden, dass jeder zweite New Yorker überzeugt ist, dass die Administration "im Voraus gewusst hat, dass die Anschläge geplant waren am oder um den 11. September 2001 und dass sie bewusst versagt haben, aktiv zu werden." (siehe z.B. http://www.septembereleventh.org/forum/ubbthreads.php). Immerhin hat der UN Observer auf die bezügliche Seite hingewiesen.

Das "truth movement" hat inzwischen sogar einen Ableger in London. Hier unterstützen Ian Neal und Simon Aronowitz Netzwerkaktivitäten. Sie betreiben Lobbyismus gegenüber der US-amerikanischen Presse und verteilen Newsletter über die Aktionen und Pläne der Bewegung. Sie veranstalten Gruppentreffen von 10 bis 20 Personen. Simon Aronowitz hatte zum Thema 11. September seit 2001 recherchiert. Wie Simon Aronowitz berichtet riefen ihn mehr und mehr Leute an, während sich die Proteste im Vorlauf der anstehenden Präsidentschaftswahlen verdichteten. Die Lobbyarbeit geht dennoch nicht allzu gut. Einige Journalisten des rechtsorientierten Fernsehsenders Fox öffnen nicht einmal seine Emails. Schließlich versucht die Bewegung, Personen des öffentlichen Lebens zu erreichen sowie die allgemeine Öffentlichkeit. Letzteres ist schwer, noch schwerer ist es, Politiker zu erreichen. Besonders jene in hohen Positionen sind vermutlich nicht willens oder in der Lage, das Thema überhaupt zu adressieren, sie wissen womöglich nicht einmal um die Existenz der Bewegung. Dies wiederum könnte eine andere Verschwörungstheorie sein. Dennoch, und dies bleibt zu erwähnen, gibt es einen Parlamentarier des Europäischen Parlaments aus Belgien - Paul Lannoye - der die Bewegung unterstützt: "Ich rufe die Gesetzgebung, Parlamentarier und Bürger weltweit auf, an dem globalen truth movement teilzunehmen. Schreiben Sie sich ein bei www.911Visibility.org und www.911Truth.org. Diese Organisationen haben mit den Familienmitgliedern der Opfer des 11. September und Bürgern weltweit zusammengearbeitet um Lobbyarbeit bei Regierungen, den Medien und der 9-11 Commission zu leisten und die Wahrheit zu verlangen und das öffentliche Aktionen abzuhalten um die Welt über das offensichtliche 9-11 cover up zu informieren." (http://ny911truth.org/articles/european_union.htm)

Insgesamt stehen die Thesen der Bewegung gegen die Aussagen der Regierung und der vermutlichen Attentäter. Auch wenn Osama bin Laden in einem ersten Interview mit der pakistanischen Zeitung Ummat vom 28. September 2001 die Urheberschaft der Anschläge von sich wies, widerrief er sich später. Innerhalb der Kreise des sogenannten truth movements wird auf diese Tatsache kaum reagiert. Auch zu dem aktuellen Video von Osama bin Laden hat die Bewegung noch nicht erkennbar Stellung bezogen. Hier zeigt sich eine deutliche Unterbelichtung der Aktivitäten der Bewegung. Wohingegen sonst teilweise mit Furor und Akribie recherchiert und hinterfragt wird, findet hier - wie auch teilweise andernorts - eine Ausblendung und Umdeutung der Tatsachen statt. Wenn die Videos, die zumindest als Beweismittel für die Involviertheit Osama bin Ladens gelten können, schon überhaupt Beachtung finden, werden sie gänzlich als Fabrikation und Täuschung aufgefasst.

Trotzdem sollte den Thesen und Forderungen des selbst-deklarierten truth movements im Rahmen der Diskussion um den 11. September mehr Beachtung geschenkt werden. In der deutschen Diskussion sind die Theorien und Fragen nur als abwegig dargestellt worden, so zum Beispiel im Spiegel, der den Verschwörungstheorien eine Ausgabe und eine Sektion auf seiner Internetseite widmete. Dabei haben einige der Fragen und Kritikpunkte, die von der Bewegung aufgeworfen werden durchaus Relevanz. Besonderer Anlass zur Kritik ist die Einsetzung von Philip Zelikow als Direktor der Untersuchungskommission, die sich für Präsident Bush mit der Aufklärung der Umstände und Hintergründe der Anschläge des 11. September befasste. Zelikow war selbst 2000 im Wahlkampfteam von Präsident Bush gewesen und hat bereits mit Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice zusammengearbeitet. Hier stellt sich die Frage nach der Unabhängigkeit der Kommission also durchaus. Auch andere Punkte, die von der Bewegung aufgeworfen werden, sind nicht unbedingt sofort als nicht ernst zu nehmen von der Hand zu weisen. So zeigt zum Beispiel das offizielle Video des Pentagon-Parkplatzes in der Tat keine Boeing, sondern lässt auf ein raketenähnliches Objekt schließen, welches das Gebäude trifft. Die These, dass hier kein Passagierflugzeug einschlug ist in den genannten Kreisen lange bekannt. Insgesamt muss den Fragen, die von der Bewegung gestellt werden, wenigstens in sofern mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, dass die Aufklärung über die Umstände des 11. September mehr Beachtung erfährt. Immerhin hat sich die Regierung Bush mit der Fabrikation von Gründen für den Krieg gegen den Irak soweit unglaubwürdig gemacht, dass hier Bedarf besteht. Verschwörungstheorien gründen sich nicht immer nur auf unbegründete Spekulationen. Es kommt vor, dass sie auch einen Teil der Wahrheit erfassen. Es wäre dramatisch, wenn dies in diesem Fall zuträfe. Umso dringlicher ist eine vollständige und unvoreingenommene Aufklärung, um jeden Zweifel aus dem Wege zu räumen.

Für eine umfassendere Darstellung der Fragen, die vom truth movement bezüglich des 11. September gestellt werden, siehe: http://www.unansweredquestions.org/

Fußnoten
  1. Richard Hofstadter, The Paranoid Style in American Politics (New York: Knopf, 1966), 3 - 40, 14 and 29.
  2. Ibid.
* Die Autorin ist post-graduierte Studentin der Politischen Wissenschaften und Internationalen Beziehungen an den Universitäten München, Berlin, Syracuse. Sie beschäftigt sich zurzeit im Rahmen der Vorbereitung ihrer Dissertation mit der Frage nach den demokratischen Potentialen globaler Medien für Global Governance und arbeitet darüber hinaus zum Thema Verschwörungstheorien um den 11. September.


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