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"Ein transatlantisches Bündnis ist besser, als wenn der Atlantik uns trennt"

Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der 43. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik

Im Folgenden dokumentieren wir im Rahmen unserer Berichterstattung über die 43. Münchener "Sicherheitskonferenz" (früher "Wehrkundetagung") die Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie sprach am Samstag, 10. Februar, im Hotel "Bayerischer Hof".



Sehr geehrter Herr Teltschik,
meine Damen und Herren!

Wir alle in diesem Saal und weit darüber hinaus wissen: Unsere Welt ist in vielerlei Hinsicht bedroht, und unsere Welt hat viele Chancen. Deshalb ist diese Konferenz, lieber Herr Teltschik, mit dem Thema „Globale Krisen - globale Verantwortung“ wichtiger denn je. Unsere Welt ist bedroht, und, ja, unsere Welt hat viele Chancen. Wir müssen beides gleichermaßen erkennen und auch für uns annehmen. Dazu müssen wir zuerst einmal verstehen, was diese Bedrohungen in unserer heutigen Zeit auszeichnet und wie das Wesen von angemessenen, akzeptablen Antworten aussehen kann.

Es gilt die Frage zu beantworten: Ist es denn nicht so, dass Länder und Völker unter dem Eindruck von Krisen immer wieder zusammengerückt sind, wenn sie diese Krisen überwinden und bewältigen wollten? War nicht z. B. die europäische Einigungsidee aus der Erfahrung entstanden, dass die europäischen Nationalstaaten ihren jahrhundertelangen Teufelskreis von Krieg und Zerstörung alleine nie würden durchbrechen können und dass sie nur in der Gemeinschaft mit anderen ihren jeweils eigenen nationalen Interessen in einer immer stärker zusammenrückenden Welt dienen können? War nicht auch die Gründung der transatlantischen Partnerschaft, die Gründung der NATO, Ausdruck dieses Verständnisses, um gemeinsame Werte behaupten und gemeinsame Interessen durchsetzen zu können?

(Ausgehend von) diesen Fragen, die ich hinsichtlich der Vergangenheit stelle, frage ich: Wie ist es heute? Wenn wir auf unseren Planeten schauen, dann gibt es vielerlei Bedrohungen. Ich möchte mit einer ökologisch-ökonomischen beginnen, die mit den klassischen Bedrohungen, die hier diskutiert werden, gar nichts zu tun hat: Wenn wir den Berichten der Klimaforscher glauben dürfen, dann ist die Erwärmung der Erde nämlich eine der ganz großen mittel- und langfristigen Bedrohungen, die dramatische Folgen wie Flüchtlingsströme und kriegerische Auseinandersetzungen haben könnte.

Eines ist vollkommen klar: Diese Bedrohung ist eine globale, die jeden erreicht, vor der keiner weglaufen kann und die wir nur gemeinsam bewältigen können. Das (erfordert) also ein Handeln gegen Bedrohungen, die global sind und die kein Volk, kein Land und keinen Kontinent unberührt lassen. Das sind Bedrohungen, die uns auch nicht ausweichen lassen. Das heißt, wir müssen uns miteinander verständigen und zusammenrücken. Genau das ist auch die Philosophie von internationalen Abkommen, in diesem Fall z. B. zur CO2-Senkung. Es ist also ganz genau so, lieber Herr Teltschik, wie Sie es gesagt haben: Globale Bedrohung - globale Verantwortung. Das gilt schon, obwohl ich noch gar nicht über die klassischen Konflikte gesprochen habe, die uns natürlich bewegen.

Globale Krisen in globaler Verantwortung anzunehmen, das verlangt ein neues, umfassendes Verständnis von Sicherheit. Weder beginnt noch endet unsere Sicherheitspolitik mit militärischen Einsätzen innerhalb der NATO oder der Europäischen Union oder mit finanziellen und personellen Beiträgen zu UN-Friedenstruppen. Noch etwas weiter zugespitzt: Wer Krisen vorbeugen, wer Krisen nachhaltig überwinden will, der kann nicht alleine handeln, und der muss auch die Fähigkeit aufbringen, in Hoffnung und Zuversicht zu investieren, in Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit, in gute Regierungsführung und wirtschaftlichen Aufbau, in Bildung und Gesundheit. Kurzum: Der muss in umfassendem Sinne in menschliche Entwicklung investieren. Das ist nach meiner Auffassung globale Verantwortung gegenüber globalen Herausforderungen.

Meine Damen und Herren, geradezu wie in einem Brennglas zeigt sich die Notwendigkeit dieses Ansatzes im Nahen und Mittleren Osten. Seit Jahrzehnten wird dort für den Frieden und die Vision einer Zwei-Staaten-Lösung von Israel und Palästina gearbeitet. Ebenfalls seit Jahrzehnten müssen Generationen von Politikern aus der Region selbst, aus den Vereinigten Staaten von Amerika, aus Europa sowie Vertreter der UNO immer wieder und wieder Rückschläge und Enttäuschungen erleben.

Die Frage ist: Dürfen wir es uns trotz dieser Rückschläge und Enttäuschungen leisten, aufzugeben? Dürfen wir das den leidgeprüften Menschen in der Region zumuten? Umgekehrt gefragt: Können wir uns das in unserem ureigenen, umfassenden Sicherheitsinteresse in dieser Welt - ich sage jetzt einmal: in Europa - überhaupt leisten? - Für mich ist die Antwort ein ganz klares Nein! Die Palästinenser wie die Israelis haben ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in zwei lebensfähigen, prosperierenden Staaten, Seite an Seite, in Frieden, Würde und sicheren Grenzen. Die Menschen dort haben ein Recht auf ein Leben ohne Angst vor Terror und Gewalt und mit der Perspektive auf eine bessere Zukunft.

Genau aus diesem Grunde machen die Ergebnisse der Verhandlungen zur Bildung einer palästinensischen Regierung der nationalen Einheit in Mekka Mut. Ich weiß: Vieles bleibt zu tun. Ich weiß auch, dass erreicht werden muss, dass die drei Voraussetzungen für eine internationale Unterstützung der neuen palästinensischen Regierung erfüllt sein müssen: eine Absage an die Gewalt, die Anerkennung des Existenzrechts Israels und die Einhaltung der bislang geschlossenen Vereinbarungen.

Aber - ich sage das als deutsche Bundeskanzlerin und auch als EU-Ratspräsidentin - es gibt ein Ergebnis von Mekka, und wir sollten es als einen ersten Schritt in die richtige Richtung betrachten, der saudischen Führung danken und vor allen Dingen würdigen, dass es eine Initiative aus der Region ist. Mekka zeigt nicht mehr und nicht weniger, als dass etwas möglich ist. Ich weiß, dass vieles Weitere folgen muss. Ich sage an dieser Stelle nur noch einmal: Ein wichtiges Zeichen wäre z. B. die Freilassung des Soldaten Schalit.

Aber wir wissen doch: Letztlich muss eine Lösung auch von der Region selbst gewollt werden. Genauso wissen wir: Wir dürfen diese Region niemals alleine lassen. Genau deshalb war es für mich und für viele andere so wichtig, dass vor etwas mehr als einer Woche nach langer Zeit zum ersten Mal wieder das Nahost-Quartett getagt hat und dass es in Kürze auch erneut tagen wird. Ich weiß, dass es langsam (voran) geht und dass viele fragen „Lohnt sich das?“.

Aber ich sage ganz eindeutig: Was wäre die Alternative dazu, es immer wieder und wieder zu versuchen? - Der Charakter des Quartetts, das sich aus Vertretern der Vereinigten Staaten von Amerika, der Europäischen Union, Russlands und der UNO zusammensetzt, zeigt natürlich wieder das, was aus meiner Sicht so wichtig ist: Wir rücken zusammen. Wir gehen die Dinge gemeinsam an. Wir geben kohärente, gemeinsame Signale, und wir verzahnen dies mit den Aktivitäten vor Ort.

Wieder zeigt sich: Die globalen Herausforderungen - egal, ob es nun Klimaschutz oder asymmetrische Bedrohungen durch Terrorismus sind - meistern kann keiner alleine, und sei er noch so stark. Ich glaube, wenn wir das erkennen, dann, aber auch nur dann, kommen wir der Lösung von Konflikten zumindest näher, Konflikten zwischen Israel und Palästina bzw. dem Konflikt über die Zukunft eines souveränen Libanon. Ich glaube nämlich, wir sind uns einig, dass der Libanon ein Recht auf Stabilität und Souveränität hat und dass es dringend notwendig ist, ihm gemeinsam beim Wiederaufbau zu helfen. Die Pariser Konferenz vor wenigen Tagen war ein ganz wichtiges Signal.

Wenn ich über den Libanon spreche, dann führt das ganz unweigerlich zu der Frage nach der Rolle Syriens. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier war vor einigen Wochen wie andere auch in Damaskus, um Syrien noch einmal zu einer konstruktiven Haltung für den Frieden im Nahen Osten zu bewegen. Es bleibt festzustellen, dass Syrien die Chance bislang nicht ergriffen hat. Ich sage deshalb sehr klar: Die Tür für Syrien ist nicht zu. Aber ich sage ebenso klar: Syrien sollte keinen Zweifel an der Entschlossenheit der Staatengemeinschaft zum Schutz Israels und zur Unterstützung des Libanon haben.

Bei meiner Reise in den Nahen Osten in den letzten Tagen habe ich eine Erfahrung gemacht: Die Bedrohung, die viele Länder hinsichtlich dessen fühlen, was im Iran vorgeht, ist dramatisch sichtbar und erkennbar. Deshalb hat der Iran die Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates und des Gouverneursrats der IAEO zu erfüllen. Daran führt kein Weg vorbei, und das gilt ohne Wenn und Aber, ohne Tricks.

Es handelt sich hier um eine sehr sensible Technik, und deshalb muss das in hoher Transparenz dargelegt werden, was der Iran nicht gemacht hat. Wenn der Iran dies nicht befolgt, dann ist die Alternative ein weiteres Abgleiten in eine Isolation. Ich sage noch einmal: Das Wort der internationalen Staatengemeinschaft gilt. Wir haben dem Iran ein Kooperationsangebot gemacht. Wir haben den Iran eingeladen, das zu tun, was für sein eigenes Volk richtig ist. Der Iran ist nämlich ein Land mit einer stolzen Geschichte und einer großen Kultur. Deshalb wäre es gut, der Iran ordnete sich in die Völkergemeinschaft ein und ihr auch unter.

Aber unser Wort bezüglich des Iran - auch das bedeutet globale Verantwortung - gilt auch in eine andere Richtung: Wir akzeptieren die Ausfälle der iranischen Staatsführung gegen Israel in keiner Weise. Ich habe auch immer wieder in meinen Gesprächen deutlich gemacht und dafür auch Zustimmung gefunden: Wir alle sind entschlossen, eine Bedrohung durch ein militärisches Nuklearprogramm des Iran zu verhindern.

Die letzte UN-Resolution, die sich mit Sanktionen befasst hat, ist im UN-Sicherheitsrat eindeutig verabschiedet worden. Europa, die Vereinigten Staaten von Amerika, Russland und China waren dabei. Dieses Signal der Gemeinsamkeit muss aus meiner Sicht auch bei weiteren Schritten beizubehalten versucht werden. Das bedeutet dann globale Verantwortung: auch wenn die Dinge nicht einfach sind, miteinander die gleichen Prinzipien (zu vertreten) und den gleichen Weg zu gehen.

Wenn wir über die Bedrohungen und ebenso natürlich über die Chancen unserer Zeit sprechen, dann werden, glaube ich, drei Elemente unseres Handelns offenkundig: Es sind die Freiheit, die Sicherheit und die Verantwortung. Für mich umschreiben sie in aller Kürze die Ziele einer modernen Sicherheitspartnerschaft im 21. Jahrhundert. Das waren auch die Koordinaten der europäisch-atlantischen Sicherheitspartnerschaft der Vergangenheit, also der NATO. Für diese Ziele stehen wir Europäer gemeinsam mit den USA und Kanada in der NATO auch ein.

Deshalb bleiben für mich atlantische Partnerschaft und europäische Einigung die Eckpfeiler deutscher Sicherheitspolitik. Die Stärkung der europäischen Sicherheitsidentität, losgelöst von der atlantischen Sicherheitspartnerschaft - das ist ein für mich nicht denkbarer Weg. Beide Eckpfeiler sind sozusagen zwei Seiten einer Medaille. Für mich ist die NATO auch in Zukunft der bislang stärkste Ausdruck gemeinsam verantworteter Sicherheitspolitik. Trotz aller schwierigen Diskussionen im Detail haben der NATO-Gipfel in Riga und auch das Verteidigungsministertreffen in Sevilla genau diese Entschlossenheit und Geschlossenheit der NATO gezeigt, sich den zunehmenden Herausforderungen zu stellen.

Wir wissen schon, dass das keine graue Theorie und keine Überschrift ist, sondern dass das natürlich auch jeden Tag konkret hinterfragt wird und dass jeder seinen Beitrag dazu leisten muss. Die Bundesregierung hat in der vergangenen Woche vorbehaltlich der Zustimmung des Deutschen Bundestages die Entsendung von Aufklärungsflugzeugen beschlossen, die im Rahmen der ISAF-Mission in Afghanistan eingesetzt werden können.

Es besteht, glaube ich, für niemanden ein Zweifel daran, dass das Bündnis, die NATO, in Afghanistan in besonderer Weise auf dem Prüfstand steht. Auf der einen Seite kann die Aufbauarbeit beträchtliche Erfolge verzeichnen. Wir sollten das bei allem, was wir diskutieren, nicht unter den Tisch fallen lassen. Es ist dort im Hinblick auf die Menschen unendlich viel geschehen: die Kinder, die wieder in die Schule gehen können, und die Frauen, die sich auf die Straße wagen können. Aber es ist auch unbestreitbar, dass die Taliban die Entschlossenheit testen und uns immer wieder auf den Prüfstand stellen. Deshalb muss alles daran gesetzt werden, diese Mission zu einem Erfolg zu machen.

Die deutsche Bundesregierung ist davon überzeugt, dass der Erfolg nur in einem ganzheitlichen Ansatz liegen kann, in dem sowohl zivile als auch militärische Elemente ihren Platz finden. Es gilt jetzt - Afghanistan ist dafür ein gutes Beispiel -, diesen ganzheitlichen strategischen Ansatz umzusetzen und für ein optimales Ineinandergreifen von zivilen und militärischen Aktivitäten zu sorgen. Wenn wir dies konsequent und in jede Richtung umsetzen, dann sind wir auf dem richtigen Weg, wenngleich er auch schwieriger sein mag, als wir es uns vorgestellt haben.

Das Beispiel Afghanistan zeigt: Um Gefahren vorzubeugen, abzuschrecken und sie zu verhindern, braucht die NATO zwei Dinge: einerseits Durchsetzungsfähigkeit und zum anderen auch Überzeugungskraft. Das Ergebnis von beidem ist für mich „vernetzte Sicherheit“. Das heißt, es geht um die untrennbare Verknüpfung unseres militärischen Ansatzes mit zivilen Maßnahmen. Ich will hier nicht einer „zivilen NATO“ das Wort reden. Aber ich will sehr wohl von dem Selbstverständnis der NATO als Teil eines zivil-militärischen Gesamtprofils reden. Das ist für mich die Rolle der NATO im 21. Jahrhundert.

Dieses Konzept der „vernetzten Sicherheit“ ist auch der Kerngedanke des Weißbuchs, das die Bundesregierung im vergangenen Jahr verabschiedet hat. Das heißt für uns konkret: Bei jedem unserer militärischen Engagements - in welcher Region der Welt auch immer - müssen von Anfang an militärisch-stabilisierende Maßnahmen mit politischen und zivilen Prozessen Hand in Hand gehen. Beides muss ineinander greifen.

Wir glauben, dass, wenn das nicht der Fall ist, der Erfolg nicht möglich ist. „Vernetzte Sicherheit“ das verlangt den Aufbau von Strukturen, die dem breiten Spektrum politischer, diplomatischer, militärischer, ziviler, wirtschaftlicher und entwicklungspolitischer Instrumente entsprechen. Wir müssen unser Krisenmanagement besser koordinieren und Konzepte für ein effizientes Zusammenwirken internationaler, nationaler, staatlicher und nicht-staatlicher Organisationen entwickeln. Was am wichtigsten ist: Das darf nicht irgendwo in den fernen Hauptstädten der entsendenden Länder geschehen, sondern das muss vor Ort stattfinden.

Ich bin sehr froh, dass genau dieser Weg in Afghanistan jetzt zunehmend beschritten wird. Wir dürfen uns nämlich nichts vormachen: Dies ist auch die Verbindung der Tätigkeit von NGOs mit militärischen Fähigkeiten in einem Maße, in dem das über Jahrzehnte - jedenfalls in unserem Land - nicht üblich war. Es gab hier die Entwicklungspolitik und dort das militärische Engagement. Jeder hat vom anderen hinreichend viele Vorurteile gehabt. Dass der Erfolg nur durch das Ineinanderwirken geht und dass nicht der eine über dem anderen steht, das ist ein neues Denken, das wir erlernen müssen, von dem aus meiner Sicht aber der Erfolg abhängt.

Wir Europäer wissen an dieser Stelle, dass unsere Verantwortung mit dem Ende des Kalten Krieges nicht geringer, sondern größer geworden ist. Dass wir das annehmen - auch wenn es immer wieder Kritik hinsichtlich dessen gibt, ob wir es schnell genug annehmen -, ist aus meiner Sicht durchaus sehr klar sichtbar.

Denken wir an den Balkan und die Unterstützung des Libanon. Immer wieder haben wir Konzepte und Kapazitäten entwickelt, die zivile und militärische Einsätze sehr eng verbinden. Seit gut einem Monat sind auch die sogenannten „battlegroups“, also die europäischen Gefechtsverbände für Einsätze in Krisengebieten, in voller Einsatzbereitschaft. Wir sind als Europäische Union in Aceh in Indonesien und im Gazastreifen tätig. Wir unterstützen die palästinensische, die bosnische und die kongolesische Polizei. Wir bilden Justizpersonal aus. Unser gemeinsames Interesse, gerade auch im Hinblick auf den Irak, wo Deutschland eine solche Ausbildung durchführt, ist natürlich, dass das Land wieder zur Ruhe kommt, dass die Stabilisierung des Irak gelingt, so schwer das auch immer ist. Denn ansonsten werden wir die Auswirkungen alle miteinander zu spüren bekommen.

Im Kosovo steht die Europäische Union bereit, mit ihrer bislang größten zivilen Mission eine ganz zentrale Sicherheitsaufgabe zu übernehmen. Wir wollen damit die Statusgespräche und die Statuslösung, die im Augenblick im Gespräch ist, absichern helfen. Der ehemalige finnische Präsidenten Ahtisaari hat seine Vorschläge gemacht, aber wir spüren, dass der Prozess schwierig ist. Serben und Kosovo-Albaner brauchen Zeit, um sich Klarheit zu verschaffen.

Ich plädiere auf der einen Seite dafür, genau im Auge zu haben, dass das Problem einer Lösung auf dem Tisch liegt und dass Zeitvergeudung auch Sprengkraft birgt. Aber ich sage auf der anderen Seite auch: Für die Serben wird es von allergrößter Wichtigkeit sein, ob dies ein Prozess ist, den sie auch mit einem Stück Würde mitgehen können. Deshalb wissen alle Verantwortlichen, dass die Voraussetzungen hierfür erfüllt werden müssen, dass wir mit größer Sensibilität vorgehen müssen, dass aber natürlich auch eine Lösung gefunden werden muss. Wir können nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten.

Das alles hängt natürlich auch wieder sehr klar mit der Frage zusammen: Wie geht es in Bosnien-Herzegowina weiter, wo es jetzt, zwölf Jahre nach Dayton, nun langsam an der Zeit ist, die internationale Präsenz zu verringern? Wir müssen aber auch sagen - ich plädiere jedenfalls dafür -, dass wir den Hohen Repräsentanten dort trotzdem noch eine Weile mit einem kleineren Büro agieren lassen und gleichzeitig die Position des EU-Sonderbeauftragten stärken, damit wir eine Sicherheit für den Übergang haben.

Ich darf nämlich daran erinnern, dass es in Bosnien-Herzegowina zurzeit keine Verfassung gibt, die ein handlungsfähiges Regieren möglich macht. Deshalb, glaube ich, ist es ganz wichtig, dass wir als Europäische Union sagen „Es gibt eine europäische Perspektive für alle auf dem Westbalkan“ und dass wir diese Perspektive an eine bestimmte Entwicklung knüpfen. Aber ich glaube, ohne diese Perspektive wird es nur verstärktes militärisches Engagement geben. Das ist wieder ein Beispiel dafür, wie die Dinge ineinandergreifen.

Wir wollen auch unter der deutschen EU-Präsidentschaft die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik weiterentwickeln. Sie ist für uns inzwischen eine Selbstverständlichkeit geworden, obwohl sie noch ein ziemlich junges Kind ist. Wir haben gelernt, zum Teil auch aus schwierigen Erfahrungen: Da, wo Europa nicht mit einer Stimme spricht und wo Europa gespalten ist, haben wir wenig oder gar kein Gewicht. Das heißt, da können wir unsere europäischen Interessen noch nicht einmal durchsetzen.

Aber wir müssen natürlich auch über unseren Tellerrand schauen. Wir brauchen heute einen Raum gemeinsamer Sicherheit, der weit über den Bereich Nordamerikas und Europas hinausgeht. Deshalb wollen wir die Beziehungen zu den Mittelmeerländern stärken. Auch das hat bei der gestrigen Verteidigungsministerkonferenz wieder eine Rolle gespielt.

Wir wollen außerdem natürlich die Beziehungen zu unseren Nachbarn im Osten und Südosten ausbauen, um die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Ganz ohne Zweifel ist hierbei die Partnerschaft zu Russland von besonderer Bedeutung. Ich freue mich sehr, dass Präsident Putin heute bei uns ist, an der Konferenz teilnimmt und zu uns sprechen wird. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Die Beantwortung der Frage, wie das zukünftige Verhältnis von Europäischer Union, NATO und Russland gestaltet wird, hat eine entscheidende Auswirkung auf die Stabilität des gemeinsamen Raums der Sicherheit in Europa und eine ganz wesentliche Auswirkung auf das Verhältnis zu unseren Nachbarstaaten.

Es ist wahr: Russland trägt heute schon in vielen Fällen gemeinsam mit uns Verantwortung, so mit seinem Beitrag zur Lösung des Nahost-Konflikts - ich habe über das Quartett gesprochen -, im Hinblick auf den Iran - alle Resolutionen wären wirkungsloser gewesen, wenn Russland nicht dabei gewesen wäre - und im Hinblick auf den Balkan. Deshalb ist unsere Erfahrung: Gemeinsam mit Russland können wir viel bewegen und können wir viel erreichen.

Das heißt, wir müssen die Chancen, die sich aus einem Zusammenrücken der Völker ergeben, nutzen und sie immer wieder aufspüren. Das heißt: Gemeinsame Verantwortung zwischen Russland, der Europäischen Union und der NATO liegt in unserem Interesse. Deshalb liegt mir auch sehr viel daran, dass wir bald die Verhandlungen für ein Kooperationsabkommen mit der Europäischen Union beginnen können und dass wir die bestehenden Differenzen ausräumen müssen.

Wir wissen, dass Russland ein wichtiger Partner bei der Energieversorgung ist. Ich habe immer wieder in den Gesprächen, die wir, Herr Präsident, miteinander geführt haben, gespürt, dass Russland ein verlässlicher und berechenbarer Energiepartner sein wird und möchte. Wo wir das weiter verbessern können und auch müssen, da werden wir offen darüber reden.

Es nützt nichts, die Dinge unter den Tisch zu kehren. Ich glaube, wir brauchen auch eine engere Partnerschaft zwischen der NATO und Russland. Auch darüber hat es in den vergangenen Tagen Gespräche gegeben. Wir müssen auch immer wieder darauf drängen, dass wir in den schwierigen Regionen in der russischen Nachbarschaft auch mehr Stabilität bekommen. Auch darüber müssen wir uns sehr offen austauschen. Die Sichtweisen sind dabei manchmal unterschiedliche. Darüber muss geredet werden. Aber das kann nur geschehen, wenn man überhaupt miteinander spricht, und deshalb halte ich das für ganz wichtig.

Ich sage das auch im Hinblick auf neue militärische Installationen, hinsichtlich derer ich immer glaube, dass es wichtig ist, miteinander im Gespräch zu bleiben und nicht gegeneinander zu reden; das hat uns überhaupt noch nicht genutzt. Es kann dann immer noch Bereiche geben, in denen man zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht zusammenkommt, aber so zu tun, als sei man in dieser Welt nicht in hohem Maße aufeinander angewiesen, das wäre ein Sich-in-die-Tasche-Lügen.

Meine Damen und Herren, wenn wir über die weltweite Sicherheitspartnerschaft reden, dann ist es richtig, dass die NATO ihre Kooperation mit Ländern wie Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland ausbaut und dass wir natürlich auch strategische Partner in China und Indien sehen. Wir stehen vor völlig neuen Herausforderungen, was Fragen der Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle anbelangt. Auch diesbezüglich müssen wir sehen, dass die Welt erheblich unübersichtlicher geworden ist. Ich glaube, insbesondere China trägt mit seiner wachsenden Rolle in der Weltwirtschaft politisch auch immer mehr Verantwortung.

Es wird sowieso so sein, wenn man sich einmal anschaut, wie die Ökonomien weltweit unterschiedlich wachsen, und dass gerade viele der Schwellenländer erleben werden und wir dies auch erwarten, dass sie ein Stück mehr politische Verantwortung tragen. Hier verschieben sich die Dinge.

Dann heißt es natürlich: Wir müssen China zu solch einer Verantwortung ermuntern. Wir müssen deutlich sagen, wenn wir Entwicklungen nicht teilen. Das heißt: Einbindung und nicht Ausgrenzung ist auch im Umgang mit China der richtige Ansatz. Aber in aller Offenheit muss auch über die Dinge gesprochen werden können, bei denen wir nicht einer Meinung sind oder sein können. Dazu gehören die Menschenrechte, und dazu gehört genauso das Vorgehen in der Entwicklungspolitik. Das gilt für China ganz besonders im Hinblick auf Afrika.

Es ist wichtig, dass bei allem, was wir tun, die gute Regierungsführung und eine Einhaltung der Minderheitenrechte Teile dessen sind, was notwendig ist. Wenn wir uns als Bundesrepublik Deutschland in unserer EU-Ratspräsidentschaft - auch mit Portugal zusammen - und in unserer G8-Präsidentschaft in ganz besonderer Weise dem afrikanischen Kontinent als unserem Nachbarkontinent zuwenden, dann muss auch eine offene Diskussion mit China über das jeweilige Herangehen möglich sein.

Wir alle spüren, dass in dieser Welt der Zeit nach dem Kalten Krieg Probleme und lokale Krisen unglaublich schnell zu internationalen Bedrohungen werden können. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass der Präventionsgedanke eine zunehmende Rolle spielen wird.

Wir haben uns im vergangenen Jahr als Europäische Union eigentlich völlig unerwartet im Kongo engagiert. Wir haben dort erreicht, dass Wahlen friedlich durchgeführt werden konnten. Das alles wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht vorher eine jahrelange entwicklungspolitische Zusammenarbeit stattgefunden hätte.

Aber wahr ist auch: Vielleicht wären die Wahlen als eine Zwischenetappe dieser Entwicklung nicht möglich gewesen, wenn wir dann nicht auch zu militärischem Einsatz gegriffen hätten. Ich füge hinzu: Wir haben viel über die Dauer unseres Aufenthaltes gesprochen. Es war auch richtig, zeitlichen Druck zu machen. Denn im Kongo wie an vielen anderen Stellen ist Hilfe auch Hilfe zur Selbsthilfe. Wir müssen auch wieder ein Stück loslassen können und Verantwortung von anderen einfordern, soweit das möglich ist.

Es gibt große Sorgen in Afrika. Ich kann hier nur an den Sudan und an die Verantwortung des sudanesischen Präsidenten Baschir erinnern. Hunderttausende Menschen sind gestorben, andere sterben, und die internationale Staatengemeinschaft kann dem nicht einfach zusehen. Somalia ist ein Land, in dem Versöhnung und Wiederaufbau dringend auf der Tagesordnung stehen. Für Afrika gilt aus meiner Sicht, dass wir alles daran setzen müssen, die eigenen Strukturen und die Regionalorganisationen zu stärken, insbesondere die Organisation der Afrikanischen Union zu stützen, sie zu stärken, ihr zu helfen und beiseite zu stehen, aber auch zu sagen: Es gibt gemeinsame Verantwortung.

Das alles führt mich dazu, dass wir die Vereinten Nationen brauchen. Aus meiner Sicht sind die Vereinten Nationen der Ort, an dem Legitimation für globale Verantwortung geschaffen werden kann. Aber ich sage auch: Die Reform der Vereinten Nationen geht zu langsam, um es vorsichtig zu sagen bzw. um nicht zu sagen „leider ganz wenig“, voran. Deshalb sage ich dem neuen Generalsekretär Ban Ki-moon: Wir werden ihn unterstützen. Ich sage aber auch: Wir brauchen Reformen, damit dieses Gremium handlungsfähig ist.

Es ist oft gesagt worden, meine Damen und Herren: Mit dem Ende des Kalten Krieges sind das bipolare System und mit ihm das Gleichgewicht des Schreckens verschwunden. Aber das hat zur Folge gehabt, dass nicht die sicherheitspolitische Bedrohung verschwunden ist, sondern, dass sie ihren Charakter völlig verändert hat.

Heute sind einzelne Menschen bereit, ihr Leben wegzuwerfen, es aufzugeben, um damit möglichst viele Unbeteiligte in den Tod zu reißen. Das heißt, die klassischen Abschreckungsmechanismen funktionieren nicht mehr. Wenn sich heute einige Staaten anschicken, nach Massenvernichtungswaffen und ihren Trägersystemen zu greifen, dann spitzen sich Konflikte zu und erhöhen das Risiko von Kettenreaktionen, ohne dass die klassischen Abschreckungsmechanismen noch so funktionieren. Deshalb ist klar: Unsere Welt ist bedroht. Aber diese Welt hat eben auch viele Chancen.

Keiner kann die Chancen und Bedrohungen allein wahrnehmen und bewältigen. Kein Land der Welt hat heute genug Macht, Einfluss und Glaubwürdigkeit, um sich den Herausforderungen allein zu stellen. Nach meiner festen Überzeugung kann das nur in Sicherheitspartnerschaften und Bündnissen gelingen. Ich weiß, dass dabei jeder von uns über seinen Schatten springen muss und dass das in den nationalen Diskussionen nicht ganz einfach ist. Für Deutschland - das mag manchem außerhalb der Bundesrepublik Deutschland ganz ungewohnt vorkommen - war die Entscheidung, mit maritimen Kräften vor der Küste des Libanon stationiert zu sein, eine ungewöhnlich emotionale und schwierige Entscheidung.

Ich glaube, wir sind hierbei im vergangenen Jahr ein Stück über unseren Schatten gesprungen, und zwar aus dem Denken heraus, dass wir der Überzeugung sind: Es ist immer besser, wenn zwei etwas tun, als wenn es nur einer tut. Eine Union gemeinsamer Interessen ist besser als ein Zweierbündnis. Ein gemeinsam auftretender Kontinent ist besser, als wenn einzelne Regionen unterschiedlich handeln. Ein transatlantisches Bündnis ist besser, als wenn der Atlantik uns trennt. Gemeinsames Handeln großer Mächte ist besser als die Dominanz ihrer Rivalitäten.

Deshalb möchte ich zum Ende meiner Gedanken noch einmal auf den Anfang zurückkommen, auf die europäische Einigung. Europa ist heute friedlicher, freier und stabiler, als es sich die meisten von uns hier in ihrer Jugend vorgestellt haben. Ich zumindest habe vor 17 oder 18 Jahren nicht damit gerechnet, vor meinem Rentenalter den Ostblock verlassen zu können.

Und so frage ich: Ist es denn wirklich so undenkbar, dass so etwas, wie wir es erlebt haben, ein heute 20-jähriger Israeli und eine 20-jährige Palästinenserin nicht später auch einmal werden erleben können? Oder ist es wirklich so unmöglich, dass wir uns den Gefahren des Klimawandels gemeinsam widmen, um ihn zu stoppen? Ist es so unmöglich, dass wir es nicht doch schaffen, Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch zu entkoppeln und damit auch die Grundlagen für die Existenz kommender Generationen zu ermöglichen?

Ich glaube, wir müssen uns den schlimmsten Befürchtungen und Bedrohungen stellen, die denkbar sind. Nichts ist schlimmer, als die Bedrohung unter den Tisch zu kehren und in den Tag hinein zu leben.

Aber genauso müssen wir die Kraft behalten, daran zu glauben, dass wir die Staaten, die Völker in der Lage sind, diese globalen Bedrohungen auch lösen zu können, ungeahnte Kräfte freisetzen zu können und gemeinsam zu handeln. Das verlangt völlig neue, ungekannte Anstrengungen von uns, und jeder muss bei sich selbst anfangen; auch das ist ungewohnt. Aber ich möchte Ihnen zumindest versichern, dass mein Land im Rahmen seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten dazu bereit ist, diese Herausforderung anzunehmen.

Herzlichen Dank!

Quelle: Homepage der Bundesregierung; www.bundesregierung.de


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