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Sieg des Terrors über Bürgerrechte

Nach 9/11 sind Orwells Ängste im Alltag angekommen *

Das Mahnmal auf Ground Zero – dort, wo die Twin-Towers in sich zusammensackten, nachdem zwei entführte Linienmaschinen in sie einbrachen – soll an 2982 Menschen erinnern, die umgekommen sind. Die Namen Robert Stevens (63), Florida; Thomas Morris (55), Washington; Joseph Curseen (47), Washington; Kathy Nguyen (61), New York und Ottilie Lundgren (94), Connecticut, sucht man vergebens auf der Liste. Doch auch sie wurden im Herbst 2001 Opfer des Terrors. Die Tatwaffe? Anthrax.

Die Namen der fünf waren von Bedeutung, als es darum ging, den Überfall der USA auf Irak zu begründen. Denn angeblich waren die Postsendungen mit dem tödlichen Pulver durch Diktator Saddam Hussein veranlasst worden. Eine Irak-Connection wurde zwar nie bewiesen, der Krieg fand dennoch statt. Erst viel später hatte die US-Bundespolizei FBI einen Mann namens Bruce Edwards Ivin im Visier. Der US-amerikanische Mikrobiologe und Forscher für B-Waffen am United States Army Medical Research Institute of Infectious Diseases in Fort Detrick wurde durch ganz normale Detektivarbeit – auch ohne die Vollmachten des »Patriot Acts«, der den Diensten unermessliche Macht über die US-Bürger einräumt – ermittelt. Doch ehe man Ivin am 6. August 2008 anklagen konnte, beging der Selbstmord. Wie praktisch ...

Als die ersten Kuverts mit dem tödlichen Pulver aufgetaucht waren, »wussten« Experten, dass Al Qaida die Terroroffensive mit atomaren, biologischen und chemischen Waffen gestartet hat. Dem Sog der angeblichen Gefahr konnten sich auch die in Deutschland für Sicherheit Verantwortlichen nicht entziehen. Man beließ es nicht bei Anthrax-Warnungen. »Bei einem – nicht mehr sicher auszuschließenden – Angriff im Bereich des Bioterrorismus bestünde das bei weitem verheerendste Szenario im Fall eines Anschlages mit Pockenerregern ... Es wäre mit 30 bis 40 Prozent Todesfällen zu rechnen, d.h. etwa 25 Millionen Menschen allein in der Bundesrepublik.«

Das Zitat stammt nicht etwa aus einem Spielberg-Drehbuch, sondern aus einem Geheimpapier des Bundesgesundheitsministeriums vom August 2002, das (wunschgemäß?) in die Medien gelangte. »Spaßvögel« verschickten Briefe mit Mehl, Innenbehörden verteilten im Wochenrhythmus ABC-Spürfahrzeuge an Feuerwehren und das DRK. Mit der Anzahl der staatlichen Terrorwarnungen schnellte die der Denunziationen empor, Polizisten mit Maschinenpistolen wurden zu gewohnten »Stadtmöbeln«, US-Geheimdienstler ging in deutschen Polizeibehörden wie selbstverständlich ein und aus. Logisch, denn angeblich haben die Flugzeugattentäter ihre Terrorzelle in Hamburg gegründet. Unschuldige verschwanden, ausgeliefert an CIA-Geheimgefängnisse, Medien verteilten »Hintergrundgeschichten«, mit denen sie geimpft worden sind, Minister wollten sogar auf eigene Rechnung Flugzeuge abschießen (lassen), so jemand sie gekapert hätte. Der Ruf nach der Bundeswehr im Innern ertönte. Doch die kann ja nicht einmal dem Terror in Afghanistan den Garaus machen.

Plötzlich fragte kaum noch jemand, wie viele Menschenrechte wir wirklich aufgeben müssen, sondern welche wir uns überhaupt noch leisten können. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) forderte, ein »Abwehrbewusstsein in der deutschen Bevölkerung« zu schaffen. Das Parlament funktionierte als Abstimmungsmaschine und verabschiedete hastig seine »Otto-Pakete«.

In diese angeblichen Anti-Terror-Gesetze wurde so ziemlich alles hineingestopft, was bei Sicherheitsfanatikern auf Halde lag. Viele dieser neuen staatlichen Befugnisse dringen tief in Grundrechte ein und ihre Verwendung wird – wie andere nachrichtendienstliche Maßnahmen – in der Regel nicht gerichtlich überprüft. Jeder, mag er noch so unbescholten sein, kann ins Visier geraten: Wer Wand an Wand mit einem Terrorverdächtigen wohnt, wer im falschen Zugabteil sitzt, wer übern »Teich« fliegt oder eine Finanzüberweisung veranlasst, kann erfasst und durchleuchtet werden, ohne je zu erfahren, was, wer mit welchen Erkenntnissen anstellt.

Na und? Nach ein paar Jahren sollten die Gesetze ja entweder automatisch auslaufen oder nach gründlichster Prüfung – Paragraf für Paragraf – verlängert werden. Doch alles wurde zum Automatismus. Auf Basis einer 2005 vorgelegten Selbstevaluation der Sicherheitsbehörden wurden die durch weitere Befugnisse ergänzten Regelungen 2006 unter dem sperrigen Titel »Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz« bis Ende 2011 verlängert. Erst jüngst hat das Kabinett deren abermalige Streckung und Verschärfung beschlossen

Kaum jemand weiß, wie gläsern er inzwischen ist. Beispiel Vorratsdatenspeicherung. Vor allem Unionspolitiker, angeführt vom neuen Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), verlangen immer nachdrücklicher eine Neuregelung dieser Ausforschungsmethode, nachdem das Bundesverfassungsgericht das bisherige Gesetz im Frühjahr 2010 kassierte. Dabei bestellen sie Rückenwind bei der EU in Brüssel, so dass Deutschland quasi gezwungen ist, die halbjährliche Speicherfrist zu übernehmen.

Fast jeder von uns besitzt ein Handy und zieht damit eine immer breiter werdende digitale Schleppe hinter sich her. Alle paar Minuten senden smarte Mobiltelefone unseren Standort, machen uns lokalisierbar. Mobilteile sind geschwätzig, sie verraten, mit wem wir wie lange und wie häufig telefonieren, welche E-Mails wir empfangen. Verbunden mit Erkenntnissen über unser Internetverhalten und den Daten aus dem Telefonfestnetz landet alles bei den Vorratsdatenspeichern.

Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Malte Spitz hat sich vor geraumer Zeit zum Selbstversuch entschlossen. Er klagte bei der Telekom die Herausgabe seiner Vorratsdaten zwischen August 2009 und Februar 2010 ein. Mehr als 35 000 Mal hat er per Mobiltelefon in diesem halben Jahr Informationen preisgegeben. Jede einzelne davon ist im Zweifel unbedeutend und harmlos, in der Summe aber ergeben sie das, was Ermittler ein Profil nennen – ein klares Bild über Gewohnheiten und Vorlieben, ja über das gesamte Leben.

Wer amtlich wissen will, wann Malte Spitz durch welche Straßen in welchem Ort läuft, wann er in welchem Land Bahn fährt, wann er fliegt, der wird bedient. Man kann herausfinden, wann der Abgeordnete arbeitet, wann er schläft, wann man ihn wo am besten erreichen kann, welchem »Italiener« er den Vorzug vor welchem »Griechen« gibt. Die Daten zeigen, wem er lieber eine SMS schickt, mit wem er lieber telefoniert. Es ist also nicht nur das Bewegungs- und Verhaltensprofil erkennbar, sondern auch das von Freunden, der Familie, der Liebsten. Selbst das Ausschalten des Mobilphone sagt etwas aus. Kurzum: Das Leben liegt da wie ein offenes Buch. Wer will, kann den Namen Malte Spitz durch seinen eigenen ersetzen.

Dabei sollte man nicht in den Fehler verfallen, jede einzelne Überwachungsmaßnahme für sich zu bewerten. Erst in der Kombination verschiedener gesetzlicher Anti-Terror-Möglichkeiten lässt sich das Ausmaß des Erkenntnisgewinns diverser Behörden erkennen. Die zudem auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Gremien zusammenarbeiten.

Im Gemeinsamen Terror-Abwehr-Zentrum, das seinen Sitz in Berlin-Treptow hat, sind beispielsweise Vertreter von 40 Behörden aus Bund und Ländern verbunden: Der Bundesnachrichtendienst, die Kriminal- und Verfassungsschutzämter, die Bundespolizei, das Zollkriminalamt, der Militärische Abschirmdienst, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der Generalbundesanwalt ... Und die Behörden wiederum sind international vernetzt. Zumeist geschieht alles unterhalb neuer gesetzlicher Regelungen. Vereinbarungen sind intern und müssen von keinem Parlament genehmigt werden.

»Ich habe nichts zu befürchten, weil ich nichts zu verbergen habe.« Spätestens nach 9/11 ist dieser Satz absurd. Wer immer sich die Terroranschläge in New York und Washington ausgedacht und wer sie ausgeführt hat – sie haben ganze Arbeit geleistet und jenen eine Vorlage gegeben, die – aus welchen edlen oder heimtückischen Gründen heraus – Demokratie und Freiheitsrechte geringer schätzen, als es das Grundgesetz verlangt.

Mit diesem Text endet die ND-Serie zu 9/11. In der Wochenendbeilage vom 10./11.September werden wir uns erneut ausführlich mit diesem Thema beschäftigen.

* Aus: Neues Deutschland, 1. September 2011


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