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"Die NATO und die EU sind für uns die beiden Seiten derselben Sicherheits- und Verteidigungspolitik"

Rede des französischen Verteidigungsministers Hervé Morin auf der 44. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik (Auszüge

09.02.2008

(...) Das Bündnis muss sich erneuern, damit es immer reaktiver und flexibler wird und so der zunehmend instabilen und unvorhersehbaren Zeit entspricht, in der wir leben. (...)

Eine besondere Frage in dieser Debatte ist die gemeinsame Finanzierung. Wir sollten auf die NATO und auf die Europäische Union dieselben Regeln anwenden. Es ist nicht normal, dass manche in einer Struktur Anstrengungen hinnehmen, die sie in einer anderen ablehnen. Wenn wir diese Art von Blockade überwinden, werden wir die Erneuerung des Bündnisses und zugleich das Europa der Verteidigung voranbringen.

Dann die Problematik der Grenzen. Bis wohin soll sich das Bündnis ausweiten: Wo bleiben wir stehen? Wir werden in Bukarest einige besondere Fälle behandeln, doch müssen wir globaler denken. Ich selbst bin der Ansicht, dass wir Teil einer euro-atlantischen Gemeinschaft sind, einer Wertegemeinschaft auf gemeinsamen philosophischen Grundlagen, auf gemeinsamen Fundamenten. (...)

Was soll aus der NATO werden? Für mich ist die Grundlage unseres Bündnisses eine militärische Allianz, in deren Zentrum Artikel 5, die juristische Basis für unsere gemeinsame Verteidigung, steht. Die NATO hat sich nach und nach die Fähigkeiten zur Krisenbewältigung verschafft. Sie führt heute Einsätze außerhalb des Bündnisgebiets. Soll sie ein Werkzeug zur globalen Stabilisierung werden? Eine Art „Weltpolizist“, bis hin zur Konkurrenz mit der UNO?

Dies sind keine theoretischen Überlegungen: Sie finden vielmehr sehr konkret und unmittelbar Niederschlag, nämlich in Afghanistan, worüber wir in Wilna debattiert haben. (...)

Die Lösung für Afghanistan ist nicht einfach militärischer Art, wie wir sehr wohl wissen, auch wenn vielleicht kurzfristig eine zusätzliche Anstrengung erforderlich ist. Das militärische Vorgehen wird fruchtlos bleiben, wenn darauf nicht wirklich umfassende Maßnahmen vor Ort folgen. (...)

Die Lösung ist zwar nicht militärischer Art, aber sie besteht auch nicht darin, aus dem Nichts in diesem Land eine Demokratie nach westlichem Muster zu schaffen: Wir können auf dieses Land nicht eine westliche ethno-zentrierte Sicht anwenden. Wir müssen in unseren Ansatz das ganze Gewicht der Geschichte und der verschiedenen Kulturen einbringen. Frankreich vertritt diese Vorstellung seit langem schon (...).

Wenn wir heute in Afghanistan sowohl auf militärischer als auch auf ziviler Ebene handeln, dann bereiten wir damit unsere Sicherheit von morgen vor. (...)

Wenn wir die Zukunft möglich machen wollen, dann müssen wir unser Ziel im Auge behalten: Ein stabiles Land in der Hand der Afghanen. Die Militäreinsätze sind nur ein Bestandteil – wenn auch ein wesentlicher im Kampf gegen Al Kaida –, um dahin zu gelangen.

Wenn wir heute für unsere Sicherheit von morgen aktiv werden wollen, dann bedeutet das also zum einen, dass wir über die erforderlichen Handlungsmöglichkeiten verfügen und zum anderen, dass wir unsere Strategie an die afghanische Situation anpassen und sie nicht zuletzt unserer Öffentlichkeit verständlich machen müssen.

Wir müssen über die Mittel zur Intervention verfügen und konkret unserem Handlungswillen Ausdruck verleihen. Die Schwierigkeiten in Sachen Streitkräfteaufstellung, die Fragestellung einiger Bündnispartner betreffend die tatsächliche Solidarität innerhalb der Allianz sind ebenso ernst zu nehmende Fragen. Dass weniger als ein Zehntel unserer Truppen verlegefähig sind oder dass nicht ein Dutzend schwere Transporthubschrauber geliefert werden können – das finde ich schon erstaunlich.

Das alles muss uns zusammen dazu bringen, dass wir Verteidigungsanstrengungen unternehmen, die den Herausforderungen angemessen sind, vor denen wir stehen. (...)

Zum einen müssen wir zusammen im Bündnis und in jeder unserer Hauptstädte eine öffentliche Diplomatie betreiben, um unsere Öffentlichkeit und unsere nationalen Vertretungen von der Richtigkeit und Sachdienlichkeit unseres Vorgehens in Afghanistan zu überzeugen. Zum anderen müssen wir vor Ort gezielte und dieser Krisenart angemessene militärische und zivile Maßnahmen miteinander verknüpfen, was über eine bessere Koordinierung zwischen den Akteuren zu erreichen ist. (...)

Ich bin überzeugt davon, dass die Schwierigkeiten, die wir - in Afghanistan wie im Tschad - bei der Streitkräfteaufstellung haben, nichts anderes sind als der militärische Ausdruck für die politische Resignation Europas. Europa akzeptiert sich nicht. Es gefällt sich in der Situation der Abhängigkeit. Die Vereinigten Staaten bedauern dies, haben sich aber zugleich lange damit zufrieden gegeben – in einer Art Schizophrenie. Ich habe vergangene Woche in Washington lange mit meinem Freund Robert Gates darüber gesprochen. Europa muss in der Tat mehr tun, um seinen Teil an der Verteidigungslast zu übernehmen, aber die europäischen Nationen werden dies nur tun, wenn ihnen ihre eigene Verantwortung bewusst wird; und dieses Bewusstsein wird sich nur einstellen, wenn sie sich aus der Infantilisierung befreien, in der man sie gefangen hält. Erst wenn sie erwachsen werden, werden sie zusätzliche Anstrengungen unternehmen. (...)

Bukarest muss ein Zeichen für die Transformation des Bündnisses sein und zugleich der Zeitpunkt, zu dem die Europäer beschließen, ihren Teil der Last zu tragen. Und das muss in einem verantwortungsvollen Schritt erfolgen, der akzeptiert wird, und nicht in einem umgekehrten Berlin plus. Europa kann sich nicht damit zufriedengeben, die zivile Agentur der NATO zu sein. (...)

Es gibt mehr Krisen als Fähigkeiten, sie zu bewältigen. So sind die Europäische Union und die NATO beide nötig und ergänzen sich gegenseitig.

Der Umfang der Bedrohung und das Gewicht dessen, was auf dem Spiel steht, zwingen uns dazu, die besten Mittel und Wege zu finden, um zu handeln, wobei je nach Vorteil und Krise die eine oder die andere Organisation zum Einsatz kommt. Wie der Staatspräsident erst neulich gesagt hat, macht es keinen Sinn, sie im Widerspruch zu sehen, weil die NATO und die EU für uns die beiden Seiten derselben Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind.
Wir können – und ich würde sogar sagen, wir müssen – gleichzeitig auf eine Verstärkung des Europa der Verteidigung und auf die Schaffung einer reaktiveren und flexibleren NATO hinwirken. (...)

Die Bilanz des Europa der Verteidigung ist unbestritten, jetzt, da die EU sich anschickt, einen neuen autonomen militärischen Einsatz in Tschad und in der Zentralafrikanischen Republik in Gang zu bringen. (...) Wer hätte noch vor zehn Jahren gedacht, dass die Europäische Union hunderte von irischen, polnischen, schwedischen, lettischen u. a. Soldaten auf einen der schwierigsten afrikanischen Schauplätze verlegt?

Ich sehe darin einen starken Willen zur Einbindung der Mitgliedstaaten (...). Ich sehe darin auch das Zeichen für eine neue Reife der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. (...)

Eine der Prioritäten der französischen EU-Präsidentschaft wird die Verstärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeiten sein. Frankreich hat beschlossen, jede Gelegenheit wie auch die Instrumente zu nutzen, die uns durch den Vertrag von Lissabon gegeben sind, um die ESVP konkret zu verstärken und um mit den Mitgliedstaaten die Herstellung von Fähigkeiten zur Krisenbewältigung durch Zusammenlegung in Gang zu bringen.

Das Europa der Verteidigung aufbauen zu wollen, ist weitaus mehr als eine persönliche Überzeugung: Es ist auch die Schlussfolgerung aus einer pragmatischen Analyse. Es ist höchste Zeit, dass wir die Interessen unseres Kontinents berücksichtigen, vor allem die Herausforderung durch die regionale Stabilität in der Nachbarschaft einer EU, die mehr als 450 Millionen Einwohner zählt und deren BIP ein Viertel der Weltproduktion ausmacht. Wenn man gemeinsame Interessen geschaffen hat, dann muss man sie auch gemeinsam verteidigen. (...)

Unsere Botschaft ist auch eine Botschaft des Friedens und der Menschlichkeit (...), eine Botschaft des Optimismus und des Vertrauens für die ganze Welt, besonders in Afrika: Es ist uns gelungen, aus einem zerrissenen Kontinent einen Kontinent zu bilden, der in Harmonie und Wohlstand lebt. Europa ist eine „Schule des Friedens und der Stabilität“, wie ein europäischer Staatschef gesagt hat. Genau das müssen wir aufbauen und mit anderen teilen.

Wir müssen es aus der Vorstellung des Teilens heraus aufbauen; aus der Verantwortung heraus, die einige zum Nutzen von allen übernehmen. Hier geht es nicht um die Aufgabe, sondern um den Übergang zu einer neuen Form der Souveränität, einer kollektiven Souveränität. (...)

Die Mittel der NATO und die der Europäische Union stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern ergänzen sich gegenseitig. Wir schlagen vor, dass einige Nationen für andere bestimmte Aufgaben oder Funktionen übernehmen, die ihnen ihre militärischen Fähigkeiten möglich machen – ich denke zum Beispiel an das, was die NATO für die Luftverteidigung getan hat. (...)

Eine starke europäische Verteidigung aufzubauen heißt letztlich, dass wir uns die Mittel verschaffen, um Einfluss in der Welt zu haben. (...) Um auf die Krisen von heute und morgen zu reagieren, brauchen wir ein starkes Europa an der Seite unserer amerikanischen Bündnispartner wie auch eines starken Bündnisses. (...)

Der Blick Frankreichs auf die NATO hat sich zwangsläufig verändert und veranlasst natürlich zu einer neuen Betrachtung unseres Verhältnisses zur NATO, und zwar als Bündnispartner wie auch als Vorschlagskraft. Die Neubearbeitung des strategischen Konzepts und der Gipfel zum 60. Jahrestag dürften diesbezüglich die beiden wichtigen Ereignisse des kommenden Jahres für die Erneuerung des Bündnisses sein.

Das Europa der Verteidigung ist in unseren Augen eine ebenso starke strategische Notwendigkeit. Es ist unsere Aufgabe, es weiter zu entwickeln, damit es in gutem Einvernehmen mit dem Atlantischen Bündnis steht, ob die beiden Organisationen nun gleichzeitig verlegt werden oder nicht. (...)

Quelle: Homepage der "Sicherheitskonferenz": www.securityconference.de


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