Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Yehuda Bauer: Jüdische Reaktionen auf den Holocaust

Nicht wie die Schafe zur Schlachtbank

Von Kurt Pätzold *

Dieses Buch ist nicht die erste Erwiderung auf die vielfach verbreitete These, wonach die europäischen Juden sich zu ihren faschistischen Mördern transportieren ließen »wie die Schafe zur Schlachtbank«. Doch es ist die bei weitem kenntnisreichste, von disziplinierter historischer Fantasie geprägte. Verfasst hat sie der 1926 in Prag geborene, den Nazis entkommene Yehuda Bauer, der an der Hebräischen Universität in Jerusalem lehrte und Leiter des Zentrums für Holocaust Studien in Yad Vashem war.

Dabei ist des Autors Monografie, die aus einer Serie von Vorträgen im israelischen Rundfunk hervorging, 1983 zuerst auf Hebräisch und 1989 in englischer Sprache gedruckt wurde, an keiner Stelle zu einer lauten Streitschrift missraten – wenngleich der Autor zu Recht fragt, ob an das Verhalten der jüdischen Opfer der faschistischen Vernichtungspolitik nicht andere und höhere Ansprüche gestellt werden als an Millionen andere, die sich ihr ähnlich widerstandslos ergaben – beispielsweise die in Mörderhände gefallenen sowjetischen Kriegsgefangenen, denen besagtes Bild nicht angeheftet wurde.

Chronologisch vorgehend und 1933 einsetzend, prüft Bauer, was die Juden von den Absichten, einzelnen Schritten und jeweiligen, wechselnden Zielen der deutsch-faschistischen Antisemiten wissen oder wenigstens ahnen konnten. Er forscht nach den ihre Urteile irritierenden Vorgängen, untersucht, welche objektiven und subjektiven Voraussetzungen existierten, sich auf die Politik der Machthaber einzustellen und legt dar, welche Rolle traditionelle Organisationen der Juden spielten. Bauer schildert, was Gruppen und einzelne Personen taten oder unterließen, welche Chancen des Widerstands und des Überlebens genutzt, welche ausgelassen wurden. Und er fragt, mit Blick auf die einzelnen Phasen der Judenverfolgung, die in das Massenmorden mündeten, welchen Anteil die unternommenen und die ausgebliebenen Reaktionen des Auslands auf den Verlauf des Geschehens besaßen.

Die Antworten auf diese Fragenkette werden mit einer bis in viele weithin unbekannte Details reichende Analyse der Ereignisse gegeben. So kommen die Emigration, die Fluchten über Grenzen, das Abtauchen in die Illegalität, die gefälschten Identitäten. der Zusammenschluss zu eigenen Partisanengruppen oder der Anschluss an schon existierende, u a. in Weißrussland, Jugoslawien und Griechenland. Natürlich nehmen der Warschauer Ghettoaufstand 1943 und die Aktionen zur Rettung der letzten großen Gruppe der Verfolgten in Ungarn im folgenden Jahr einen breiteren Raum in diesem Buch ein als andere Ereignisse, Vorkommnisse und Episoden aus dem im Kern unerschöpflichen Geschehen. Gehören doch zu diesem Widerstand auch die mit dem Warenschmuggel befassten namenlosen jüdischen Kinder im Ghetto von Warschau. Denen müsste, schlägt Bauer vor, nicht ein, es müssten ihnen Tausende Denkmäler gesetzt werden.

Differenzierend erörtert der Autor die Frage nach dem Verhalten der nichtjüdischen »Umwelt« und dessen Folgen. Es hätte, lautet eine seiner Thesen, ohne deren Hilfe die Mehrheit der Juden in Belgien, Frankreich, Italien, Dänemark, Norwegen und Bulgarien nicht überleben können. So setzt die Schrift auch einer Anzahl namentlich genannter Helden ein literarischen Gedenkstein. Zu jenen, denen hier gedacht wird, gehören der Geschäftsmann Berthold Storfer, der Schiffstransporte nach Palästina organisierte, der japanische Konsul in Kaunas und der portugiesische Generalkonsul in Bordeaux, die den Juden entgegen den Weisungen ihrer Regierungen Transitvisen ausstellten und danach übrigens jeweils bestraft wurden.

Wiederum anhand konkreter Tatsachen und Verläufe stellt sich Bauer sodann der viel umstrittenen Frage nach der Rolle der Judenräte in und außerhalb von Ghettos, die unterschiedslose Anklagen und Verurteilungen verbieten. Nie standen Menschen vor Entscheidungen wie jene, die von deren Vorsitzenden und Mitgliedern als Folge der unmenschlichen Forderungen der faschistischen Herrscher verlangt wurden. Wie fragt er, wäre das Urteil über den Judenrat im polnischen Lodz, das die Nazis Litzmannstadt tauften, ausgefallen, wenn die sowjetischen Armeen nur Wochen früher in die Stadt gekommen und also einer ungleich größere Zahl von Juden befreit haben würde? Jedenfalls ist das Bild von den reaktionslos dahintrottenden Schafen eine tatsachenwidrige Verallgemeinerung.

Dennoch bleibt die Frage, warum sich vernunftbegabte Menschen als Einzelne und in mehr oder weniger großen Gruppen auch unbezweifelbaren Nachrichten über ein ihnen drohendes Unheil verweigern konnten. Mit der viel zitierten Wendung von der Hoffnung, die zuletzt stirbt, lässt sich die Sache nicht abtun. Yehuda Bauer jedenfalls meint, es sollten sich Historiker und Psychologen des beunruhigenden Themas gemeinsam annehmen.

Yehuda Bauer: Jüdische Reaktionen auf den Holocaust. LIT Verlag, Berlin. 219 S. , geb., 29,90 €.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 8. November 2013


Zurück zur Seite "Rassismus, Faschismus"

Zurück zur Homepage