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Fotografiert die Täter!

Bis heute lehnen deutsche Unternehmen eine Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus ab

Von Marlene Göring *

Stolpersteine sind Zeugen der Opfer, die unter dem Regime der Nationalsozialistischen ausgegrenzt, verschleppt und ermordet wurden. Ein Fotoprojekt will jetzt die Täter sichtbar machen - und die Profiteure.

Verfallene Fabriken, Straßenschilder, neonleuchtende Konzerneingänge: Sie sind noch überall, die Tatorte der Vergangenheit. Heute weiß nur fast keiner mehr davon. Die Zeit des Nationalsozialismus steht zwar auf dem Lehrplan, aber im ahistorischen Alltag läuft man einfach an den Schauplätzen seiner Verbrechen vorbei. Trägt den Namen Evonik auf dem T-Shirt. Kauft sich eine Tüte Haribo.

Die Verwicklung der Wirtschaft in Nazi-Politik ist das am schwersten zu beackernde Aufarbeitungsfeld, weiß Ulrich Sander. Der Journalist hat gerade das Buch »Von Arisierung bis Zwangsarbeit« herausgegeben. Darin hat er die Verbrechen der Wirtschaft im Rhein-Ruhr-Gebiet zwischen 1933 und 1945 zusammengetragen. Sander ist Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA). Sein Buch ist das Ergebnis eines mehrjährigen Projekts des Landesverbands. Dreißig Fotos geben einen Überblick, welche Firma, welcher Unternehmer wie involviert war - und wo sie ihre Spuren hinterlassen haben. Die Autoren haben Orte recherchiert, dokumentiert und Bürgeranträge gestellt, zum Beispiel, damit Straßen neue Namen erhalten. Wo Umbenennungen nicht möglich sind, sollen Mahntafeln aufgestellt werden. »Die Betreffenden sollen sich nicht weiter präsentieren können«, sagt Sander. »Und wenn, dann mit richtiger Erklärung.« Der VVN weitet das Projekt nun aus. In ganz Deutschland sollen Fotografen und Aktivisten Orte festhalten, die gar nicht oder in falscher Weise an ihre Vergangenheit erinnern. Eine Art fotografisches Gedächtnis entwirft dann eine digitale Karte der ökonomischen Profiteure des Dritten Reichs. Dafür braucht das Projekt Ehrenamtliche, die ihre Umgebung auf verborgene Zeichen und falsche Erinnerungen absuchen.

Der VVN nimmt das 80-jährige Jubiläum eines Treffens in der Schröder-Villa in Köln zum Anlass, die zweite Phase des Fotoprojekts anzustoßen. Dort kamen am 4. Januar 1933 die NS-Regierung und Wirtschaftsvertreter zusammen - Adolf Hitler rief, viele Firmen und Banken folgten. Unter anderem ging es um die Entwicklung einer gemeinsamen Strategie. Tatsächlich saßen gerade im industriestarken Nordrhein-Westfalen viele wichtige Verbündete der NS-Regierung. So vermarktete das Unternehmen Degussa, das heute zum Evonik-Konzern gehört, das Gold aus herausgebrochenen Zahnfüllungen ermordeter KZ-Häftlinge. In Kooperation mit IG Farben stellte die Firma Zyklon B her. Aber auch zahlreiche kleinere Unternehmen profitierten vom Faschismus, durch entstandene Marktlücken etwa für Kriegsprodukte, Verträge mit der Regierung und Zwangsarbeiter.

Bis heute erkennt die Wirtschaft ihre tragende Rolle im Nazi-Regime nicht an, meint Sander. »Es ist anerkannt und verbreitet, der Opfer zu gedenken, da gibt es immer einen Konsens.« Täter zu benennen, sei dagegen immer strittig. »Daran sehen wir, dass es eine Klientel gab und gibt, die daran kein Interesse hat«. Das ist vor allem auch eine finanzielle Frage und der eigentliche Skandal. 50 Milliarden müssten deutsche Unternehmen ehemaligen Zwangsarbeitern und Hinterbliebenen zahlen, 5 Milliarden sind es erst gewesen, sagen Experten. Die Zeit der Entschädigungszahlungen ist jedoch vorbei. Vor zehn Jahren drohten noch Sammelklagen. »Jetzt scheint die Sache im Sand zu verlaufen«, bedauert Verbandssprecher Sander. Eine Gesamtaufarbeitung, eine benannte Verantwortung der Wirtschaft gebe es bisher nicht. Psychiater, Ärzte, Bergbau: »Es gibt kaum eine Berufsgruppe, die sich davor gedrückt hätte - außer die Unternehmer«, sagt er. Sander geht dafür umso engagierter in die nächste Phase der fotografischen Spurensuche: »Genau das wollen wir ändern.«

Internet: www.r-mediabase.eu
Fotos an: post@r-mediabase.eu

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 02. Januar 2013


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