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Die Strategie der Allianz und die Mission in Afghanistan

Rede des Bundesverteidigungsministers Franz Josef Jung auf der 45. Münchner Sicherheitskonferenz

München, 08.02.2009

Die Strategie der Allianz und die Mission in Afghanistan, so lautet die Überschrift der Rede von Verteidigungsminister Dr. Franz Josef Jung anlässlich der 45. Münchner Sicherheitskonferenz am 8. Februar 2009.

Lieber Wolfgang Ischinger, Exzellenzen, Meine Damen und Herren,

ich freue mich, heute einleitend zur Strategie der Allianz aber auch zur Situation in Afghanistan zu Ihnen sprechen zu können. Wir feiern in diesem Jahr 60 Jahre NATO. Und wir feiern in Deutschland 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland und 20 Jahre Fall der Berliner Mauer. Wir wissen sehr genau, dass wir ohne die Einbindung in die NATO, ohne die Unterstützung unserer Verbündeten für Sicherheit, für Frieden und Freiheit diese Jubiläen in Deutschland, in einem geeinten Vaterland, nicht feiern könnten, und deshalb möchte ich meinen besonderen Dank gegenüber den Verbündeten, aber auch gegenüber der NATO zum Ausdruck bringen für diese Unterstützung im Interesse von Frieden und Freiheit unseres Vaterlandes.

Es gilt aber, sich nicht auf den Lorbeeren auszuruhen, sondern sich den neuen Herausforderungen zu stellen, gemäß einem Zitat, eben nicht die Asche zu bewahren, sondern die Glut neu zu entfachen. Auf dem NATO-Jubiläumsgipfel jetzt im April in Straßburg und Kehl respektive Baden-Baden wird ein neues strategisches Konzept in Auftrag geben werden. Unsere Bundeskanzlerin hat gerade gestern darauf hingewiesen, dass wir, aus meiner Sicht sehr zu Recht, den strategisch-politischen Dialog in der NATO brauchen. Und deshalb möchte ich gerne 10 Punkte hier vortragen, die das neue strategische Konzept auch beinhalten sollte.
  • Erstens: Das neue Strategische Konzept muss es Mitgliedstaaten ermöglichen, zu einem neuen Konsens über die Rolle, Funktionen und Aufgaben der Allianz finden.
  • Zweitens: Es geht dabei mehr um eine Erneuerung des Bewährten, als um eine vollständige Neuentwicklung. Fast alle zentralen Punkte des Konzepts von 1999 sind weiterhin richtig. Sicherheit, Konsultation, Abschreckung und Verteidigung sowie Krisenbewältigung und Partnerschaft haben nichts an Relevanz verloren.
  • Drittens: Die Allianz muss die richtige Balance zwischen kollektiver Verteidigung gemäß Artikel 5 und Krisenmanagement und Stabilitätstransfer bewahren.
  • Viertens: Zur Abschreckung bedarf es des dafür nötigen breiten Spektrums an militärischen Fähigkeiten.
  • Fünftens: Wir brauchen neue Initiativen zu Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung von Massenvernichtungsmitteln. Und wir brauchen eine weitere signifikante Absenkung der immer noch hohen nuklearen Gefechtskopfbestände weltweit.
  • Sechstens: Das Bündnis hält weiterhin an einer Politik der offenen Tür fest, bei Wahrung der gemeinsamen Wertegrundlagen. Die partnerschaftlichen Beziehungen sind noch effektiver zu gestalten.
  • Siebtens: Wir brauchen Russland als echten strategischen Partner, so wie wir dies vor über 10 Jahren in der NATO-Russland-Grundakte angelegt haben. Diese Partnerschaft und das gegenseitige Vertrauen gilt es auszubauen.
  • Achtens: Der Comprehensive Approach, unser Konzept Vernetzter Sicherheit, muss ein Kernstück des neuen Strategischen Konzepts werden.
  • Neuntens: Wir müssen unsere Fähigkeiten verbessern. Wir brauchen flexible, verlegbare und durchhaltefähige Kräfte über das gesamte Spektrum. Und:
  • Zehntens: Die Verteidigungsplanungsprozesse in NATO und Europa müssen enger miteinander harmonisiert und auch synchronisiert werden.
Unser Engagement in Afghanistan macht die Notwendigkeit eines neuen strategischen Konzeptes der NATO deutlich. Das letzte strategische Konzept stammt aus dem Jahr 1999. Und allein dies verdeutlicht, wo hier eine Erneuerung erfolgen muss. Wir sind mit der NATO seit 2003 in Afghanistan im Einsatz. Aber wir haben erst im letzten Jahr im April 2008 auf dem Gipfel in Bukarest die Gesamtstrategie für Afghanistan beschlossen. Ich finde, der Prozess muss in Zukunft umgekehrt sein; denn wir müssen wissen, wenn wir derartige Einsätze vollziehen, in welcher Art und Weise und mit welcher Strategie wir unseren Auftrag dort auch erfüllen.

Der amerikanische Vizepräsident Joe Biden hat gestern von diesem Pult sehr zu Recht für das noch engere Zusammenwirken zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch für die Umsetzung des umfassenden Ansatzes geworben. Es ist mehr als notwendig, dass wir in Afghanistan diesen Prozess noch effektiver gestalten – ohne Sicherheit keine Entwicklung, aber ohne Entwicklung auch keine Sicherheit. Allein militärisch werden wir in Afghanistan nicht erfolgreich sein.

Es gilt, den Afghanistan Compact, den wir 2006 beschlossen haben, auch in die Wirklichkeit umzusetzen. Er umfasst Security, Economic Development und Good Governance. Gerade auch der dritte Punkt gehört dazu. Wir müssen besonders in der öffentlichen Diskussion deutlich machen, welchen erfolgreichen Weg wir bereits in Afghanistan zurückgelegt haben.

Wir haben 28 Millionen Menschen von der Terrorherrschaft der Taliban befreit. Wir haben in Afghanistan eine Verfassung, einen gewählten Präsidenten und ein gewähltes Parlament. In diesem Jahr stehen wir wieder vor Präsidentschaftswahlen. Wir haben eine wesentliche Verbesserung der Situation in den Schulen, nicht nur, dass die Mädchen wieder in die Schulen können, sondern wir hatten 2001 rund eine Million Kinder in den Schulen und haben jetzt fast sieben Millionen Kinder in den Schulen in Afghanistan.

Es gibt dort wieder Universitäten. Die medizinische Grundversorgung ist zu etwa 85 Prozent gesichert. Wesentliche Verbesserungen der Infrastruktur, von Wasserversorgung, Energieversorgung, und Straßenbau, um nur einiges zu nennen, wurden erreicht. Aber wir müssen insbesondere im Hinblick auch auf den zivilen Wiederaufbau und die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte noch effektiver werden – konkret: Wir müssen die Ausbildung der afghanischen Streitkräfte und der Polizei weiter verstärken. Deutschland hat sein Engagement in diesem Bereich gegenüber 2007 verdreifacht. Wir haben in diesem Jahr sieben OMLT im Einsatz. Wir werden in Kürze rund 7.500 afghanische Streitkräfte ausgebildet haben. Gemeinsam mit Frankreich und anderen Partnern bauen wir die Logistikschule in Kabul auf, die Pionierschule, die Verteidigungsakademie.

Ein wichtiger Erfolg wird oftmals übersehen: Afghanische Sicherheitskräfte haben bereits die Verantwortung für die Stadt Kabul übernommen. Weitere Distrikte werden in diesem Jahr folgen. Wenn ich über den zivilen Wiederaufbau spreche, verweise ich darauf, dass es nicht genügt, dass wir in Konferenzen beschließen, 20 Milliarden Euro einzusetzen, um hier in Afghanistan zu helfen. Diese 20 Milliarden Euro müssen dann auch bei den Menschen ankommen.

Wir haben entschieden, dass wir unsere Wiederaufbaumaßnahmen von gegenwärtig 80 Millionen Euro in diesem Jahr auf 170 Millionen Euro erhöhen, insbesondere auch unter dem Aspekt der Winterhilfe. Und mein Eindruck ist, dass diese Winterhilfe sehr gut angekommen ist, den Menschen sehr geholfen hat und die Menschen gespürt haben, dass wir an ihrer Seite stehen. Wir haben dadurch bei der afghanischen Bevölkerung zusätzliches Vertrauen gewonnen. Das ist der richtige Ansatz, um letztlich in Afghanistan erfolgreich zu sein.

Mit der Bundeswehr haben wir mit diesem Ansatz schon früher begonnen. Wir haben 2003 das PRT in Kunduz gegründet und wir haben im Januar 2004 das PRT in Feyzabad gegründet. Wir sind mittlerweile mit unseren Verbündeten in allen Provinzen des Nordens entsprechend engagiert, den fast 30 Prozent der Menschen Afghanistans bevölkern. Die Bundeswehr hat dort 830 Projekte von Wasserversorgung, Energieversorgung, Schulen, Kindergärten bis zu Krankenhäusern umgesetzt und hat dadurch – wie mir gerade Stammesälteste wieder versichert haben – 90 Prozent der Zustimmung der afghanischen Bevölkerung erfahren. Dies müssen wir für Gesamtafghanistan erreichen, um insgesamt erfolgreich zu sein.

Sehr wichtig ist auch der Einsatz des Provincial Development Fund, bei dem unsere Kommandeure mit den Stammesältesten beraten, in welchen Dörfern welche Maßnahmen umgesetzt werden, so dass die Menschen sehr unmittelbar spüren, wo ihnen Unterstützung zuteil wird. Aus meiner Sicht konzentriert sich die Diskussion um Afghanistan viel zu oft auf den militärischen Bereich. Darauf, dass wir unsere Obergrenze von 3.500 auf 4.500 Soldatinnen und Soldaten erhöht haben und dass wir die Quick Reaction Force, die Schnellen Einsatzkräfte, verstärken, um für mehr Sicherheit zu sorgen. Wenn, wie unsere amerikanischen Freunde angekündigt haben, sie auch noch weiter verstärken, werden wir zusammen mit den afghanischen Kräften rund 160.000 Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan haben.

Nach meiner Einschätzung – ich habe dies noch einmal mit unseren afghanischen Freunden abgestimmt – gibt es etwa 1.500 gewaltbereite afghanische Terroristen. Und deshalb muss man auch die Relation richtig sehen. Der militärische Ansatz ist ausreichend. Wir brauchen den zivilen Wiederaufbau und die Ausbildung der afghanischen Streitkräfte. Wenn heute gefordert wird, wir sollen Ziele definieren, dann halte ich dies für richtig. In dieser Frage sind wir in Bukarest einen entscheidenden Schritt vorangekommen.

Wir haben gesagt, wir brauchen rund 134.000 ausgebildete afghanische Streitkräfte und in etwa auch eine solche Zahl afghanische Polizei. Wir haben bis jetzt ca. 70.000 Angehörige der afghanischen Streitkräfte ausgebildet, d.h. weitere 65.000 sind noch auszubilden. Und wir haben rund 35.000 afghanische Polizisten ausgebildet, also fehlen noch etwa 100.000. Damit ist die Zielmarke deutlich. Und damit wird auch klar, wo wir uns zusätzlich engagieren müssen. Wir müssen unsere europäischen Anstrengungen im Bereich Ausbildung der Polizei noch weiter verstärken, um die Zielmarke in einem vernünftigen Zeitraum erreichen zu können.

Mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen haben wir die Wählerregistrierung im Norden abgeschlossen. Voraussichtlich werden unsere Verbündeten die Wählerregistrierung in ihren Verantwortungsbereichen bis Ende Februar ebenfalls abgeschlossen haben, so dass dann die Voraussetzung für Wahlen gegeben ist.

Im Hinblick auf den Stabilisierungsprozess in Afghanistan darf das Thema der regionalen Sicherheit nicht aus den Augen geraten. Konkret die Frage des Dialogs mit denjenigen, die eine lange Grenze zu Afghanistan haben, wie der Iran, aber mehr noch Pakistan. Pakistan, das Swat Valley und die Tribal Areas, sind Rückzugsräume für die Taliban und Rekrutierungsgebiete für terroristische Aktivitäten, die dann nach Afghanistan hineinwirken. Wir müssen in diesem Bereich gerade auch zur Grenzsicherung ebenfalls noch effektiver zusammenwirken – auch und gerade mit Pakistan. Deshalb hoffe ich, dass die Drei-Parteien-Kommission zwischen ISAF, Pakistan und Afghanistan hier zu konkreten Ergebnissen kommt. Wir müssen Pakistan im Rahmen des Comprehensive Approach helfen, die problematischen Gebiete, insbesondere die Flüchtlingsgebiete, so zu gestalten, dass die Menschen sich dort von terroristischen Aktivitäten abwenden.

Zum Schluss ein Gedanke, der in der öffentlichen Diskussion einen Schwerpunkt darstellt: Wenn wir das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen wollen, müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, um zivile Opfer in Afghanistan zu vermeiden. Die Strategie der Taliban ist darauf ausgerichtet, zivile Opfer zu verursachen. Ganz bewusst inszenieren sie solche Anschläge in Kenntnis von politischen Diskussionen. Aber nichtsdestotrotz müssen wir, wenn wir die Herzen und Köpfe der Menschen gewinnen wollen, sehr sensibel reagieren, und zivile Opfer möglichst vermeiden.

Mit einer effektiven Umsetzung des Comprehensive Approach, mit einer noch effektiveren Gestaltung des Zusammenwirkens militärischer Sicherheit und zivilen Wiederaufbaus, aber auch Ausbildung von afghanischen Sicherheitskräften werden wir in der großen Herausforderung für die NATO gemeinsam erfolgreich sein. Gemeinsam erfolgreich im Interesse von Stabilität in Afghanistan, aber auch im Interesse von Sicherheit, Frieden und Freiheit unserer Bürgerinnen und Bürger.

Ich danke Ihnen.

Quelle: Website des Verteidigungsministeriums; www.bmvg.de


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