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Verbrechen verschleiert

Die Opfer der Terrorkriege nach "9/11": Warum interessiert sich niemand dafür, wie viele Menschen in Afghanistan und im Irak sterben?

Von Joachim Guilliard *

Am Jahrestag der Anschläge vom 11.September 2001 wird zu Recht der fast 3000 Menschen gedacht, die seinerzeit getötet wurden. Gedenkveranstaltungen für die ungleich höhere Zahl von Opfern der Kriege, die die USA und ihre Verbündeten im Anschluß führten, sucht man aber vergebens. Deren genau Zahlen wollen westliche Regierungen und Medien auch nicht wissen. Im Gegenteil, sie sind ein Politikum und werden mit allen Mitteln verschleiert.

Obwohl in Deutschland der Einsatz in Afghanistan vor allem mit humanitären Motiven gerechtfertigt wird, haben weder Bundesregierung noch wissenschaftliche Institute je zu ermitteln versucht, wie viele Afghanen bisher der gewaltsamen Modernisierung ihres Landes durch Krieg und Besatzung zum Opfer fielen. Die Bundesregierung gibt sich in der Frage hilflos: »Es sei nicht möglich, Zahlen zu nennen, sie hätte aber natürlich ›großes Interesse‹ an solchen Zahlen«, heißt es in einem Bericht der Zeitschrift Das Parlament (6. Juli 2009). Das geringe Interesse, auch in den Medien, an den örtlichen Opfern der Terrorkriege spiegelt zum einen den geringen Wert wider, dem man im Westen einem afghanischen, pakistanischen oder irakischen Leben beimißt. Vor allem aber ist das Ausblenden entscheidend für die Aufrechterhaltung eines Mindestmaßes an Akzeptanz.

Zwar äußerte US-General Tommy Franks, Oberkommandierender des Überfalls auf Afghanistan, einmal den markigen Spruch: »Wir machen keine Leichenzählung«, doch die Besatzungstruppen veröffentlichen durchaus immer wieder Zahlen von zivilen Opfern. Diese sind allerdings lächerlich gering. So meldet ISAF für 2009 und 2010 gerade einmal 2537 getötete Zivilisten. Die seien zudem überwiegend Anschlägen von »Aufständischen« geschuldet. Doch auch die von den Medien meist herangezogenen Zahlen der UN-Gliederungen vor Ort und diverser Nichtregierungsorganisationen, die sich dem Thema widmeten, sind vielmehr eine Verschleierung der Verbrechen. UNAMA (UN Assistance Mission in Afghanistan) gibt z.B. für die Jahre 2009 und 2010 die Zahl von 5191 getöteten Zivilisten an. Das kriegskritische »Costs of War«-Projekt an der Brown University in Rhode-Island, das sich vorgenommen hat, die ökonomischen und humanitären Kosten der Kriege am Hindukusch und im Irak zu ermitteln, kommt bei seiner »konservative Schätzung« auf eine Gesamtzahl von 14000 Ziviltoten in Afghanistan

Umgerechnet auf die Bevölkerungszahl von 30 Millionen wären dies knapp fünf Tote pro 100000 Einwohner und Jahr. Wie der Epidemiologe Les Roberts anläßlich ähnlich niedriger Schätzungen für den Irak sarkastisch anmerkte, liegen solche Zahlen deutlich unter der von gewaltsamen Todesfällen in US-amerikanischen Großstädten, die 2006 in Detroit und Baltimore beispielsweise bei über 40 pro 100000 Einwohner lagen. Für die Zahl der Opfer im Irak wird meist der »Iraq Body Count« herangezogen. Dieser schätzt die Zahl ziviler Opfer in acht Jahren Krieg auf 110000. Auch hier hätte es demnach trotz Krieg und Besatzung nicht mehr Gewalt gegen Zivilisten gegeben als in Detroit.

Die Schätzungen dieser Projekte basieren auf der Zahl registrierter Fälle in Medien oder Krankenhäusern. Die offensichtliche Unterschätzung der Opferzahlen ist mithin nicht ungewöhnlich. In keinem Konflikt konnte man, wie sich nachträglich herausstellte, durch sogenannte »passive Untersuchungsverfahren« mehr als 20 Prozent der Opfer erfassen.

Fast gravierender jedoch ist der methodische Fehler durch das Bemühen, nur zivile Tote erfassen zu wollen. Zum einen sollten prinzipiell alle Menschen als Opfer gezählt werden, die ohne Krieg und Besatzung noch leben könnten – unabhängig davon, ob sie sich bewaffnet gegen die Invasoren wehrten oder ob sie sich von den Besatzern als Hilfstruppen für den Kampf gegen ihre Landsleute dingen ließen. Vor allem steht man aber vor dem Problem, wie man zivile Tote von Kombattanten unterscheiden will. Agenturmeldungen übernehmen meist die Version der Besatzer. Zivil sind die Toten meist nur dann, wenn sie auf das Konto des Widerstands oder anderer bewaffneter Gruppen gingen, ansonsten sind es »Aufständische«, »Terroristen« oder »Taliban«. Das erklärt auch, warum die UNO den größten Teil getöteter Zivilisten den »Antiregierungskräften« zuschreibt. Sehr häufig berichten Augenzeugen nach US- oder NATO-Angriffen von Dutzenden ziviler Opfer, während die Besatzer darauf beharren, nur gegnerische Kämpfer getötet zu haben. In den Datenbanken des »Iraq Body Count« und anderer Projekte findet man hierzu dann auch keine Einträge. Nicht erfaßt werden natürlich auch all diejenigen, die erst später ihren Verletzungen erliegen, deren Krankheiten aufgrund der Kriegs- und Besatzungsbedingungen nicht adäquat behandelt werden können ...

Die einzige Methode, zuverlässig zu ermitteln, wie viele Menschen einem Konflikt zum Opfer fielen, sind Umfragen und Recherchen vor Ort. Durch repräsentative Befragungen erhält man belastbare Schätzungen. Im Irak wurden mehrere solche Studien unter Einbeziehung eines relativ großen Personenkreises durchgeführt. Die zuverlässigste war die sogenannte Lancet-Studie im Jahr 2006. Diese Untersuchung schätzte die gesamte Zahl der Iraker, die bis Juni 2006 an den Folgen von Krieg und Besatzung starben, auf 650000. Obwohl nahezu alle Experten auf dem Gebiet, einschließlich der Wissenschaftler der britischen Regierung, die Korrektheit der Studie bestätigten, wurde sie in einer regelrechten Medienkampagne diffamiert und schließlich als »umstritten« ad acta gelegt. Eine Studie des britischen Instituts Open Research Business (ORB) bestätigte jedoch ein Jahr später die Zahlen. ORB zufolge war die Gesamtzahl der getöteten Iraker bis August 2007 auf über eine Million gestiegen. Diese Studienergebnisse als Basis nehmend und sie analog der von Iraq Body Count erfaßten Opferzahlen fortschreibend schätzt die US-amerikanische Gruppe Just Foreign Policy die aktuelle Zahl der Kriegstoten im Irak auf fast 1,5 Millionen.

An sich sind selbstverständlich schon die von »Iraq Body Count« gemeldeten 110000 Ziviltoten eine erschreckende Zahl– entsprechen sie doch der Auslöschung einer Großstadt. Doch scheint dies – sofern es sich »nur« um Araber handelt – tolerabel und zum guten Teil auch mit dem Bild einer überbordenden religiös motivierten Gewalt erklärbar. 650.000 oder gar über eine Million Tote hingegen liegen in der Dimension eines Völkermords und würden als klares Menschheitsverbrechen erscheinen.

In Afghanistan wurden keine Umfragen durchgeführt. Dennoch kann man auch hier die tatsächliche Größenordnung abschätzen. Im Irak liegt die wahrscheinliche Zahl der Kriegstoten um das zehn- bis zwölffache höher, als die vom »Iraq Body Count« erfaßten. Vermutlich ist in Afghanistan die Diskrepanz zwischen den registrierten und den tatsächlichen Opfern noch wesentlich höher als im Irak. Geht man von der von »Costs of War« ermittelten Zahl von 14000 aus, steht zu befürchten, daß im Afghanistan-Krieg bisher weit über 150000 Menschen getötet wurden.

* Aus: junge Welt, 10. September 2011

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