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Im Schatten der Türme

Vom Rechtsstaat zum Machtstaat – und wohin weiter? 9/11 und die Folgen

Von Velten Schäfer *

Wenn es denn so ist, dass am 11. September 2001 ein aus dem früheren Afghanistan-Krieg erwachsenes Terror-Netzwerk die USA mit genau dem Ziel angegriffen hat, sie wie einst die UdSSR in einen zermürbenden Dauerkrieg zu ziehen, dann ist es noch zu früh, Bücher über diesen zehnten Jahrestag zu besprechen. Eine solche Strategie müsste längerfristig angelegt sein – und gerade in den letzen Wochen und Monaten häufen sich Anzeichen, dass sie Erfolg haben könnte. Die USA sind gegenwärtig in einer wirtschaftlichen Situation, in der es den Traditionen ihrer Wirtschaftspolitik entspräche, ein großes Konjunkturprogramm aufzulegen. Doch der Präsident kann nicht handeln. Einerseits wegen der Straßenmobilisierungen des Hetzsenders »Fox« – vor allem aber hat er kein Geld. Afghanistan und Irak haben im Verein mit den Steuergeschenken, die sich Obama nicht zurückzunehmen traute, die Taschen des Kolosses nachhaltig geleert. Die Zyklen der US-Konjunktur werden flacher, ohne dass reagiert werden könnte.

Inwieweit war der 11. September ein »Zeitenwechsel«? In zwei weiteren Jahrzehnten könnten Historiker zu dem Ergebnis kommen, dass der Angriff auf die Zwillingstürme und das Pentagon tatsächlich einen Bruch eingeleitet haben: das Ende der US-amerikanischen Dominanz im Weltsystem. Es wäre das geradezu klassische Ende eines Imperiums: Überdehnung der Kräfte, strategisch unklare, von Dritt-Absichten mitgeprägte Agenden, viel politischer Hochmut – und viel zu weit verbreitete Steuer-Ausnahmen. Der Untergang des Römischen Reiches lässt grüßen. In den USA sind solche Untergangsbücher längst eine Art literarisches Genre. Das Musterland des Kapitalismus scheint pessimistisch zu werden. Und das ist eine Grundlage, auf der es eigentlich nicht existieren kann.

Offen ist, wenn man der jüngsten Akten-Streuung aus dem Bundeskanzleramt via »Spiegel« vertrauen darf, durchaus auch noch die Rolle der deutschen Politik in den Tagen und Wochen nach dem Anschlag. Nach dem, was pünktlich zum Jubiläum publik geworden ist, waren die Amerikaner zunächst gar nicht so begeistert von dem rot-grünen Angebot, die Freiheit am Hindukusch mit zu verteidigen, heißt es nun, die Deutschen hätten sich förmlich vorgedrängt.

Aber wenn wir also noch gar nicht wissen können, ob das Datum tatsächlich für eine historische Zäsur steht, lassen sich am 11. September doch so viele Einschnitte festmachen, dass die »westliche« Gesellschaft vor und nach dem Anschlag auf die Türme mit unterschiedlichen Begriffen beschrieben werden kann. Bernd Greiner zum Beispiel schlägt vor, diese Verschiebungen als Übergang vom »Rechtsstaat zum Machtstaat« zu beschreiben. In dem reportagehaft geschriebenen, fast an einen Internet-Liveticker bei einem Fußballspiel erinnernden Band »9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen« beschreibt der Arbeitsbereichsleiter für Gewaltforschung am Hamburger Institut für Sozialforschung das handstreichartige und unbedingte Obsiegen einer vermeintlichen Staatsraison über alte Prinzipien von Recht und Verhältnismäßigkeit nicht aus einer theoretisierenden Vogelperspektive, sondern Verwaltungschritt um Verwaltungsschritt und Missverständnis um Irrtum. Wenn der »Rechtsstaat« zum »Machtstaat« wird, übersetzt sich der äußere Angriff in eine Mobilisierung gegen die Verfassung.

Greiner beschränkt sich bei seiner Deutung auf die USA, wo der 11. September auch bestens dokumentiert ist. Dennoch gehört es zu den Leerstellen der 9/11-Literatur, dass bisher niemand versucht hat, den bundesdeutschen »September« und seine Folgen zu untersuchen. Weniger spekatkulär, aber mit deutscher Gründlichkeit wurde auch hier ein Rechteabbau-Paket nach dem anderen geschnürt. Vor allem aber werden Historiker einmal feststellen, dass im Umfeld der Twin-Tower-Folgekriege die Berliner Republik die Souveränität über den Krieg zurückgewann – und sich, 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, die Idee vom »gerechten« Waffengang re-etablierte. Auffällig ist dabei, dass der Krieg das politische Lager gewechselt zu haben scheint: Solche »Einsätze« zu befürworten, gilt nach Maßstab der Mehrheitsgesellschaft als progessiv, während die Skepsis gegenüber den Waffen zusehends in eine konservative Ecke gerät. Die Raketentrunkenheit, mit der ein gesellschaftlicher Mainstream zuletzt die Verletzung der Libyen-Resolution durch die einseitige Parteinahme der NATO-Bomber feierte, wäre ohne den 11. September nicht denkbar.

Mit dieser neuen, grün-deutschen Unschuld beim Bombenwerfen ist ein weiteres ungeschriebenes Kapitel der 9/11-Saga angesprochen: die »11. September-Kultur«. Wie diese klingt, wird derzeit wieder besonders häufig vorgespielt: Ausschließlich Molltonarten, tiefe, raunende Bläser, Paukenwirbel, eine internationale Sprache der Gänsehaut. Berichte zum 11. September werden offenbar grundsätzlich mit derselben Musik unterlegt wie Rittergefechte in Kinoschinken.

Dieser Schlachtreihen-Soundtrack zeigt an: Das Unbedingte hat wieder Konjunktur. Mag die politische Kultur den Konservatismus seit Maggie Thatchers Rhetorik »There is no Alternative« die Erpressung gewesen sein, fordert der Apparat nun nicht mehr nur das Fügen in die Verhältnisse, sondern die Entscheidung für Gott und Vaterland – paradigmatisch verkörpert im Hollywood-Agenten Jack Bauer, der in einer amerikanischen »Kultserie« wieder und wieder zur Folter greift.

Epische Schlachten des Guten gegen das Böse stehen ebenso wieder auf dem Programm wie Magie, Reliqiuen, Götter, Helden, Jahrhunderte überspannende Missionen und jede Menge blanke Klinge. Es mag einmal eine »Postmoderne« gegeben haben, als den Menschen nach 1989 historische »Aufträge« und Sinnerzählungen misstraut haben. Mit dem 11. September ist eine neue Zeit der ganz großen Erzählung angebrochen, ein neues Manichäertum auf der Grundlage jener permanenten Mobilisierung, die von Greiner und anderen mit dem Ausdruck des »nervösen Jahrzehnts« umschrieben wird. Diese Dauer-Mobilisierung betrifft auch den innenpolitischen Raum. Wer gestern freihändig über Leben und Tod entschied, wird heute auch in ganz anderen Fragen zur »großen Lösung« neigen. Nicht wenige der braven Alt-Sozialdemokraten und Gewerkschafter, die Gerhard Schröder mit seiner zwischen Afghanistan und Irak erwachsenen »Agenda 2010« so vor die Brust gestoßen hat, fühlten sich nicht umsonst an den Kasernenhof erinnert.

In den USA artikuliert sich inzwischen selbst Widerstandswille vorzugsweise im Phantomschatten der Türme: Das radikalste an Kritik ist dort die Bewegung der »Truther«, die die »offizielle Version« der Anschläge bezweifeln und behaupten, US-Dienste hätten den Plan gekannt, aber absichtlich nicht eingegriffen oder die Attacken gleich selbst inszeniert. Diesen Mechanismus einer Fetischisierung gerade der entschlossensten Opponenten hat der französische Philosoph Jean-Christophe Rufin bereits Jahre zuvor beschrieben: »Jedesmal«, schreibt er, »wenn ein Richter unter Mafiakugeln stirbt, ein Extremist terroristische Anschläge verübt, ein Diktator die Welt der Freiheit und der Menschenrechte herausfordert, wird das gleiche Klagelied angestimmt: Wie verletzlich sind die Demokratien ...« (Rufin, »Die Diktatur des Liberalismus«, Rowohlt, Reinbek 1994) Doch gebe es, meint Rufin im Jahr 1994, keinen Grund, die Demokratien dafür zu bedauern, wenn ihnen Feinde erwachsen. »Denn die sind ihre wertvollsten Verbündeten.«

Die liberale Kultur, so Rufins These, hat im 20. Jahrhundert so viele furchterregende Gegner besiegt, weil sie »aus Schwäche Stärke bezieht«, weil sie Gegnerschaft in gewissem Rahmen gewähren lässt und Widerspruch zuweilen sogar fördert. Sie »integriert« buchstäblich alles; die liberale Kultur maßregelt nicht, sie macht die Gegner erst zum Problem-Anzeiger, dann zum konstruktiven Kritiker und lässt sie schließlich Lösungen für ihre eigenen Probleme finden. Doch allmählich tun sich Zweifel daran auf, ob ihre Führer noch darum wissen, dass es jene »Nachlässigkeit« war, die ihnen so viele Siege gebracht hat.

Bernd Greiner: 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen. C.H. Beck, München 2011. 280 S., geb., 19,95 €.

* Aus: Neues Deutschland, 8. September 2011


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