Keine NATO des Ostens
Die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit als eurasisches Großprojekt
von Peter Linke *
Alle Hoffnungen auf eine »multipolare
Welt« haben sich bislang nicht
erfüllt. Die Welt von heute ist eher
»nicht-polar« (Richard Haass) -- mit
all den daraus resultierenden Gefahren
für globale und regionale Sicherheitszusammenhänge.
Verstärkt richtet
sich daher das Augenmerk auf
Strukturen, die einer multipolaren
Welt potentiell Vorschub leisten. Dabei
von besonderem Interesse: Die
Neustrukturierung des postsowjetischen
Raums, die Herausbildung
verschiedener postsowjetischer »Subräume
«, ihr Verhältnis zueinander,
die Konstituierung regionaler und
subregionaler politischer Kulturen
im Spannungsfeld zwischen säkularer
Krise und religiöser Wiedergeburt
sowie die dabei zutage tretende
Rolle externer Akteure.
Im postsowjetischen Raumkonglomerat
tummeln sich inzwischen nicht
wenige Organisationen: von der so
genannten GUAM (gegründet 1997
durch Georgien, die Ukraine, Aserbaidschan
und Moldowa unter aktiver Mithilfe
Washingtons) über die »Organisation
des Vertrages über kollektive Sicherheit«
(ODKB) -- ein 2002 auf Initiative Moskaus
aus der Taufe gehobener militärischer
Beistandspakt, dem neben Russland
Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisien
und Tadschikistan angehören -- bis hin
zur »Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft
« (EwrAsES), deren Gründungsvertrag
2000 im kasachischen Astana von Belarus,
Kasachstan, Kirgisien, Russland und
Tadschikistan unterzeichnet wurde.
Die geostrategisch und geokulturell
interessanteste Struktur ist und bleibt jedoch
die »Schanghaier Organisation für
Zusammenarbeit« (russisch: SchOS).
Vorläufer der SchOS war die so genannte
Schanghaier Fünfergruppe, deren
Mitglieder China, Russland, Kasachstan,
Kirgisien und Tadschikistan sich Mitte
der neunziger Jahre in mehreren Abkommen
zu "militärischer Vertrauensbildung
und gegenseitiger Streitkräftereduzierung im
grenznahen Raum" verpflichtet hatten.
Nach dem Beitritt Usbekistans konstituierte
man sich 2001 zur SchOS. Hauptanliegen
der neuen Organisation war "der
gemeinsame Kampf gegen Terrorismus, Separatismus
und Extremismus, die Förderung
wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und kultureller
Zusammenarbeit zwischen den Teilnehmerstaaten,
die Gewährleistung von
Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Region
sowie die Etablierung einer neuen, demokratischen
und gerechten Weltordnung."[1]
2004 gewährte die Organisation der
Mongolei und 2005 Indien, Pakistan und
dem Iran den Status von Beobachtern
und erweiterte damit ihren geopolitischen
Spielraum um ein Vielfaches.
Neben diversen Gesprächsforen verfügt
die SchOS über zwei ständige Organe:
ein Sekretariat in Peking sowie eine
»Regionale Antiterrorstruktur« in Taschkent.
Deutlich verstärkt hat sich in den
letzten Jahren die sicherheitspolitische
Zusammenarbeit im Rahmen der
SchOS, was insbesondere in diversen
multilateralen »Antiterror-Manövern«
zum Ausdruck kommt.
Doch auch wirtschaftspolitisch rückt
man immer enger zusammen. Jüngstes
Beispiel: die zwischen Moskau und Peking
im April 2009 vereinbarten Maßnahmen
zur gemeinsamen Entwicklung
des Russischen Fernen Ostens.
Wohin die weitere Reise der Organisation
gehen soll, machte der Kreml vor
wenigen Wochen deutlich, als er im
ostrussischen Jekaterinburg den inzwischen
9. SchOS-Gipfel elegant mit dem
1. BRIC-Gipfel [2] verband.
Insbesondere US-Strategen taten sich
zunächst schwer damit, die SchOS ernst
zu nehmen, verspotteten sie als "widersprüchlichste
Organisation der Gegenwart",
die versuche, zu umfassen, was
sich nicht umfassen lasse, und daher eine
"Todgeburt" sei.[3] Ein Sinneswandel setzte
erst 2005 ein, als die geopolitischen
Schwergewichte Indien und Iran Beobachterstatus
erhielten: Während sich einige
Analysten damit begnügten, die
SchOS als anti-amerikanische Verschwörung
zu verteufeln, die einzig und allein
das Ziel verfolge, Washington den Stuhl
vor die eurasische Tür zu stellen, versuchten
andere, mit Hilfe alternativer
Konzepte wie dem eines »Greater Middle
East« oder einer »Greater Central Asia
Partnership for Cooperation and Development
« der SchOS geopolitisch den
Wind aus den Segeln zu nehmen. Unterstützung
fanden Letztere insbesondere
unter japanischen Kollegen, die SchOS
durchaus aufgeschlossen gegenüberstanden
und mit Vorschlägen wie dem einer
»Eurasischen Interaktionsinitiative« danach
trachteten, ihr eigenes Land sowie
die USA und EU-Europa als »Dialogpartner
« an die SchOS anzudocken. Mit
Blick auf die Europäische Union ein
durchaus kurioses Anliegen, zeigte sich
diese doch an der neuen Struktur im Osten
wenig interessiert. Ein Zustand, an
dem sich bis heute wenig geändert hat.
Nüchtern betrachtet, ist die SchOS
weder eine Todgeburt, noch eine Bedrohung
für die »freie Welt«, sondern eine
junge Organisation auf der Suche nach
einem eigenständigen, unverwechselbaren
Platz im künftigen transeurasischen
Sicherheitsgefüge.
Eine »Organisation neuen Typs«
Laut Generaloberst Leonid Iwaschow,
Präsident der Moskauer Akademie für
geopolitische Probleme, strebt die SchOS
als eine »Organisation neuen Typs«
(Jewgenij Primakow) ein Sicherheitssystem
an, das sich von dem der
NATO, der ODKB und anderer militärischer
Blöcke prinzipiell unterscheidet.
Gleichzeitig bemühe sich die Organisation
um ein eigenes Entwicklungsmodell,
basierend auf einem System gemeinsamer,
transzivilisatorischer Werte.
Dies sei besonders wichtig angesichts
erheblicher Armut in vielen Mitgliedsländern
sowie anhaltender ethnokonfessioneller
Spannungen in der gesamten
Region. Die SchOS brauche mehr als
eine bloße Wachstumsideologie, sie brauche
eine komplexe Entwicklungsstrategie,
die die Veränderung der Wirtschaftstruktur
in den einzelnen Mitgliedsstaaten
zum Ziel habe und darauf orientiere, die
Lebensqualität durch die Förderung von
Kultur, Wissenschaft, Bildung sowie einer
komfortablen Lebensweise bei gleichzeitiger
Schonung der Natur nachhaltig
zu verbessern.
Vor allem Russland mit seinen gewaltigen
»Transformationsproblemen« habe
dies frühzeitig erkannt. Es sei kein Zufall,
so Iwaschow, dass gerade russische
Diplomaten und Militärs bereits 1998
Kurs auf die Umwandlung der Schanghaier
Fünfergruppe in eine stärker strukturierte
Organisation genommen hätten.
Dazu gedrängt habe sie eine zunehmend
unipolare Weltordnung mit Hang zur
Schaffung einer "Diktatur der militärischen
Stärke", aber auch die Dominanz liberaler
Marktbeziehungen, in deren Folge
die Zerrüttung der Weltwirtschaft, die
Störung des globalen ökologischen
Gleichgewichts sowie die Behinderung
friedlichen zivilisatorischen Miteinanders
eine neue, gefährliche Qualität angenommen
hätten.
Einen Kontrapunkt habe man damals
setzen, der individualistisch-konsumorientierten
Gesellschaft des Westens
eine Art Gegenentwurf präsentieren wollen:
die Vision eines "zweiten Pols der
Menschheit", der aufgrund alternativer lebensphilosophischer
Ansätze -- basierend
auf neuen Einsichten in das Verhältnis
von Mensch und Natur sowie gemeinschaftsorientierten
Wertmaßstäben --
"harmonische Beziehungen zwischen Staaten
und Zivilisationen" aktiv befördere sowie
ein "auf ausbalancierten Kräften und
Potentialen fußendes Sicherheitssystem" anstrebe.[4] Mit der Gründung der SchOS
habe man dieser Absicht erstmals praktisch
Nachdruck verliehen. Die Suche
nach einem komplexen Sicherheitsverständnis
sei sehr schnell zum Markenzeichen
der neuen Organisation geworden.
Russisch-chinesische Missverständnisse
Iwaschows Ausführungen verdeutlichen
auf recht anschauliche Weise, welch gewaltige
globalpolitischen Absichten russische
Strategieplaner von Anfang an mit
der SchOS verfolgten. Ein Ansatz, der
aber von Strategieplanern anderer Mitgliedsländer,
insbesondere Chinas, so
nicht geteilt wird. Im Unterschied zu
Russland war Chinas Engagement in der
Organisation bislang eher taktischer Natur.
Seit Deng Xiaoping betrachtet Peking
als zentrales Ziel seiner Außenpolitik,
sich mit den entscheidenden internationalen
Akteuren über eine (Neu-)Aufteilung
der Welt in Interessen- und Verantwortungssphären
zu verständigen, ohne
dabei selbst eine globale Führungsrolle
anzustreben oder (insbesondere gegenüber
den USA) konfrontativ aufzutreten.
Offiziell »Strategie der harmonischen
Entwicklung« genannt, lässt dieser Ansatz
letztlich wenig Raum für aktives globalpolitisches
Engagement.
China weigere sich, Verantwortung
für die Aufrechterhaltung von Stabilität
im Weltmaßstab zu übernehmen, begnüge
sichmit stabilen Verhältnissen in seiner
unmittelbaren Nachbarschaft, so
Alexander Koltjukow, Chef des Instituts
für Militärgeschichte des Russischen Verteidigungsministeriums.
Der Weg dorthin
führe aus Sicht der chinesischen
Führung über die Anbindung der benachbarten
Volkswirtschaften an die eigene
Volkswirtschaft. Aus genau diesem
Grunde verweigere sich Peking militärischen
Blöcken oder wirtschaftlicher Integration
nach dem Vorbild der EU; es bevorzuge,
sämtliche politische und wirtschaftliche
Fragen auf bilateraler Ebene
zu klären.
Vor diesem Hintergrund sieht Koltjukow
wesentliche Unterschiede im Herangehen
Russlands und Chinas an mögliche
Kooperationsformen im Rahmen der
SchOS: Während Russland nach vertiefter
Integration auf Grundlage einer teilweisen
Delegierung staatlicher Souveränitätsrechte
an supranationale Organe
(etwa des ODKB oder der EwrAsES)
strebe, weigere sich China, seine Souveränität
mit irgendjemandem zu teilen. Pekings
Interesse sei darauf gerichtet, gegenüber
Moskau und Delhi eine Abgrenzung
von Interessen- und Verantwortungssphären
in der Region durchzusetzen.
Russland freilich betrachte die ehemaligen
südlichen Sowjetrepubliken
längst als Sphäre seiner Interessen.
Zentralasiatische Schaukelpolitik
Die offensichtlichen Interessengegensätze
zwischen Russland und China verführten
die Zentralasiaten selbst zu einer teilweise
abenteuerlichen Schaukelpolitik, von
der letztlich, wenn überhaupt, nur Dritte
profitieren würden. Koltjukow: "Die zentralasiatischen
Republiken sind noch nicht
lange genug souverän, um wirklich bereit
zu sein, in supranationalen Strukturen
mitzuarbeiten. Von gefestigten außenpolitischen
Traditionen kann keine Rede sein.
Noch suchen die Staaten der Region nach
einem eigenständigen, das bestehende Kräftegewicht
berücksichtigenden Entwicklungspfad.
Und es ist nicht ausgeschlossen,
dass diese Suche zur Aufkündigung der
strategischen Partnerschaft mit Russland
führt..."[5]
Moskaus Integrationsverheißungen irritieren
viele zentralasiatische Entscheidungsträger,
ist deren Durst nach Souveränität
doch längst nicht gestillt.
Gleichzeitig beunruhigt sie Pekings massive
wirtschaftliche Expansion in die Region.
Um zwischen Integrationsdruck einerseits
und wirtschaftlicher Überfremdung
anderseits nicht zerrieben zu werden,
spielen sie nur allzu gern die USKarte.
Gefährlicher Bilateralismus der »Beobachter«
Den Scharaden der Vollmitglieder skeptisch
gegenüberstehend, konzentrieren
sich die vier Beobachter bislang auf die
Pflege bilateraler Kontakte, was die Organisation
nicht wirklich voranbringt:
Delhi versteht die SchOS vor allem als
Vehikel, preiswerter als je zuvor an russische
Waffen zu gelangen, seine militärpolitische
Präsenz in Zentralasien zu festigen
(etwa durch den Ausbau des Luftwaffenstützpunktes
Ajni in Tadschikistan)
sowie den Einfluss Pakistans in der
Region möglichst klein zu halten. Islamabad
versucht mit Hilfe der Organisation
nicht nur, seine gravierenden Energieprobleme
in den Griff zu bekommen,
sondern auch Delhis wachsendes Engagement in und um Afghanistan zu konterkarieren. Teheran nutzt seinen Beobachterstatus,
um seine sicherheitspolitischen
Aktivitäten in der Region zu diversifizieren
sowie bei fortgesetzter Frontstellung
gegen Washington die Integration
der Islamischen Republik in die Weltwirtschaft
voranzutreiben. Ulan-Bator
hofft, über die SchOS zusätzliche Mittel
zur Entwicklung seiner Verkehrs- und
sonstigen Infrastruktur akquirieren zu
können, ohne dabei (erneut) in allzu große
Abhängigkeit von Moskau oder Peking
zu geraten.
Mangelnde Abstimmung zwischen
den »SchOS-Lokomotiven« Russland
und China, latentes Misstrauen der
»Kleinen« (Usbekistan, Tadschikistan,
Kirgisien) gegenüber den »Großen«
(Russland, China, Kasachstan) sowie ein
die Organisation überwuchernder Bilateralismus,
insbesondere zwischen den
»Kleinen« und den Beobachtern verhindern
bislang die tatsächliche Etablierung
der SchOS als »Organisation neuen
Typs«.
Strategische Reserven
Nach Meinung vieler Beobachter handelt
es sich bei den o.g. Differenzen im Wesentlichen
um Kinderkrankheiten einer
noch im Werden begriffenen Struktur.
Diese zu überwinden sollte der SchOS
perspektivisch möglich sein, wurde sie
doch als ein Instrument praktischer Vertrauensbildung
konzipiert.
Als solches kann die Organisation einen
einzigartigen Beitrag zum Abbau gegenseitiger
negativer Klischees (etwa im
Verhältnis Russland-China) bzw. Feindbilder
(insbesondere im indisch-pakistanischen
Kontext), zur Förderung multilateraler
Sicherheitsarrangements zwischen
Vollmitgliedern und Beobachtern,
zu effektiver wirtschaftlicher Kooperation
und damit ultimativ zur räumlichen
Neustrukturierung Transeurasiens mit erheblich
gesteigerten geopolitischen
Handlungsoptionen, insbesondere für
die Staaten Zentralasiens (direkter Zugang
zum Meer dank strategischer Infrastrukturprojekte
mit Pakistan und dem
Iran etc.) leisten.
Neuer Eurasismus
Auf diesemWege könnte die SchOS tatsächlich
zum Rückgrat eines alternativen
eurasischen Sicherheitssystems werden,
das transregionalen Verkehrsinfrastrukturprojekten
ebenso viel Aufmerksamkeit
entgegen bringt wie Initiativen zur nachhaltigen
Bodennutzung oder kulturellen
Selbstbehauptung. Damit würden sich
der SchOS reale Handlungsoptionen
weit über den eigenen, unmittelbaren
Tätigkeitsrahmen hinaus eröffnen (Vernetzung
mit OSZE, ASEAN/ARF etc.).
Die »eurasische Option« wird immer
mehr zu einer Grundkonstante geopolitischen
Denkens im postsowjetischen
Raum. Bereits Mitte der 1990er Jahre
trat der kasachische Präsident Nursultan
Nasarbajew mit der Idee einer Eurasischen
Union an die Öffentlichkeit. Auch
wenn Nasarbajews Ansatz im Kreml zunächst
eher skeptisch gesehen wurde,
stieß er bei russischen Geostrategen sofort
auf offene Ohren: Russland als einzige
Kontinentalmacht mit massiver Territorialpräsenz
in Europa und Asien sowie
mit mehr eurasischen Nachbarn als irgendein
anderer Staat, so der bekannte
Moskauer Militärhistoriker Wjatscheslaw
Simonin, könne entscheidend zur Schaffung
eines einheitlichen und universellen
»Eurasischen Systems der Sicherheit, Zusammenarbeit
und Entwicklung«
(EASBSR) auf Grundlage existierender
institutioneller und nichtstaatlicher Organisationen
beitragen, wobei der
OSZE, der SchOS, dem ASEAN-Regionalforum
(ARF) sowie dem Asien-Europa-
Treffen (ASEM) eine Schlüsselrolle
zukomme.
Dass dem Kreml derartige Gedanken
nicht gänzlich fremd sind, demonstrierte
Wladimir Putin erstmals im Dezember
2001, als er auf einer Pressekonferenz
mit kargen Worten umriss, was faktisch
einem eurasischen Sicherheitssystem vom
Atlantik bis zum Pazifik gleichkam.
Wie ein derartiges System praktischkonkret
aussehen könnte, beschreibt Jahre
später der Petersburger Geograph Jurij
Krupnow. Seiner Meinung nach besteht
die wichtigste geopolitische und diplomatische
Aufgabe Russlands in den
nächsten zwanzig Jahren in der Umwandlung
Zentralasiens und des Mittleren
Ostens -- von Kasachstan bis Nordindien
und dem Persischen Golf -- in eine
prinzipiell neue Makroregion, die für
Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung
auf Grundlage beschleunigter
Industrialisierung und systemischer Zusammenarbeit
zwischen Russland, Indien,
China, demIran, Afghanistan, Pakistan,
der Mongolei, Kasachstan, Turkmenistan,
Kirgisien, Tadschikistan,
Aserbaidschan und der Türkei steht.
Ausgangspunkt eines solchen Makro-projektes müsse die Schaffung eines einheitlichen
geoökonomischen und geokulturellen
Raums sein, der weder geopolitische
Grenzziehungen, noch nationale
geostrategische Egoismen kenne.
Fern jeder Instrumentalisierung durch
einzelne Länder könne eine solche Makroregion
den Kern eines zentraleurasischen
gemeinsamen Marktes sowie ein
Dialogforum für die in der Region beheimateten
Zivilisationen und Völker bilden.
Spätestens die von Krupnow vorgeschlagene
Bezeichnung »Neuer Mittlerer
Osten« (NSW) für die geplante Makroregion
macht deutlich, dass sie nicht zuletzt
als Antwort auf die US-Konzeption
eines »Greater Middle East« gedacht ist.
Sie darauf zu reduzieren, wäre jedoch
grundfalsch. In Krupnows Ansatz widerspiegelt
sich vor allem der Versuch, auf
eine Reihe für Russland sehr realer Herausforderungen
mit einem ganzheitlichen
Lösungsansatz zu reagieren:
-
Mobilisierung dringend benötigter externer
Ressourcen für die Entwicklung
des asiatischen Teils Russlands;
- infrastrukturelle Entwicklung Sibiriens
und des russischen Fernen Ostens,
nicht zuletzt durch systematische
Nutzung zentralasiatischer Arbeitskräfte;
- Ausbau strategisch bedeutsamer Pipeline-
Systeme und Transportkorridore,
insbesondere durch enge Kooperation
mit dem Iran;
- nachhaltige Boden- und Wassernutzung,
vor allem im sibirisch-zentralasiatischen
Grenzgebiet;
- Gewährleistung transregionaler Nahrungsmittelsicherheit;
- Delegitimierung ethnischer Gewalt
durch Kultivierung eines neuen Transkulturalismus.
Gesucht: Eine neue strategische Kultur
Insbesondere die letzten drei Herausforderungen
bedingen einen Sicherheitsansatz,
der weit über das hinausgeht, was
gemeinhin als »vernetzte Sicherheit« bezeichnet
wird. Ein solcher Ansatz müsste
vor allem prophylaktischer Natur sein,
was wiederum eine qualitativ neue strategische
Kultur [6] voraussetzt. Qualitativ
neu bedeutet dabei nicht, das Militärische
nachhaltig zu marginalisieren, sondern
eher im Gesamtkoordinatensystem
moderner sicherheitspolitischer Herausforderungen
anders zu verorten.
Dem wiederummüsste ein neuer Gewaltbegriff
zugrunde liegen, der dem zunehmend
dualen Charakter moderner
Waffensysteme ebenso Rechnung trägt,
wie der wachsenden Komplexität von
Mensch-Maschine-Systemen sowie praktischer
künstlicher Intelligenz. Auf diesem
Wege könnte ein nicht unwesentlicher
Beitrag zur Formierung einer neuen,
die Grenzen zwischen militärischer und
nichtmilitärischer Selbstbehauptung des
Menschen aufhebenden Ethik für das heraufziehende
posthumane Zeitalter geleistet
werden. Ein ideales Betätigungsfeld
für die SchOS, will sie tatsächlich
eine »Organisation neuen Typs« sein.
Die SchOS als Wiege einer neuen
transeurasischen Zivilisation, basierend
auf einer neuen strategischen Kultur --
eine ehrgeizige Vision, aber dennoch realistisch
unter der Voraussetzung, dass
sich die beiden »Lokomotiven« der Organisation
endlich ihrer kollektiven Potenz
bewusst werden.
Höchste Zeit, dass beide »Großen« gemeinsam
und in enger Abstimmung mit
den nicht ganz so Großen sowie allen Beobachtern
über Grundbausteine einer
neuen strategischen Kultur für den transeurasischen
Raum nachdenken. Moskaus
Entscheidung vom April 2009, der wirtschaftlichen
Expansion Pekings in Russlands
Fernen Osten sowie nach Zentralasien
nicht länger im Weg zu stehen,
kann durchaus als eine vertrauensbildende
Maßnahme gelten, ist jedoch noch
kein Schritt hin zu einer wirklich neuen
strategischen Kultur.
Notwendig wäre eine gewaltige intellektuelle
Anstrengung in Sachen eurasischer
Idee jenseits aller Nationalismen.
Ein komplexes Geschichtsbewusstsein,
die genaue Kenntnis der weltlichen und
religiösen Traditionen Eurasiens sind dafür
ebenso Voraussetzung wie ein fundiertes
Gespür für neue und neueste
Trends in Wissenschaft und Gesellschaft.
Woran es der SchOS nach wie vor ermangelt,
ist eine Art Grand Strategy, eine
Vision, die den Menschen Transeurasiens
eine gemeinsame Zukunft verheißt, ohne
sie ihrer individuellen Vergangenheit zu
berauben.
Chinas Vision für die SchOS, kritisiert
der bekannte chinesische Geostratege
Jia Qingguo, bleibe abstrakt und
schlecht definiert, da das Land nicht in
der Lage sei, einen konkreten Wertekatalog
vorzulegen, der sowohl Chinesen als
auch andere Völker in den Mitgliedstaaten
der Organisation ansprechen würde.
Die Schwäche der SchOS, resümiert
Leonid Iwaschow, bestehe darin, dass sie
über keinerlei fundamentale Theorie zur
Beschreibung eines derartigen transzivilisatorischen
Gebildes verfüge, über keinerlei
formierte philosophische Weltanschaung,
Konzeptionen und Algorhythmen
zur Strukturierung dieses gewaltigen
Raums. Es bleibt also viel zu tun!
Weiterführende Literatur
Lusjanin, Sergej (2007): Wostotschnaja Politika
Wladimira Putina (Die Ostpolitik Wladimir
Putins), Moskwa, Wostok-Sapad.
Zhao, Quansheng (1996): Interpreting Chinese
Foreign Policy, Oxford University Press.
Anmerkungen-
Siehe Erklärung über die Gründung der
SchOS vom 15. Juni 2001 unter www.sectsco.
org/RU/show.asp?id=83.
- Informelle Verabredung zwischen Brasilien,
Russland, Indien und China, "neue ökonomische
Programme zu erarbeiten" sowie "die internationalen
Finanzbeziehungen zu reformieren."
(Dmitrij Medwedjew).
- Siehe z.B. Thomas Ambrosio (2005): Challenging
America?s Global Preeminence: Russia?s
Quest for Multipolarity, Aldershot: Ashgate,
S. 138.
- Leonid Iwaschow (2007): SchOS i geopolititscheskije
interesy Rossii w Jewrasii (Die SchOS
und die geopolitischen Interessen Russlands in
Eurasien), in: Schanchajskaja Organisazija Sotrudnitschestwa
i jejo rol w sosdanii alternatiwnoj
besopasnosti w Asii (Die Schanghaier
Organisation für Zusammenarbeit und ihre
Rolle bei der Schaffung einer alternativen Sicherheitsarchitektur
in Asien), Moskwa,
ROPZ, S. 22.
- Alexander Koltjukow (2008): Wlijanije Schanchajskoj
organisazii sotrudnitschestwa na raswitije
i besopasnost Zentralno-Asiatskowo regiona
(Der Einfluss der Schanghaier Organisation
für Zusammenarbeit auf die Entwicklung
und die Sicherheit der zentralasiatischen Region),
in: Schanchajskaja Organisazija Sotrudnitschestwa
-- k nowym rubesham raswitija
(Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit
-- auf zu neuen Entwicklungshorizonten),
Moskwa, IDW, S. 282.
- Im Sinne einer Garnitur aus "gemeinschaftlichen
Glaubenssätzen, Annahmen und Verhaltensweisen,
abgeleitet aus gemeinsam gemachten Erfahrungen
und allgemein akzeptierten Erzählungen
(mündlicher wie schriftlicher Art), die kollektive
Identität stiften, das Verhältnis zu anderen
Gruppen prägen sowie von zentraler Bedeutung
bei der Wahl angemessener Mittel und Wege zum
Erreichen von Sicherheitszielen sind." Siehe Darryl
Howlett (2006): The Future of Strategic
Culture, Defense Threat Reduction Agency,
Advanced Systems and Concepts Office, 31
October 2006, S. 3.
* Peter Linke leitet das Moskauer Büro
der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Dieser Beitrag erschien in: Wissenschaft & Frieden 4/2009, S. S. 15-18
Die Zeitschrift Wissenschaft & Frieden erscheint vier Mal im Jahr und ist zu beziehen bei:
BdWi-Verlag
Gisselberger Str. 7
35037 Marburg
Tel. 06421/21395; e-mail:
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