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Sozialpolitik durch Ressourcenausbeutung

Sozialwissenschaftlerin Camila Moreno über das Recht auf Konsum und den Kampf gegen Neo-Extraktivismus *


Am Samstag geht in Leipzig die vierte Internationale Degrowth-Konferenz zu Ende. Eine Delegation aus Lateinamerika versucht, den Kampf gegen Rohstoffausbeutung mit der europäischen Wachstumskritik zu verknüpfen. Mit der Sozialwissenschaftlerin und Aktivistin Camila Moreno, die an der Universidad Federal Rural de Rio de Janeiro forscht, sprach Eva Mahnke.


Camila Moreno, Sie sind aus Brasilien angereist, um auf der Degrowth-Konferenz in Leipzig über »Post-Extraktivismus« zu sprechen. Worum geht es bei diesem sperrigen Begriff?

Der »Post-Extraktivismus« ist die Alternative zu einer Politik in Lateinamerika, die als »Neo-Extraktivismus« bezeichnet wird: Rohstoffreiche Staaten richten ihre Politik ganz danach aus, mit dem Verkauf ihrer Ressourcen – Öl, Gas, andere Bodenschätze – schnelles Geld zu machen. Die Staaten mit linken Regierungen wie Venezuela, Bolivien und Ecuador finanzieren mit einem Teil der Einnahmen sozialpolitische Maßnahmen. All die grundlegenden sozialen Veränderungsprozesse, die wir in diesen Ländern beobachten können, sind auf die Vermarktung dieser Ressourcen zurückzuführen.

Und was hat das mit der wachstumskritischen Debatte hier in Leipzig zu tun?

Das Problem ist: Wir bringen den Sozialismus voran, zerstören aber die Umwelt. Außerdem rauben Bergbauprojekte, Ölfelder und Sojaplantagen der lokalen Bevölkerung ihre Lebensgrundlage. Und das wird so weitergehen. Denn um ihre Sozialpolitik am Laufen zu halten, werden die Länder ihre natürlichen Ressourcen immer weiter ausbeuten müssen. Anknüpfungspunkte zur Kritik der Degrowth-Bewegung sehe ich darin, dass der »Neo-Extraktivismus« selbst eine Folge des Kapitalismus ist und die Entwicklung kapitalistischer Strukturen wiederum verstärkt. Zum Beispiel sind in Brasilien Millionen von Menschen in die Mittelschicht aufgestiegen – mit entsprechenden Veränderungen ihres Lebensstils in Richtung mehr Konsum. Wir haben es mit einer globalisierten Welt zu tun, mit einer ganz bestimmten, westlich geprägten Vorstellung von Entwicklung.

Und was genau fordert die Anhänger des »Post-Extraktivismus«? Wie lässt sich diese zerstörerische Politik überwinden?

Die Anhänger des »Post-Extraktivismus« wollen eine alternative Ökonomie entwickeln. Wir in Brasilien verfolgen ein noch umfassenderes Konzept und sprechen von neuen Formen der Entwicklung. Wir wollen regionale Wirtschaftskreisläufe stärken und an traditionelle Formen des Wirtschaftens und Lebens anknüpfen.

Wie schwierig ist es eigentlich, Menschen für Ihr Anliegen zu gewinnen?

Das ist sehr schwierig, denn wir sind das Produkt unserer kolonialen Vergangenheit. In der Wahrnehmung vieler Menschen aus Lateinamerika haben wir nun endlich auch einmal das Recht zu konsumieren. Die Leute kämpfen für das Recht auf Unterkunft, das Recht auf Zugang zu Bildung und einer vernünftigen Gesundheitsversorgung, das Recht auf Rente. Und sie messen ihren Lebensstandard daran, ob sie sich einen neuen Kühlschrank oder endlich auch einen Flachbildschirmfernseher leisten können.

Konsum besitzt also eine große symbolische Funktion?

Genau. Die Menschen verbinden die traditionelle Lebensweise mit Rückständigkeit. Sie wollen in der Stadt leben, Hamburger essen und Coca Cola trinken. Die Menschen wollen sich mit ihrem Konsum von den traditionellen Lebensweisen abgrenzen.

Was ist dann ihre Strategie?

Unsere Verbündeten finden wir vor allem auf dem Land, bei der indigenen Bevölkerung, die sich dagegen wehrt, nach dem westlichen Modell »entwickelt« zu werden, und vielfach direkt von Minen, großen Staudämmen oder den Folgen des Pestizideinsatzes in den riesigen Sojaplantagen betroffen ist. Hier organisieren wir konkreten Widerstand vor Ort.

Ist sich die Landbevölkerung eher der Vorteile eines Lebens ohne die Verlockungen des Konsums bewusst?

Nicht von vorn herein. In der Regel sehen sie auch erst einmal in einem Leben in der Stadt das Ziel ihrer Träume. Dann gehen sie dort hin, scheitern und schämen sich, weil sie als Verlierer in ihre Gemeinschaften zurückkehren. Am Ende begreifen aber viele, dass das, was die Fernsehsendungen versprechen, nicht das ist, was sie wollen.

Meine Erfahrung ist: Wenn man zu den Leuten auf dem Land geht und ihnen nur erzählt: Geh nicht nach Rio de Janeiro, dort ist es gar nicht so traumhaft, wie alle glauben, es gibt keine wirklichen sozialen Beziehungen und keine Arbeit, dann kann man damit niemanden überzeugen. Wir können niemanden ein Leben im Sinne der Degrowth-Bewegung beibringen. Sie müssen es am eigenen Leib erfahren. Das ist ein langer Lernprozess. Mehr und mehr Menschen lernen aber, die Traditionen wieder wertzuschätzen. Das gibt uns einen Anker, der nicht neoliberal ist und eine Verbindung zur Degrowth-Bewegung darstellt.

* Aus: neues deutschland, Samstag 6. September 2014


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