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Antisemitismus und "Antisemitismus"-Ideologie

Anmerkungen zur israelischen politischen Kultur

Von Moshe Zuckermann

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann mit Blick auf das zwanzigste an einem kein Zweifel bestehen: der Wirkmächtigkeit des modernen Antisemitismus. Der monströse Völkermord an den Juden Europas darf als die eklatanteste Manifestation einer Ideologie angesehen werden, die in Praxis umgeschlagenen ist. Gleichwohl bleibt festzuhalten, daß diese trotz dieser unsäglichen Objektivation mitnichten an ihr Ende gelangt ist und sich als psycho-ideologisches Ungetüm, wiewohl allenthalben offiziell verurteilt und abgewiesen, sich immer wieder bemerkbar macht. Es ist, als sei etwas, trotz des historischen Vernichtungsexzesses, noch nicht vollends "aufgezehrt" worden. Daß dem so sein könnte, zeichnete sich bereits in den Anfangsstadien des modernen Antisemitismus ab.

Als in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts der Historiker Theodor Mommsen gebeten wurde, sich zum Antisemitismus zu äußern, weil sich sein Wort "hilfreich und reinigend" auswirken könnte, antwortete er: "Sie täuschen sich, wenn Sie annehmen, daß überhaupt etwas durch Vernunft erreicht werden könnte. In vergangenen Jahren habe ich das selbst geglaubt und fuhr fort, gegen die ungeheuerliche Niedertracht des Antisemitismus zu protestieren. Aber es ist nutzlos, völlig nutzlos. Was ich oder irgend jemand anders sagen könnte, sind in letzter Linie Argumente, logische und ethische Argumente, auf die kein Antisemit hören wird. Sie hören nur ihren eigenen Haß und Neid, ihre eigenen niedrigsten Instinkte. Alles andere zählt für sie nicht. Sie sind taub für Vernunft, Recht und Moral. Man kann sie nicht beeinflussen… Es ist eine fürchterliche Epidemie, wie die Cholera - man kann sie weder erklären noch heilen. Man muß geduldig warten, bis das Gift sich selbst aufgezehrt und seine Virulenz verloren hat".[1]

Max Horkheimer, der diese Worte Mommsens in seinem kurzen Artikel "Über das Vorurteil" (1961) zitiert, kommentierte dessen letzten Satz mit den Worten: "Es hat sich nicht aufgezehrt, sondern die furchtbare Wirkung geübt", um dann nachzusetzen: "Der Glaube, es sei nun verbraucht, ist zukunftsfroh. Anstatt daß die Bedingungen für den autoritären Charakter geschwunden sind, haben sie sich überall vermehrt. Der vielbesprochene Rückgang der Familie, die Not in überbesetzten Schulen sind nicht geeignet, autonomes Denken, Phantasie, die Lust an geistiger Tätigkeit zu entwickeln, die nicht zweckgebunden ist. Das Wachstum der Bevölkerung, die Technik selber zwingen die Menschen , innerhalb und außerhalb der Arbeitsstätte, in der Fabrik und im Verkehr, auf Zeichen zu achten, in gewisser Weise selbst zum Apparat zu werden, der auf Signale reagiert. Wer immer auf Zeichen blickt, dem wird am Ende alles zum Zeichen, die Sprache und das Denken selbst. Er wird dazu getrieben, alles zum Ding zu machen. Das ist der inneren Freiheit nicht günstig. Trotz der Steigerung der Herrschaft über die Natur, der vermehrten Kenntnis und des Scharfsinns, der sich nichts vormachen läßt und doch alles mitmacht, hat sich die Fähigkeit zur eigenen Erfahrung und zum Glück nicht ausgebreitet. Der Glaube, daß der Lebensstandard und die Vollbeschäftigung auf die Dauer alles kompensieren werden, kann trügen".[2]

Antisemitismus ... ist eine der verruchtesten Formen der Ideologie

Trotz der von Mommsen verwendeten epidemologischen Metapher und des bei Horkheimer kurz anklingenden weltgeschichtlichen Katastrophenzusammenhangs, zeichnet sich der Kommentar des Frankfurter Denkers durch das Paradigma einer sozial verstandenen Einbettung des Antisemitismus: Er bezeichnet für ihn nichts Metaphysisches, nichts, was nicht - bei aller Resistenz gegenüber "Vernunft, Recht und Moral" - auf (gescheiterte) gesellschaftliche Sozialisationsmechanismen und neuralgische Sozialstrukturen zurückführbar wäre. Eine Dialektik der Aufklärung im Sinne einer ins Gegenteilige umgeschlagenen historischen Glücksverheißung gilt ihm nicht als Kapitulation vor der siegreich gewordenen Irrationalität, sondern treibt ihn zu einer umso dringlicheren Insistenz auf die Erkenntnis dessen, was bei der Bekämpfung des antisemitischen Vorurteils "trügen" könnte. Es mag nicht überflüssig sein, dies im hier erörterten Zusammenhang hervorzuheben, denn bei allem Abscheu vor dem manifesten Antisemitismus unserer Tage, gilt es auch dem verdinglichenden Charakter der (wie immer ehrlich) entrüsteten Reaktion auf ihn zu begegnen. Denn nicht nur der Antisemitismus selbst ist eine der verruchtesten Formen der Ideologie, auch seine sich kritisch gerierende Rezeption kann sich als wesentlich ideologisch entpuppen.

Im Kontext der israelischen Staatsideologie, des Zionismus, ist diese Möglichkeit nahezu strukturell angelegt.[3] Denn insofern der Zionismus auf dem Zentralpostulat der Negation der Diaspora basiert (eine Annahme, die übrigens von vielen Zionisten abgestritten wird; würde sie doch bedeuten, daß sich die raison d'ętre des Zionismus einem Moment von Fremdbestimmtem verdanke), so gründet der Anspruch dieses Postulats in erster Linie in der Heraufkunft des modernen Antisemitismus. Das soll nicht heißen, daß es in der im 19. Jahrhundert ansetzenden Geschichte des politischen Zionismus nicht auch im Kern positive, z.B. der traditionellen religiösen Zionsliebe (chibat zion) und Zionssehnsucht (kisufe zion) entspringende Impulse gegeben habe.[4]

Zionismus und Antisemitismus

Und doch kann nicht übersehen werden, daß sich der Antrieb zur Selbstbestimmung ex negativo herausbildete, eben aus der lebensweltlich-realen Unerträglichkeit des diasporischen Daseins, sei es in den traditionellen mörderischen Gewaltformen des osteuropäischen Pogroms, sei es in der Form eines sich nach und nach etablierenden bürgerlichen Musters gesellschaftlicher Exklusion im west- und mitteleuropäischen Antisemitismus. Wenn aber der Zionismus auf den Antisemitismus reagierte, mithin die sich aus ihm kausal ableitende Notwendigkeit postulierte, die nationale Heimstätte fürs jüdische Volk zu gründen, dann läßt sich auch nicht abweisen, daß der Zionismus sich nicht nur (in gewissem Maße) dem Antisemitismus "verdankte", sondern daß er ab einem bestimmten Zeitpunkt seiner geschichtlich angelaufenen Praxis und der mit dieser einhergehenden Ideologiearbeit seiner regelrecht bedurfte. Das darf auf keinen Fall mißverstanden werden: Aktive, um die Gründung eines Judenstaates bemühte Zionisten sehnten nicht etwa antisemitische Ausschreitungen gegen Juden herbei; gleichwohl kam ihnen die Virulenz des Antisemitismus objektiv nicht ungelegen, bediente er ja ihr politisch-ideologisches Anliegen. Nicht um den brachialen Schaden diasporischer Juden ging es ihnen also, sondern um deren durch die antisemitische Praxis geförderte Bewußtseinsbildung, daß das jüdische diasporische Dasein keine Zukunft haben könne.

Was aber in der prästaatlichen Ära des Zionismus noch weitgehend als eine teilweise theoretisch herauskristallisierte, prinzipielle Komplementärmatrix des anderen großen Postulats des Zionismus - der Schaffung des sogenannten Neuen Juden - gehandhabt wurde (wobei freilich der Begriff des Neuen Juden zunächst das negative Abziehbild des diasporischen angab), verwandelte sich nach der Staatsgründung Israels zu einer existentiellen Notwendigkeit, zugleich aber auch, damit einhergehend, zu einem handfesten Ideologem. Denn wenn es eines ultimativen geschichtlichen Beweises für die Gültigkeit der Forderung, die Diaspora zu negieren, bedurfte, war er gleichsam mit der Shoah endgültig erbracht worden. Kein Jude konnte nach Auschwitz die seinem Volk im diasporischen Dasein widerfahrene Katastrophe, mithin die durch das Grauen objektiv notwendig gewordene nationale Zufluchtsstätte für die in Osteuropa (und in einem tieferen Sinne "in der Welt") heimatlos gewordenen Juden in Abrede stellen. Es ist gleichwohl genau diese Dimension der Notwendigkeit, die bald genug in eine handfeste Ideologie, die das Unsäglichste noch zum Tauschwert verkommen ließ, umschlagen sollte. Denn nicht nur hat selbst die Shoah nicht vermocht, einen großen Teil des jüdischen Volkes von der Attraktivität der mit der Gründung des Staates Israel nunmehr angebotenen zionistischen Option zu überzeugen, sondern der Staat Israel selbst bedurfte (bei aller eigenen höchst erstaunlichen Aufbauleistungen) der permanenten Bedrohung der in der Diaspora verbliebenen Juden für seine eigene Selbstvergewisserung. Und da der neue Maßstab der Bedrohung mit Auschwitz gesetzt worden, das Monströse mithin anschaulich verfügbar geworden war, degenerierte das Entsetzen alsbald zum Argument und verfestigte sich nach und nach zur Ideologie eines Bedrohtseins und zum Fetisch einer sich von den Quellen wirklicher Bedrohlichkeit zunehmend entfernenden Selbstviktimisierung. Es war (und ist) in der Tat erstaunlich, wie mit jedem neuen israelischen Kriegssieg die Doktrin der "Sicherheit" an Gewicht gewann, wie also mit gesteigerter militärischer Sicherheit die Ideologie propagierter "Unsicherheit" sich in das Alltagsbewußtsein der jüdischen Bevölkerung Israels einfräste. Was also ein strukturelles Erbteil der klassischen zionistischen Ideologie von Anbeginn gewesen war - die Dimension eines sie ex negativo Begründenden -, nahm in der sich etablierenden staatsoffiziellen Politpraxis Israels die Form zweier sich ständig nachbildenden und verfestigenden Ideologeme: die der Bedrohung von Juden "in der Welt" und die der Bedrohung Israels durch "die Araber".

Konjunkturelle Belebung des Antisemitismus-Diskurses in Israel

Nicht, daß beide Bedrohungsneuralgien eines historischen Wahrheitskerns entbehrt hätten: Die Shoah hatte nun mal stattgefunden, und die Feindschaft der arabischen Staaten Israel gegenüber konnte zu keinem Zeitpunkt seines Bestehens in Abrede gestellt werden. Was jedoch den Ideologiecharakter der hochgehaltenen Bedrohungen von Juden bzw. von Israel ausmacht, ist deren propagandistische Perpetuierung, je deutlicher sich mittlerweile herausstellt, daß besagtem Wahrheitskern der aktuelle Anspruch auf Gültigkeit (und gewiß der auf unmittelbare Dringlichkeit) mehr oder minder abhanden gekommen ist. Denn nicht nur kann schon seit langem nicht mehr davon die Rede sein, daß es irgendeinen arabischen Staat gibt, der Israel heute noch militärisch in seiner Existenz zu bedrohen vermöchte, ohne damit seinen eigenen Untergang mitbeschlossen zu haben (über eine vorgebliche existentielle Bedrohung Israels durch die Palästinenser braucht man hier überhaupt keine Worte zu verlieren), sondern auch die Kopplung des aktuellen, seine häßliche Fratze immer wieder erhebenden Antisemitismus an die Shoah bzw. an eine, wie immer gedachte, "Shoah"-Bedrohung kann letztlich nur verwundern: Nirgends auf der Welt ist der Jude als Individuum durch den Antisemitismus so bedroht, wie er es in Israel durch Israels Politik ist - und zwar als eklatante Folge einer von Israel seit Jahrzehnten betriebenen Außenpolitik und der mit dieser einhergehenden Erhaltung und Fortsetzung eines barbarischen Okkupationsregimes, eine Außenpolitik, die sich nicht zuletzt der Ideologie einer längst zum Fetisch verkommenen "Bedrohlichkeit" bedient. Die antisemitische Kollektivbedrohung von Juden in der "Diaspora" ist heute nirgends auf der Welt auch nur annähernd vergleichbar mit der kollektiven Katastrophe, die Juden erwarten dürfte, wenn es zu einem - nicht zuletzt von der israelischen Politik mitverschuldeten - regionalen Krieg kommen sollte. Daß es im Interesse keiner der beteiligten Parteien im Nahen Osten liegt, einen solchen Krieg zu initiieren, ändert letztlich nichts daran, daß die objektive Kollektivbedrohung von Juden viel eher in ihm, dem potentiellen Krieg, als im wie immer virulenten und in der Tat unerbittlich zu bekämpfenden Antisemitismus in der Welt liegt. Dies zu verdecken, ist u.a. die Funktion der konjunkturellen Belebung des Antisemitismus-Diskurses in Israel. Denn wenn der israelische Premierminister öffentlich behaupten kann, daß jede aus Europa kommende Kritik an seiner Politik unweigerlich antisemitisch sei, und sich gar dazu versteigt, zu postulieren, daß wenn er diese (antisemitische) Kritik höre, er auch begreife, wie es zum europäischen Holocaust hat kommen können,[5] dann handelt es sich entweder um das dämliche Dahergerede eines in Bedrängnis geratenen Politikers, der - obwohl Staatschef von Israel - wohl bis zum heutigen Tag das Wesen und die (weltgeschichtliche) "Bedeutung" der Shoah nicht recht begriffen hat, oder aber - was eher anzunehmen ist - er bedient mit dieser populistischen Rhetorik genau das, was den Ideologiecharakter des seinem Wesen nach heteronomen israelischen Antisemitismus-Diskurses ausmacht, wie er sich im kulturellen Bewußtsein der allermeisten jüdischen israelischen Bürgerinnen und Bürger mehr oder weniger deutlich kodiert hat.

Antisemitismus wird zum Wesenszug des Islam erklärt

Denn nicht um den Schutz der Juden in der "antisemitischen Diaspora" geht es dem israelischen Antisemitismus-Diskurs für gewöhnlich, sondern um eine Apologie des Zionismus, mithin um die Perpetuierung der "Diaspora" als Affirmationsgrundlage des eigenen, in den letzten Jahren aus mannigfaltigen Gründen immer bedrohlicher ins Wanken geratenen "israelischen" Selbstverständnisses, ein Anliegen, bei dem man - wie dargelegt - immer schon auf die ideologisch durchherrschte Vereinnahmung des "Antisemitismus" zurückzugreifen wußte. Daran, daß mit solcher Vereinnahmung gerade eine menschenverachtende Politik gerechtfertigt und gepolstert werden mag (wie im Paradefall des israelischen Premierministers), hat sich der allergrößte Teil der jüdischen israelischen Bevölkerung nie wirklich gestoßen. Im Gegenteil, da die Shoah mutatis mutandis zur raison d'ętre des zionistischen Staates umideologisiert worden war, erwies sich der politisch instrumentalisierte "Antisemitismus" als effizientes Mittel zur Entsorgung des von "der Welt" widergespiegelten, in der Tat sehr wenig schmeichelhaften Bildes eines politischen Gewaltsubjekts und barbarischen Eroberers. Endgültig zufrieden darf man sich in diesem Zusammenhang durch den in den letzten Jahren merklich erstarkten "islamischen Antisemitismus" wähnen. Koppelt sich in ihm ja beides: der in Europa gewachsene "Antisemitismus" mit der nahöstlichen militärischen "Bedrohung", der "Shoah"-Code also mit der "Sicherheitsdoktrin": die geradezu ideale Basis für eine neue, ideologisch freilich über Jahrzehnte erprobte Selbstviktimisierung. Man verfährt dabei essentialistisch. Der Antisemitismus wird (vor allem in den Medien) zum Wesenszug des Islam erklärt, ohne sich länger bei der Grundtatsache aufzuhalten, daß sich dieser geschichtlich gerade nicht durch jenen brachial verfolgenden, geschweige denn eliminatorischen Judenhaß auszeichnete, der die gesamte abendländische, mithin christliche Kultursphäre jahrhundertelang bis hin zum nationalsozialistischen Völkermord durchwirkte. Israelische Juden orientalischer Provenienz pflegen zu erzählen, wie gut für gewöhnlich die nachbarliche Beziehung zur muslimischen Umwelt in ihren Ursprungsländern bis 1948 war. Auch das über den Nahostkonflikt hinausgehende Erklärungsmuster, demzufolge sich die in der islamischen Welt ausbreitende antisemitische Rhetorik einer postkolonialen Reaktion auf die Moderne des "Westens", der mit dem Kapitalismus identifiziert, und dessen Zirkulationssphäre - hier nun ein genuine europäische antisemitische Figur - mit den "Juden" gleichgesetzt wird, geschuldet sei, wird nicht in Anschlag gebracht. Ganz und gar verbietet sich die Erklärung, welche den islamischen "Antisemitismus" als einen in der arabischen Welt nun wahrhaft nicht verwunderlichen Antizionismus erwiese, in der moderateren Form des Ressentiments aber darüber hinaus den schlichten Konnex zwischen Israels repressiver Politik in den besetzten Gebieten und einer - wie immer vehementen - antiisraelischen Haltung herstellte. Da der Antisemitismus archaisiert wird, dürfen keine unmittelbaren, womöglich das ideologisch beklagte Phänomen des "islamischen Antisemitismus" klärende Kausalbezüge zugelassen werden, schon gar nicht, wenn sie eine eklatante Selbstverschuldung des erwachenden antiisraelischen Ressentiments auf den Punkt bringen könnten.

Darlegungen wie die hier vorgenommene bringen es stets mit sich, daß man sich in eine dichotome Entweder-Oder-Polarität gedrängt sieht: Entweder gibt es den virulenten Antisemitismus (wieder), dann nimmt sich die instrumentalisierende Vereinnahmung des Phänomens als zweitrangig aus; oder aber ist die Ideologisierung des Antisemitismus, seine Umfunktionalisierung in den "antisemitischen" Tauschwert vorrangig, dann braucht man sich um antisemitische Erscheinungen nicht weiter zu bekümmern - sie seien eben lediglich politisch aufgebauscht. Die Insistenz auf Ausschließlichkeit einer jeden Position verheißt nichts Gutes; es gilt einem rigorosen Sowohl-als-auch das Wort zu reden. So wie es den Antisemitismus überall zu bekämpfen gilt, wo er sich manifest oder latent zu erkennen gibt, wobei ein größeres Augenmerk als bisher auf die Transformationsstrukturen und -prozessen von der nebulösen Latenz zum deutlich Manifesten gelegt werden müßte, so bedarf es auch fortwährender Kritik der ideologisierten Vereinnahmung des Abscheus vor dem Antisemitismus und des Shoah-Andenkens für fremdbestimmte Partikularinteressen, und zwar besonders dann, wenn sich herausstellt, daß der "Antisemitismus" als propagandistisches Schreckbild für die Perpetuierung einer Politik menschlicher Unterdrückung herangezogen, das Andenken der Opfer mithin dadurch wesentlich kontaminiert wird, daß es zur rationalisierenden Rechtfertigung einer immer neue Opfer erzeugenden politischen und gesellschaftlichen Realität verkommt. Ob das antisemitische Gift sich jemals selbst "aufgezehrt" haben wird, kann nicht ohne weiteres vorausgesagt werden; zu vieldimensioniert ist seine reale Geschichte, zu gewunden seine Hauptbahnen und Nebenwege. Nicht annährend angegangen wäre es gleichwohl, wenn sich seine Bekämpfung als fremdbestimmte Instrumentalisierung des Unsäglichen erwiese, die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus zur puren "Antisemitismus"-Ideologie verrottete.

Anmerkungen
  1. Zitiert nach: Max Horkheimer, Über das Vorurteil, in: Gesammelte Schriften, Bd.8, Frankfurt/M 1985, S.199.
  2. Ebd., S. 199f.
  3. Ausdrücklich hervorgehoben sei hier, daß es sich um eine Möglichkeit, mithin darum, daß dem so sein kann, nicht aber sein muß, handelt.
  4. Vgl. hierzu: Moshe Zuckermann, Antisemitismus, Zionismus und Assimilation, in: Osnabrücker Jahrbuch, VI/1999, S.187-196
  5. Das ist wahrhaft nur ein Beispiel für die gängige ideologische Rhetorik, welche die israelische politische Alltagskultur unentwegt überschwemmt. Es ließen sich noch viele Hunderte anderer Beispiele dieser Art anführen.
* Moshe Zuckermann ist Leiter des Instituts für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv.


Dieser Beitrag erschien in: inamo (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Nr. 38, Juni 2004

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