AL-QAIDA
Absurde Antiterrorstrategie
Von Arne C. Seifert *
Al-Qaida, Bin Laden,
terroristische Dschihadisten;
11. September,
Irak, Abu Ghraib, Afghanistan,
Soldatensterben, Verkrüpplungen,
Zerstörung; Menschenschlachten, Guantanamo,
Waterboarding – ein Jahrzehnt »War on Terror«. Lässt sich darüber emotionslos berichten? Wenn also Zorn
über Verbrechen gegen die
Menschlichkeit kein allein
taugliches Kriterium für den
Umgang mit solch schwieriger
Materie ist – welche sind es
dann?
Christina Hellmich stellt
Fragen: Was ist al-Qaida? Ist
dessen Netzwerk militärisch
besiegbar und hält die Notwendigkeit
eines globalen Krieges einer rationalen Begründung
stand? Welche Ideologie vertritt al-Qaida?
Zwingt eine »islamistische Bedrohung« dem Westen »eine
Auseinandersetzung um die zivilisatorischen Werte einer
globalen Ordnung« auf, wie die CDU-Wertekommission
im September 2002 verkündete? Ist al-Qaida mittlerweile
geschwächt oder gar zerschlagen? Auf welche Erkenntnisse
und Einschätzungen begründete die herrschende
politische Klasse des Westens ihre Entscheidungen,
unzählige Menschen in Kriegen
gegen al-Qaida in Afghanistan
und Nahost zu opfern? Wodurch sah sie sich berechtigt,
den Umbau ihrer globalen (!) Sicherheits- und Verteidigungsstrategien
unserer Öffentlichkeit als Überlebensbedingung
zu verkaufen?
Hellmichs Studium Dutzender Analysen sogenannter
Experten führte sie zur Erkenntnis,
diese könnten nicht einmal einfache Antworten
wie etwa »die Beschreibung
des Gegners liefern, die zur
rationalen Begründung eines globalen Krieges gebraucht
werden«. Die Autorin belegt, dass die militärische Ausgangsprämisse,
al-Qaida sei als Terrororganisation mit
militärisch besiegbaren
Strukturen vernichtbar, »einer
gründlichen Prüfung nicht
stand« hält. Das Beweismaterial
sei »bisweilen dürftig,
wenn nicht gar unglaubwürdig.« Die zu bekämpfende
Quelle von Anschlägen, also
die »real existierende al-Qaida«, entzog und entzieht sich
»allen Versuchen, sie klar und
eindeutig zu bestimmen«.
Die Autorin konstatiert,
dass die »Reaktion auf al-Qaida
in Form eines uneingeschränkten
Krieges insofern
kontraproduktiv ist, als sie das
Bild der USA und ihrer Verbündeten
als repressive Besatzungsmacht,
die Leid über
Muslime bringt und mit der
islamischen Welt auf Kriegsfuß
steht, nur noch verstärkt«.
Hellmichs Fazit aus dem
globalen Krieg gegen den Terror:
»Aggressive Konfrontationen
mit dem Feind … tragen
wenig dazu bei, die USA und
den Westen vor dem Zorn und
den gewalttätigen Überfällen
radikaler Dschihadisten zu
schützen.« Und: »Ein erheblicher
Teil des Krieges gegen
al-Qaida ist ein Kampf der
Ideen, der militärisch nicht
gewonnen werden kann.«
Hellmich kritisiert des
Weiteren, dass der Westen
sich niemals mit der Botschaft
Osama bin Ladens ernsthaft
auseinander gesetzt habe. Vor
allem, warum sich mit ihr
Muslime identifizieren. Die
Autorin sieht Ursprünge des
aktuellen Problems im frühen
13. sowie 18. und 19. Jahrhundert.
Im Kern widmen sich
Bin Ladens Botschaften dem
Schicksal der muslimischen
Umma, der islamischen Gemeinschaft,
die sich der »fernen
« und »nahen« Verursacher
ihres drohenden Zer- und
Verfalls erwehren müsse.
Zentraler Bezugspunkt der
von Hellmich analysierten
»Fatwas« (islamisches
Rechtsgutachten), Videoerklärungen
und Schriften Bin
Ladens und dessen Anhänger
ist das »Leid von Muslimen im
Irak und Palästina, in Kaschmir
und Bosnien, das eine direkte
Folge der amerikanischen
beziehungsweise westlichen
Aggressionspolitik ist«.
Ein aufrüttelndes Trauma
war der Tod 500 000 irakischer
Kinder als Folge der
Wirtschaftssanktionen nach
dem zweiten Golfkrieg 1991,
der nach der damaligen USamerikanischen
Außenministerin
Madeleine Albright die
politischen Ziele der USA wert
gewesen sei. 1998 verurteilte
Bin Laden die Nahostpolitik
der USA als »Kriegsführung
gegen Gott.«
Die Erkenntnisse zu den
Fragen »Al-Qaida – wiedererstarkt?« sowie nach deren
Perspektiven sind leicht zusammengefasst:
Das hauptsächliche Potenzial der Ideen
Bin Ladens, al-Qaidas und anderer
islamistischer Extremisten
liegt letztendlich, so
Hellmich, in der »Strahlkraft
ihrer Ideen«.
Das Buch von Christina
Hellmich war mehr als überfällig.
Lange schon schwelt der
Verdacht, dass die NATO-Verbündeten
an einer friedlichen
Regelung des Terrorismuskonflikts
nicht interessiert waren und sind, weil sie ganz
andere Ziele verfolgten, nämlich
Nahost unter ihrer Hegemonie
zu halten. Letzteres kann als bestätigt gelten, seitdem
sie al-Qaida als einen regionalen
Stellvertreter im Anti-Assad-Krieg tatkräftig unterstützen
– ihren bisherigen »Erzfeind«, den sie doch eigentlich
vernichten wollten.
Christina Hellmich: al-Qaida. Vom globalen Netzwerk zum Franchise-Terrorismus. Aus dem Englischen von Claudia Kotte. Primus: Darmstadt 2012, 176 S., geb., 19,90 €.; ISBN 978-3-86312-347-5
* Aus: neues deutschland, Dienstag, 9. Oktober 2012 (Beilage zur Frankfurter Buchmesse)
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