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Das Netzwerk Al Qaida

Terrorzentrale im Hindukusch – Mythos oder Realität?

Von Roland Etzel *

Wer oder was ist Al Qaida? Eine Geheimorganisation, eine Guerilla-Gruppe, ein sogenanntes Netzwerk mit Verbindungen zu Zugehörigen in aller Welt? Es spricht einiges dafür, dass von jedem etwas zutrifft oder zutraf. Das wollen die Internet- und Videobotschaften Al Qaidas nahelegen, und diese Ansicht verbreiten auch viele von deren Adressaten im Westen.

Die Wahl des arabischen Wortes Qaida, was soviel wie Fundament, Grundlage, aber eben auch (Ausgangs)Basis heißt, untermauert die Behauptung, bei Al Qaida handele es sich um eine weltweit operierende arabische und damit auch islamisch geprägte Organisation mit dem Anspruch, global operieren zu können. Dabei geht es – wie nebenstehend ersichtlich – um Terror von teilweise gewaltigen Dimensionen, der zum Bestandteil eines Heiligen Krieges (Dschihad) gegen angebliche Feindes des Islam bzw. islamischer Staaten wurde.

Die in der zweiten Hälfte der 80er Jahre von dem saudischen Bauunternehmer Osama bin Laden im Kampf gegen die sowjetische Besetzung Afghanistans gegründete Terrorzelle richtete sich nach dem Abzug der Moskauer Truppen vornehmlich gegen Ziele der USA. Obwohl endgültige Beweise fehlen, ist es wahrscheinlich, dass Al Qaida, die mit den inzwischen in Afghanistan herrschenden Taliban ein Zweckbündnis eingegangen war, vom Hindukusch aus Terroraktionen koordinierte; in Zeiten von weltumspannendem Internet und Mobilfunk leichter als je zuvor. Von niemandem wird ernsthaft bestritten, dass beispielsweise die vergleichsweise kleine Attacke auf das World Trade Center in New York 1993, Anschläge auf US-Bürger in Saudi-Arabien und die Großattentate in Daressalam und Nairobi von willigen Helfern Bin Ladens ausgeführt wurden.

Eine ganze Reihe weiterer Terrorgruppen bezieht sich bis heute – erkennbar am Namen oder an Bekennerbotschaften – auf Al Qaida bzw. Bin Laden. Ein Beispiel dafür ist die »Salafisten-Gruppe für Predigt und Kampf«. Obwohl sie sich 2007 in »Organisation Al Qaida des Islamischen Maghreb« (AQMI) umbenannte, ist eine Verbindung zu Al Qaida oder gar eine straffe Kommandostruktur innerhalb des Bin-Laden-Netzwerks nicht nachgewiesen und auch schwer vorstellbar.

Die Gründe liegen nahe. Nach den Attentaten vom 11. September 2001 und der folgenden Besetzung Afghanistans durch US-Truppen hatte sich der Verfolgungsdruck auf Bin Laden sukzessive erhöht. Bestanden bereits Zweifel, dass »9/11« von Afghanistan aus so exakt planbar war, so sind die Terroraktionen der Jahre danach wohl kaum aus den Höhlen im Hindukusch gesteuert worden. Auch die AQMI kann Instruktionen für Entführungen und Überfälle in den Sahara-Regionen von Mali und Niger nicht aus Zentralasien bekommen haben. Ungeachtet dessen haben beide Seiten – die Terroristen wie die betroffenen Staaten – erklärbares Interesse, sich auf Al Qaida zu beziehen.

Ob die AQMI, die Abu-Sayyaf-Guerilla auf den Philippinen, die vom pakistanischen Teil Kaschmirs aus gegen Indien operierenden Lashkar e-Taiba oder die Attentäter in Indonesien – alle bedienten sich gern Bin Ladens Ideologie, um sezessionistische Ziele, Machtkämpfe oder auch nur kriminelle Energie wie beim Touristen-Kidnapping in der Sahara mit islamisch verbrämten Botschaften auszuschmücken. Dies verhieß zugleich Rückhalt in der islamischen Mehrheitsbevölkerung der jeweiligen Staaten oder Regionen.

Auf der anderen Seite kam es auch den Regierungen der Länder, in denen die angeblich von Al Qaida gesteuerten Aktionen geschahen, nicht ungelegen. Es gab damit eine willkommene Möglichkeit, etwaige innere Faktoren als Ursachen für Gewalt und Terror gar nicht erst in Erwägung ziehen zu müssen und dafür auf die weitgehend anonymisierte Terrormonstranz Bin Laden zu verweisen.

Eine weltweite Terrorregie nach 2001 ist also hauptsächlich Legende. Nachgewiesen ist dagegen, dass sich Tausende selbsternannter Heiliger Krieger in Bin Ladens Nähe, also Afghanistan/Pakistan, ausbilden ließen und dann an ihre Heimatfronten zurückkehrten: nach Algerien oder Bosnien, Irak oder Kosovo oder gar Nordrhein-Westfalen. Ihre geistige Klammer ist ein militanter Islam. Das Aufklärungsinteresse daran ist hierzulande sehr unterschiedlich, werden die einen doch als bösartige Terroristen, die anderen, etwa Bosnien-Kämpfer, als Helden stilisiert.

* Aus: Neues Deutschland, 3. September 2011


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