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"Mir war sofort klar, daß das Krieg bedeutet"

Gespräch mit John Catalinotto. Über die Anschläge auf das World Trade Center vor zehn Jahren und die Folgen, die Zweifel an der offiziellen Darstellung der Bush-Regierung und das Erstarken der Antikriegsbewegung *


John Catalinotto ist seit der sogenannten Raketenkrise im Oktober 1962 in antiimperialistischer Politik engagiert, war von 1967 bis 1971 ziviler Aktivist der American Servicemen’s Union gegen den Krieg in Vietnam. Seit 1982 ist er Redaktionsleiter der Wochenzeitung Workers World. Mitglied des 1991 von dem Menschenrechtler und früheren US-Justizminister Ramsey Clark gegründeten International Action Centers (IAC) und seit 1999 Sprecher des IAC auf internationalen Konferenzen. Von 2001 bis 2004 Mitarbeit bei der Answer Coalition, die 2001 gegründet wurde, um der nach dem 11.September aufkommenden Kriegshetze zu begegnen. Er unterstützte die Koordination internationaler Proteste gegen den Irak-Krieg.
John Catalinotto hat zwei Bücher herausgegeben: »Metal of Dishonor« über abgereichertes Uran und »Hidden Agenda: The U.S.-NATO Takeover of Yugoslavia«. Aktuell lehrt er Mathematik an der City University of New York.


Nine-Eleven gilt als Zäsur in der jüngeren Geschichte. Wo waren Sie am Morgen des 11. September 2001, als Flugzeuge in die Türme des World Trade Center rasten?

Damals hatte ich eine Vollzeitbeschäftigung bei einer Krankenversicherung in Turm 1 des World Trade Centers. Unsere Abteilung befand sich im 31. Stockwerk. Arbeitsbeginn war 8.45 Uhr, und das erste Flugzeug schlug um 8.46 Uhr in dem Gebäude ein. Ich hatte Glück. Wir hatten gleitende Arbeitszeit, und für gewöhnlich fing ich spät an und machte spät Schluß. Ich hatte am Vorabend sehr lange gearbeitet, und an dem Morgen blieb ich länger zu Hause, um einen Artikel für meine Zeitung, die Workers World, zu redigieren. Ich war noch damit beschäftigt, als der Flieger einschlug. Die fünf Kilometer von meiner Wohnung in Chelsea zum WTC ging ich oft zu Fuß am Hudson River entlang. Weil dieser Dienstag morgen ein so herrlich klarer Tag war, wäre ich normalerweise sicher auch zu Fuß gegangen.

Wie und wann haben Sie von den Anschlägen erfahren?

Um 9.00 Uhr, als ich gerade meine Wohnung verließ, rief mich mein Schwager an. Er sagte: »Gut, daß du noch zu Hause bist. Du arbeitest doch im World Trade Center, oder?«

»Ja, warum – hat es jemand in die Luft gejagt?« antwortete ich. 1993 hatte es in Turm 1 des WTC schon einmal eine Explosion gegeben, weswegen ich überhaupt nicht froh darüber war, daß die Versicherung dorthin zog, auch wenn man von dort oben einen wunderbaren Ausblick auf den New Yorker Hafen hatte.

Zuerst nahm ich an, daß es ein Unfall mit einer kleinen Maschine war. Ich habe sogar auf der Arbeit angerufen, um zu fragen, ob ich kommen soll, aber es nahm niemand ab. Während ich dann meine Verwandten anrief, um ihnen zu versichern, daß ich wohlauf war, hörte ich im Radio, daß die zweite Maschine in Turm 2 eingeschlagen war und eine dritte in das Pentagon. Mir war sofort klar, daß das Krieg bedeutete.

Haben Sie Angehörige oder Freunde verloren?

Fast alle von den 3000 Toten waren Leute, die sich entweder in den Stockwerken über der Einschlagstelle der Maschine befanden, die als Passagiere in den Flugzeugen saßen oder die zu den Einsatzkräften von Feuerwehr und Polizei gehörten, die sich in den Türmen befanden, als sie einstürzten. Bei der Krankenversicherung arbeiteten etwa 1800 Leute. Davon hatte ungefähr die Hälfte das Büro erreicht, als es passierte. Dreizehn starben, von denen ich nur einen namentlich kannte. Ich hatte ihm alle drei Monate Daten zu übergeben. Einer meiner engsten Kollegen stand draußen und sah hoch zu dem Feuer in Turm 1, als die zweite Maschine in Turm 2 einschlug. Neben ihm stand eine Frau, die von einem herabstürzenden Rad der Maschine getroffen und getötet wurde. Mein Kollege mußte über ihren Körper springen, um von dort wegzukommen.

Was waren Ihre ersten Reaktionen? Wen haben Sie ad hoc verantwortlich gemacht?

Als ich begriffen hatte, daß es kein Unfall war, war mir sofort klar, daß die Bush-Regierung die Anschläge als Rechtfertigung dafür ausnutzen würde, in den Krieg zu ziehen. Ich setzte mich mit meinen Genossen von unserer Wochenzeitung in Verbindung und plädierte dafür, uns umgehend zu treffen, um den Inhalt der nächsten Ausgabe zu ändern und die Regierung politisch anzugreifen. Es machte keinen großen Unterschied, wer direkt verantwortlich war. Es hatte zuvor schon Anschläge auf das US-Kriegsschiff USS Cole gegeben, als es nahe dem Hafen von Aden (Jemen) vor Anker lag, und noch davor gegen die US-Botschaft in Kenia. Die meisten Leute glaubten, daß die aktuellen Anschläge von den gleichen Kräften verübt worden waren. Ich sah es als unausweichlich an, daß die US-Regierung das Trauma, das die Anschläge für die Bevölkerung bedeuteten, ausnutzen würde, um das Land für den Krieg zu mobilisieren. Außerdem hatte ich Angst, es könnte weitere Anschläge geben. Nur weil ich die Ereignisse politisch interpretieren konnte, machte mich das noch lange nicht immun gegen die Gefühle, die damals alle in New York hatten.

Mit den Jahren hat sich eine »Wahrheitsbewegung« herausgebildet, die die offizielle Darstellung der Anschläge in New York und Washington in Frage stellt, von deren Billigung durch US-Geheimdienste ausgeht, wenn nicht gar einen kompletten »inside job« unterstellt. Wie verbreitet sind deren Ansichten in den USA, was ist davon zu halten?

Es ist eine gesunde Haltung, den herrschenden Kreisen und den Medienkonzernen in den USA zu mißtrauen. Die lügen immerfort. Sie sind auch zu den abscheulichsten Verbrechen fähig, wie sie erst kürzlich in Irak, Afghanistan und Libyen bewiesen haben. Deshalb hegten viele progressive Menschen Argwohn gegenüber den offiziellen Erklärungen, die ihre Fragen nicht zufriedenstellend beantworteten.

Zudem gab es immer schon eine vielschichtige Beziehung zwischen dem US-Imperialismus und Gruppen wie Al-Qaida. Washington setzte sie in Afghanistan gegen die Sowjetunion ein und rüstete sie auf. In Irak provozierte Al-Qaida sektiererische Kämpfe und erschwerte es dem irakischen Widerstand, sich zu vereinigen. Außerdem war es auch nützlich, Al-Qaida zu einer Zeit als »den Feind« zur Verfügung zu haben, als es für die Imperialisten keinen ernsthaften Rivalen mehr gab, wie es zuvor noch die Sowjetunion war. Diese Gruppen greifen aber auch US-Ziele an, und es waren US-Streitkräfte, die erst kürzlich Al-Qaidas Anführer hinrichteten. Berücksichtigt man all das, dann könnte man glauben, daß innerhalb der US-Geheimdienste jemand Kenntnis davon gehabt haben könnte, daß eine dieser Gruppen einen Anschlag in den USA verüben wird. Und sie haben vielleicht nichts getan, um diesen Anschlag zu verhindern.

Hier mißtrauen heute mehr Menschen als je zuvor der offiziellen Version. Persönlich glaube ich nicht, daß es irgendeine Art von ausgefeilter Operation war, in die weite Teile der staatlichen Geheimdienstmaschinerie einbezogen waren. Viel wichtiger als die Aufdeckung einer Verschwörung finde ich zu analysieren, welche Auswirkungen »9/11« hatte und wie die Anschläge von den Machthabern für ihre Kriegspläne benutzt wurden. Ich habe gerade ein Zitat in junge Welt gelesen, wonach ein früher in Deutschland akkreditierter US-Botschafter sagte: »Ich weiß nicht, was sie getan hätten, wenn der 11. September nicht dagewesen wäre. Man hätte entweder nichts getan oder man hätte einen anderen Anlaß gefunden.« Die Anschläge boten den Imperialisten die Gelegenheit, jene Teile der Welt zu erobern, die in einem bestimmten Maß unabhängig waren. Wichtiger noch als der 11. September war die Tatsache, daß die Sowjetunion nicht länger existierte. Egal wie man die UdSSR einschätzt, so hat ihre bloße Existenz doch die Länder der ehemals kolonialen Welt gestärkt.

In der Tat hat die Bush-Regierung nach dem 11. September sofort einen Krieg gegen Afghanistan vom Zaun gebrochen und sich auch sofort dazu verschworen, einen Krieg gegen Irak zu führen. Mitglieder des Bush-Kabinetts haben Bücher geschrieben, die das enthüllen. George W. Bush, Colin Powell und andere haben die Öffentlichkeit hundertfach belogen, um den Krieg zu rechtfertigen. Das ist alles belegt. Jedoch hat die Kenntnis dieser Verschwörung weder dazu geführt, die Bush-Bande dafür zu bestrafen, noch hat es die Obama-Regierung daran gehindert, das gleiche in Libyen zu tun.

Wir müssen gegen die Kriege mobilisieren und nicht nur auf die Aufdeckung der Verschwörung setzen, wenn wir die Bereitschaft der Leute zum Kampf fördern wollen.

US-Präsident George W. Bush hat in der Folge den grenzenlosen »Krieg gegen den Terror« erklärt und im Oktober 2001 mit Angriffen auf Afghanistan begonnen. Die »Rache« schien vom Großteil der US-Amerikaner gewollt und unterstützt. Gab es damals schon mahnende Stimmen, Gruppen, die den Krieg ablehnten und die Anschläge mit der US-amerikanischen Außenpolitik in Verbindung brachten?

Ich würde das anders ausdrücken. Die Bush-Regierung hatte sich entschieden, in den Krieg zu ziehen. Die herrschenden Kräfte hier und ihre Medien standen 100 Prozent dahinter, und nur sehr wenige Stimmen in der Regierung und unter den gewählten Offiziellen sprachen sich dagegen aus. Die Einmütigkeit war offensichtlich. Trotzdem war es damals möglich, Menschen gegen diese Stimmung zu mobilisieren. Merkwürdigerweise waren gerade Menschen, die in oder nahe New York lebten, nachdenklicher und weniger rachsüchtig als jene in der Mitte des Landes.

Es waren Menschen im linken, antiimperialistischen Flügel der fortschrittlichen Bewegung, Pazifisten, Leute, die im Zusammenhang standen mit fortschrittlichen Kirchen, die sich zum Protest zusammenschlossen. Es gab nächtliche Mahnwachen in New York. Ende September gab es eine Demonstration mit 7000 Teilnehmern in Washington, die nein sagten zum Krieg gegen Afghanistan und dagegen, die Anschläge als Vorwand für die Militarisierung des Landes auszunutzen.

Wie schwer war es, sich schon vor zehn Jahren gegen den Terror des Krieges zu stellen?

Anders als Sie vielleicht denken, war es nicht so schwierig, auf der Straße zu demonstrieren. Natürlich nahmen anfangs nur ein paar Gruppen das Risiko auf sich, isoliert zu werden. Andererseits bot sich entschlosseneren antiimperialistischen Gruppen wie der unsrigen, so klein sie auch war, die Gelegenheit, jenen eine Orientierung zu bieten, die sich in dem damals massenhaft um sich greifenden Klima ernsthaft fragten, »warum wurden gerade die USA angegriffen?«, und nach einer Antwort suchten. Das konnte man sehen, als die Vorbereitungen auf den Irak-Krieg liefen und die Antikriegsbewegung zahlenmäßig am stärksten war.

Es gab sogar Angehörige von »9/11«-Opfern, die dagegen protestierten, daß die Regierung diese Opfer dazu benutzte, den Krieg zu rechtfertigen.

Unter den US-Senatoren war keine Opposition auszumachen, wie es sie noch 1964 gab, als Senator Ernest Gruening aus Alaska und Wayne Morse aus Oregon gegen die Golf-von-Tonkin-Resolution stimmten, die dem Krieg gegen Vietnam die Tür öffnete. Nur ein paar vereinzelte Mitglieder des US-Kongresses widersetzten sich, wie Barbara Lee aus Kalifornien und Cynthia McKinney aus Georgia. McKinney hat gerade eine Tour durch mehr als zwanzig nordamerikanische Städte beendet. Auf Veranstaltungen mit zumeist mehreren hundert Zuhörern rief sie zur Mobilisierung gegen den NATO-Krieg gegen Libyen auf.

Die Bush-Regierung hat die Käfighaltung von Gefangenen in Guantánamo eingeführt und als »Terrorverdächtige« bezeichnete Muslime entführen und foltern lassen. Welche Auswirkungen hatte diese Brutalisierung auf die US-Bevölkerung?

Wie fast alles, was die Bush-Regierung während ihrer achtjährigen Amtszeit zu verantworten hatte, war die Einrichtung des Guantánamo-Gefängnisses ein Verbrechen. Aber die große Mehrheit derer, die in diesem Land über Macht und Geld verfügen, störte das nicht. Folglich berichteten die Medien nur, welche Position die Regierung dazu vertrat. Dagegen regte sich auch keine Massenbewegung. Es gab ein paar fortschrittliche juristische Organisationen – wie z. B. das Committee for Constitutional Rights (Komitee für Verfassungsrechte) –, die sich für die Guantánamo-Gefangenen einsetzten und Rechtsbeschwerden gegen die Regierung einlegten. Dies führte zur Freilassung einiger Gefangener und zu dem Beschluß, keine Militärgerichtsverfahren durchzuführen. Obama versprach, er werde Guantanámo schließen, aber es erfüllt immer noch seine Funktion.

Großgeworden scheint mir die Antikriegsbewegung in den USA erst nach dem Anwachsen des Widerstands im Irak. Je mehr GIs dort starben, desto größer die Ablehnung der Bush-Kriege.

Die größten Demonstrationen fanden statt, bevor der Krieg begann, im Januar und Februar 2003. Das ist dann in den ersten Monaten der Besatzung abgeflaut. Aber es gab im September 2005 noch eine gewaltige Demonstration in Washington D.C. – kurz nachdem der Hurrikan Katrina New Orleans verwüstet hatte. Dieser Protest reflektierte den Erfolg des irakischen Widerstands, der vielen den Eindruck vermittelt hatte, es könnte sich eine Situation wie während des Vietnamkrieges entwickeln. In diesem Krieg führten der Heroismus der vietnamesischen Befreiungskämpfer, die hohen Opferzahlen unter GIs und die Angst vor der Einberufung zu massivem Widerstand an den Universitäten und unter der gesamten Jugend. Das führte wiederum in der US-Armee zu einem stärker strategisch ausgerichteten Widerstand unter den Mannschaftsgraden, der anfing, die Stabilität des US-Militärs zu bedrohen. Und das alles ereignete sich, als der Kampf der schwarzen Bevölkerung für Gleichheit und Freiheit seine Hochzeit hatte und auf alle anderen Kämpfe inspirierend wirkte.

Im Frühjahr 2006 schwächten sektiererische Kämpfe in der Folge des suspekten Bombenanschlags auf die Al-Askari-Moschee (Goldene Moschee) im irakischen Samarra den Widerstand. Unter den GIs gab es weniger Opfer. Sowohl die Antikriegsbewegung zu Hause als auch die unter den Soldaten nahm ab, obwohl sogar ein ansteigender Prozentsatz der Bevölkerung gegen den Krieg eingestellt war, wie Umfragen zeigten.

Barack Obama gewann mit der Maxime »Change« die Präsidentschaftswahlen 2008: Er hatte angekündigt, die US-Truppen komplett aus dem Irak abzuziehen und Guantánamo zu schließen. Beides wird er bis zum Ende seiner Amtszeit nicht realisiert haben. Der »Krieg gegen den Terror« wurde dahingehend beendet, daß die Obama-Regierung den Begriff nicht mehr benutzt – gleichzeitig wurde die Zahl der US-Truppen in Afghanistan massiv erhöht und gegen Pakistan ein »Drohnenkrieg« begonnen. Haben Sie die Hoffnung, die viele in Obama gesetzt haben, geteilt und geglaubt, er würde nach seinem Wahlsieg einen wirklichen Wandel in der US-Außenpolitik einläuten?

Am Ende der Regierungszeit von George W. Bush atmeten Millionen Menschen in- und außerhalb der USA erleichtert auf, weil sie hofften, der US-Imperialismus werde nun die Kriege und Besatzungsregime beenden. In den USA hofften auch viele, die Regierung der Demokratischen Partei unter Barack Hussein Obama werde zumindest die Angriffe auf die Rechte und den Lebensstandard der Arbeiter herunterfahren und die Bürgerrechte der afroamerikanischen Bevölkerung verteidigen. Die mehr als elf Millionen illegal eingewanderten Arbeiter in den USA hofften, Obamas Amtsübernahme werde dazu führen, ihren prekären Status zu beenden.

In den USA mit ihrer Geschichte, die derart von der Sklaverei und der Schreckensherrschaft über Menschen afrikanischer Herkunft durchwoben ist – und angesichts des bis heute virulenten Rassismus –, hat die Wahl eines Politikers mit einem afrikanischen Vater und einem muslimischen Namen sicher enorm positive psychologische und symbolische Auswirkungen. Die schwarze Bevölkerung hat zu über 95 Prozent für Obama gestimmt, bei den Latinos und Latinas waren es 70 Prozent. Gewerkschaftlich organisierte Arbeiter stimmten auch in ihrer großen Mehrheit für Obama.

Gleichzeitig hat Obama aber auch weitaus mehr Spenden von der Wall Street erhalten als sein republikanischer Herausforderer John McCain.

Obama war akzeptabel für die herrschenden Kreise. Analytiker der herrschenden Klasse wie Zbigniew Brzezinski und David Gergen sahen in Obama wegen seiner Arbeit im US-Senat und wegen seines politischen Wirkens in Chicago einen erfahrenen Politiker, der in der Lage wäre, gemäßigte Republikaner und Demokraten dazu zu bringen, zusammenzuarbeiten und Kompromisse einzugehen. Sie strebten eine vereinigte politische Front an, um mit der Wirtschaftskrise fertig zu werden, die im letzten Jahr der Bush-Regierung verheerende Wirkungen zeigte.

Herrschende Kreise in Europa waren ebenfalls froh über Bushs Abgang, weil seine Regierung vor allem in den ersten vier Jahren ihre Agenda auf arrogante Weise durchgesetzt hatte, ohne die Interessen des europäischen Imperialismus zu berücksichtigen. Europas Konzernmedien vermittelten ein extrem positives Bild von Obama. Die Massenkundgebung in Berlin im Juli 2008 vor seiner Wahl hatte sogar einen weitaus größeren Zulauf als seine Wahlveranstaltungen in den USA. Kurz nach seiner Wahl zum US-Präsidenten zeichnete ihn bereits das Nobel-Komitee mit dem Friedensnobelpreis aus, obwohl er nichts dafür getan hatte, irgendwo Frieden zu stiften.

Nachdem Obama gewählt war, teilte ich zwar die Freude darüber, daß das politische Programm Bushs verworfen worden war, und mehr noch darüber, daß es für einen Afroamerikaner möglich war, in den USA Präsident zu werden, aber ich erwartete keine größeren Veränderungen in der aggressiven Außenpolitik des US-Imperialismus. Selbst wenn Obama der fortschrittliche und friedliebende Politiker gewesen wäre, als den ihn so viele Menschen sehen wollten, wäre er immer noch ein einsames Individuum im festen Griff enorm starker Kräfte der herrschenden Klasse gewesen. Die Banken, die Ölkonzerne, der militärisch-industrielle Komplex hätten alle Möglichkeiten, die Spielräume jedweder politischen Figur einzuengen. Das galt noch mehr für jemanden wie Obama, der anders als jene Politiker, die der herrschenden Klasse entstammten – wie Franklin Roosevelt in den 1930er Jahren und John F.Kennedy –, persönlich über keinen politischen Apparat oder Verbindungen zur herrschenden Klasse verfügte, die er als Basis für eine etwas unabhängigere Politik hätte nutzen können. Und obwohl er kein Vorkämpfer für die Bürgerrechte der afroamerikanischen Bevölkerung war, wurde er allein deshalb, daß er ein Afroamerikaner ist, sofort zur Zielscheibe übelster rassistischer und reaktionärer Kräfte.

Das Pentagon machte deutlich, daß es die Kriegspolitik immer noch unter Kontrolle hatte, als die Obama-Regierung im Sommer und Herbst 2009 ihre Afghanistan-Politik einer Überprüfung unterziehen wollte. Mitten hinein in diesen Prozeß bot General Stanley McChrystal dem Präsidenten die Stirn, indem er öffentliche Erklärungen über die absolute Notwendigkeit einer »Truppenaufstockung« für Afghanistan abgab. Das unterminierte Obamas Autorität. Der Präsident genehmigte die geforderte massive Truppenverstärkung von 100000 Soldaten, womit er die Zahl der von Bush entsandten Truppen verdreifachte. Als Gegenleistung bekam er nur die vage Verpflichtungserklärung des Pentagon, im Juli 2011 mit dem Rückzug zu beginnen. Wann auch immer der völlige Rückzug aus Afghanistan oder Irak stattfinden wird, die Ursache dafür wird im Scheitern der Besatzungsregime und der ungeheuren Belastung der Staatskasse liegen, und er ist immer noch nicht geschehen. Unterdessen haben die USA unter der Obama-Regierung ihre Intervention in Pakistan ausgeweitet und Drohnenangriffe gegen Ziele in Jemen und Somalia gerichtet.

Und wie sieht es mit den Gegenkräften in Ihrem Land aus?

Nach einigen Jahren der Stagnation erlebt die Antikriegsbewegung derzeit einen neuen Aufschwung. Am diesjährigen 9.April demonstrierten mehrere zehntausend Menschen in New York City gegen die Kriege in Afghanistan und Irak und die NATO-Aggression gegen Libyen. Forderungen zur Beendigung der Kriege waren auch Teil der zahlreichen Proteste gegen Sparhaushalte in Dutzenden von US-Bundesstaaten und Städten, wo Gruppen junger Leute und Arbeiter, die sich von den Massenprotesten in Spanien und dem Widerstand in Griechenland inspiriert und ermutigt fühlten, Zeltdörfer errichteten.

Es ist schwierig, intelligent über die heutige US-Außenpolitik zu reden, ohne auf die kapitalistische Wirtschaftskrise zu sprechen zu kommen. Seit Obama sein Amt übernahm, hat es die Entwicklung dieser Krise für ihn unmöglich gemacht, die Rolle zu spielen, die er eigentlich übernehmen sollte, nämlich die des geschickten Politikers, der die großen Kompromisse zwischen der Republikanischen und der Demokratischen Partei herbeiführt. Die Arbeitslosigkeit hat sich 2009 offiziell rasch auf zehn Prozent verdoppelt. In der Realität rechnet sich das auf mehr als 17 Prozent Arbeitslose oder Unterbeschäftigte hoch – 25 bis 30 Millionen Menschen. Millionen Menschen sind Langzeitarbeitslose, die keine Aussicht auf einen Job haben. Ganz besonders hart ist die Situation in den afroamerikanischen und Latino-Gemeinden, wo die Arbeitslosigkeit fast doppelt so hoch ist wie im Landesdurchschnitt; noch höher ist sie unter jungen Arbeitern.

Auch wenn es bei Wahlen keinen wirklichen Unterschied zwischen Republikanern und Demokraten gibt, bedeutet das noch lange nicht, daß es keine Massen­opposition gegen die Kriegspolitik gibt, gegen Immigrantenfeindlichkeit, gegen Sozialkürzungen und gewerkschaftsfeindliche Kampagnen. Über diese von der Basis ausgehenden Kämpfe wird in den USA selten in den Medien berichtet und noch weniger im Ausland, aber seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 brodelt es im ganzen Land.

Zur ersten großen Reaktion kam es in Wisconsin, das seit Februar 2011 Zentrum des Widerstands von unten war. Zu dem Zeitpunkt brachte der von der neuen Rechten und der Tea Party unterstützte Gouverneur Scott Walker ein Gesetz auf den Weg, mit dem nicht nur die Mittel für Sozialeinrichtungen gekürzt werden sollten, sondern das Recht der Arbeiter im öffentlichen Dienst beseitigt werden sollte, Tarifverhandlungen kollektiv zu führen. Da sie mit dem Rücken zur Wand standen, mußten sich die Dienstleistungsgewerkschaften von Wisconsin zur Wehr setzen. Gleichzeitig ergriffen Studierende, die an den Universitäten gegen Etatkürzungen kämpften, die Initiative und besetzten das State Capitol in Madison.

Die vier Monate andauernde Mobilisierung der Arbeiter von Wisconsin war seit Jahrzehnten eines der großartigsten Zeichen der Ausdauer, Stärke und Organisationskraft der Gewerkschaften. Dieser Kampf löste national und international eine Welle der Solidarität aus und führte zu einem Anwachsen der öffentlichen Unterstützung für Gewerkschaften. Die Aufstände in der arabischen Welt spiegelten sich darin wider, als Arbeiter und Studierende in Madison T-Shirts mit dem Aufdruck »Walk like an Egyptian« – »Marschier’ wie ein Ägypter«. Die achtzehntägige Besetzung des State Capitol und die Massenkundgebungen erreichten ihren Höhepunkt, als am 12.März geschätzte 185000 Demonstranten das Kapitol in Madison umringten. Leider ist es heute wieder ruhiger geworden in Wisconsin, und die Gewerkschaften konzentrieren sich darauf, eine Abstimmung zur Abwahl von Gouverneur Walker durchzusetzen, um ihn vor dem offiziellen Ende der Wahlperiode aus dem Amt zu vertreiben. Aber die Ereignisse waren ein Beispiel dafür, was sogar unter den härteren Bedingungen möglich sein kann, mit denen Werktätige in den kommenden Jahren konfrontiert sein werden. Weil ich Optimist bin, zähle ich auf das Entstehen einer breit verankerten Massenbewegung, in der sich die organisierte Arbeiterschaft und die Gemeinden, in denen sie leben, zusammenschließen, aber nicht nur, um für die Verteidigung der Arbeiter und Armen zu kämpfen, sondern auch um den Versuch der imperialistischen Großmächte zu vereiteln, die Welt zu rekolonialisieren.

Was werden Sie an diesem 11. September machen?

Am zehnten Jahrestag von »9/11« werde ich zusammen mit anderen Aktivisten und Einwohnern New Yorks direkt dort sein, wo das World Trade Center stand. Wir werden gegen eine rassistische Kundgebung demonstrieren, die von antimuslimischen Kräften für diesen Tag geplant ist. Mit dem breiten Bündnis »Emergency Mobilization Against Racism, War and Anti-Muslim Bigotry« (Notfall-Mobilisierung gegen Rassismus, Krieg und antimuslimischen Fanatismus), das sich 2010 formierte und zum vorjährigen 11. September einen ähnlichen Gegenprotest mit einigen zehntausend Teilnehmern organisierte, hoffen wir, erneut eine Kundgebung zu übertönen, die diesmal sicher viel schwächer sein wird, aber dennoch mit dem Ziel stattfindet, Haß und Angst zu erzeugen, um den Bau eines Islamischen Zentrums in der Nachbarschaft von Ground Zero zu verhindern.

Unser Protest richtet sich auch gegen den Versuch der US-Regierung und lokaler Verantwortlicher, die Gefühle derjenigen auszubeuten, die den Verlust von Menschenleben am 11. September 2001 betrauern, um neue Aggressionskriege rechtfertigen zu können. In der jetzigen Phase der Wirtschaftskrise ist es vor allem wichtig, sich jenen Kräften entgegenzustellen, die Immigranten und Muslime für die zunehmenden Kürzungen der Sozialprogramme, das Anwachsen der Arbeitslosigkeit und die fortgesetzten Kriege die Schuld geben wollen.

Interview: Das Gespräch führte Rüdiger Göbel

[Übersetzung: Jürgen Heiser]

* Aus: junge Welt, 10. September 2011

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