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Neuorientierung in der Sicherheitspolitik – wie die Anschläge vom 11. September die westlichen Demokratien verändert haben

Ein Beitrag von Otfried Nassauer in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *

Andreas Flocken (Moderator):
An diesem Wochenende jähren sich die Terroranschläge von New York und Washington zum zehnten Mal. Der 11. September oder Nine Eleven – wie man in den USA sagt – war ein Schock – nicht nur für Amerika. Die Attentate haben die USA, aber auch die anderen westlichen Länder verändert. Vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik gab es einen Kurswechsel. Zu den weitreichenden Folgen der Anschläge - Otfried Nassauer:


Manuskript Otfried Nassauer

Die Terroranschläge in New York und Washington kosteten annähernd 3.000 Menschen das Leben. US-Präsident George W. Bush reagierte noch am Abend des 11. September mit der ihm eigenen Deutlichkeit:

O-Ton Bush
„We will make no distinction between the terrorists who committed these acts and those who harbour them.”

„Wir werden keinen Unterschied machen zwischen den Terroristen und denen, die sie beherbergen.“ Die Folgen dieser Ankündigung nannten Bush und seine Mitarbeiter später wahlweise den Krieg gegen den Terror, den Weltkrieg gegen den Terror oder schlicht den Vierten Weltkrieg. Der Krieg begann in Afghanistan, ein zweites Schlachtfeld entstand mit dem Einmarsch im Irak. In anderen Ländern gab es kleinere Militäroperationen, beispielsweise im Jemen, in Somalia oder auf den Philippinen. Bis heute ist der sogenannte War on Terror nicht beendet. Er fordert weiter Opfer.

Zehn Jahre nach Nine Eleven dann ein anderer Ton, eine andere Aussage:

O-Ton Obama
„America, it is time to focus on nation building here at home.”

„Amerika, es ist an der Zeit, sich hier, zu Hause, auf den Wiederaufbau der Nation zu konzentrieren.“ Dieser Appell erfolgte am 22. Juni. US-Präsident Obama kündigte damals den Abzug der ersten US-Kampftruppen aus Afghanistan an. Er verkündete damit einen Paradigmenwechsel: Die Hauptaufgabe liege künftig im eigenen Land und nicht mehr beim Wiederaufbau fremder Staaten. Obama will die Kriege seines Vorgängers mit einem möglichst geringen Gesichtsverlust für die USA beenden: Den Krieg im Irak, den Krieg in Afghanistan und den Krieg gegen den Terror. Sie sind längst zu einer Gefahr für die globale Machtstellung der USA geworden.

Seit den Anschlägen vom 11. September sind zehn Jahre vergangen. Offensichtlich hat sich seitdem viel verändert. Auch in den USA. Die Hoffnung der von vielen konservativen Ideologen durchsetzten Regierung Bush/Cheney, sie könne die Terroranschläge nutzen, um die alleinige Vormachtstellung der USA nun auch in Asien auf Jahrzehnte zu sichern, und die Entwicklungen auf diesem Kontinent steuern, erfüllte sich nicht. Sie erwies sich als Folge von Fehleinschätzungen und Selbstüberschätzung. Der globale Krieg gegen den Terror zeitigte unter Bush nur mäßige Erfolge und geriet bald in den Hintergrund. Dem zunächst bejubelten Einmarsch im Irak folgte schon bald ein vielfältiger bewaffneter Aufstand gegen die Besatzer und gegen die neue irakische Regierung. In Afghanistan kam es nach dem Sturz der Taliban-Regierung zu einer ähnlichen Entwicklung. Zunächst erstarkten die Taliban im Süden und Osten, spätestens ab 2005 in weiteren Landesteilen. Die Regierung Karsai dagegen fand nie eine breite Unterstützung in der Bevölkerung.

Noch unter George Bush begann deshalb unter dem Druck des US-Militärs ein Umdenken: Ob im Irak oder in Afghanistan: Donald Rumsfelds Hoffnung, beide Kriege mit begrenztem Personal- aber massivem Hochtechnologieeinsatz rasch und endgültig gewinnen zu können, erwies sich als Illusion. Wollte man diese Kriege noch erfolgreich und ohne größeren Gesichtsverlust beenden, so half nur noch eines: Die Rückkehr zu einer Strategie der Aufstandsbekämpfung. Dafür aber mussten zusätzliche Soldaten eingesetzt werden. Das Ziel dieses Konzepts: die Aufständischen so weit zu schwächen, bis die örtliche Regierung zumindest vorübergehend über ausreichend starke eigene Sicherheitskräfte verfügt, um sich vorerst an der Macht zu halten, wenn die USA und ihre Verbündeten abziehen. Den Übergang zu einer solchen Strategie vollzog Washington in der zweiten Amtszeit Bushs – allerdings mit mäßigem Erfolg. Barack Obama hatte keine andere Wahl, als die geerbten Kriege mit der weitgehend gleichen Strategie und demselben Führungspersonal anzugehen, obwohl es für deren Erfolg letztlich keine Garantie gibt.

Hinzu kamen ökonomische Entwicklungen, die die USA schwächten: George W. Bush übernahm von seinem Vorgänger Bill Clinton einen Staat, der dabei war, an Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Die USA führten damals keinen Krieg. Der Haushaltsüberschuss war groß genug, um die Staatsverschuldung Jahr für Jahr um einige Hundert Milliarden Dollar abzubauen. Die Wirtschaft florierte, die Arbeitslosigkeit war gering. Bush nutzte diese komfortable Ausgangslage, um in seinem ersten Amtsjahr die Steuern für Wohlhabende und Konzerne deutlich zu senken und den Verteidigungshaushalt zu erhöhen. Seine Regierung sah in den Kriegen in Afghanistan, im Irak und gegen den Terror eine Gelegenheit, die Militärausgaben dauerhaft und deutlich zu erhöhen. In der Folge wuchsen die Verteidigungsausgaben dramatisch – von 316 Milliarden US-Dollar im Jahr 2001 auf 708 Milliarden in diesem Jahr. Die Staatsverschuldung – getrieben von höheren Sicherheitsausgaben, steigenden Zinslasten und Finanzhilfen aufgrund der Bankenkrise – explodierten: Von etwas mehr als fünf Billionen US-Dollar im Jahr 2001 auf 10 Billionen 2008 und um weitere drei Billionen in der Finanzplanung für 2009 und 2010. Bei Obamas Amtsantritt waren die USA in ihrer Handlungsfähigkeit bereits deutlich eingeschränkt. Die Kriege seines Vorgängers baldmöglichst zu beenden, wurde zu einer Notwendigkeit, wenn Obama die globale Führungsrolle der USA nicht gefährden wollte.

Was also sind die wesentlichen Veränderungen, die das erste Jahrzehnt nach den Anschlägen des 11. September überdauerten? Zwei Einschnitte seien genannt.

Bis heute haben die Terroranschläge weitreichende Auswirkungen auf den Bereich der Inneren Sicherheit. Otto Schily – damals Bundesinnenminister – sah diese Chance schon damals:

O-Ton Schily
„Ich glaube, dass dieser Terroranschlag die Dimension erreicht hat, dass er die Welt verändern wird. Ich glaube, dass wir an einer historischen Zäsur stehen. Und wir müssen uns auf eine Zukunft einrichten, bei der viele Dinge, die uns bisher selbstverständlich waren, nicht mehr selbstverständlich sein werden."

Die wehrhafte Demokratie erfüllte ihren Sicherheitsbehörden ohne viel Federlesens lang gehegte Wünsche. In den USA entstand der Patriot Act, in Deutschland die Antiterrorgesetze - Schily’s Otto-Kataloge. Sie gaben den Exekutiv-Behörden Vollmachten, die sich diese schon lange wünschten. Individuelle Freiheiten und der Datenschutz wurden in vielen Bereichen eingeschränkt. Zugunsten einer angestrebten, verbesserten Sicherheit. Diese Gesetze haben die letzten zehn Jahre unabhängig von ihrer Erfolgsbilanz und ihrer Wirksamkeit überdauert. Sie sollen auch weiterhin gelten. Selbst um die Aufrechterhaltung einzelner Bestimmungen, die - wie die Dauer der Vorratsdatenspeicherung – für verfassungsrechtlich unzulässig erklärt wurden, kämpfen die Behörden mit großem Elan. Eine Warnung, die dem früheren US-Präsidenten Benjamin Franklin zugeschrieben wird, gilt also ebenfalls weiterhin: Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.

Die Anschläge vom 11. September haben aber noch zu einer zweiten dauerhaften Veränderung geführt: Das Völkerrecht wurde ausgehöhlt und die Zahl scheinbar legitimer Kriegsgründe ist angestiegen. George W. Bush betrachtete den Krieg gegen den Terror als Selbstverteidigung. Die Vereinten Nationen ließen ihn gewähren, indem sie die Terroranschläge mit einem militärischen Angriff auf die USA gleichsetzten. Die NATO erklärte den Bündnisfall. Beides ging jedoch am Kern des Problems vorbei. Terroristen verfügen über keinen Staat, gegen den man sich rechtmäßig verteidigen könnte. Im Kern waren Bushs Kriege von den Vereinten Nationen geduldete militärische Einmischungen in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten. Ihnen wurde vorgeworfen, Terroristen zu beherbergen oder Massenvernichtungswaffen besessen zu haben. Die Charta der Vereinten Nationen kennt jedoch kein Recht zu einer solchen Einmischung. Es gibt nur viele Regierungen und Politiker, die ein solches Recht immer dann fordern, wenn es ihnen opportun erscheint. Für das politische Ziel eines Einmischungsrechtes wirkte Nine Eleven wie ein Katalysator. Obwohl die Charta der Vereinten Nationen kein Recht zu solchen Interventionen kennt, werden militärische Einmischungen in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten heute immer häufiger und aus einer wachsenden Zahl von Gründen praktiziert. Auch mit Unterstützung der Vereinten Nationen. In Libyen und in der Elfenbeinküste diente jüngst der Schutz der Zivilbevölkerung, genauer die Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft für die Zivilbevölkerung, als Begründung. Auffällig ist nur, dass am Ende solcher Einmischungen meist ein und dasselbe Ergebnis steht: Der Sturz einer unliebsamen Regierung. Den Regimewechsel aber kennt das Völkerrecht bislang nicht als rechtmäßigen Kriegsgrund.

* Quelle: NDR Info Das Forum, STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, 10. September 2011; www.ndrinfo.de


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