- Von Aly Ndiaye -
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat das Jahr 2001 zum Internationalen Jahr gegen Rassismus erklärt und mit der Einberufung der dritten UN-Konferenz gegen Rassismus in die südafrikanische Hafenstadt Durban für den 31. August bis 7. September die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf den in den letzten Jahrzehnten weitgehend vergessenen afrikanischen Kontinent gelenkt. Die Weltkonferenz will praktische Schritte zur Verhütung und zur Beseitigung von Rassismus erörtern und sich dafür einsetzen, daß den Opfern von Rassismus wirksame Rechtsmittel zur Verfügung gestellt werden. Erklärtes Ziel der Konferenz ist die »Überprüfung der seit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erzielten Fortschritte im Kampf gegen Rassismus, die Prüfung von Möglichkeiten, wie die Umsetzung der bestehenden Rechte zur Bekämpfung von Rassismus besser gewährleistet werden kann, die Überprüfung der politischen, historischen und sonstigen Faktoren, die zu Intoleranz führen, sowie die Ausarbeitung konkreter Empfehlungen zur Sicherstellung von finanziellen und andere Ressourcen, die die UNO zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit benötigt«.
Vor Durban fanden vorbereitende Regionalkonferenzen in Dakar für Afrika, in Teheran für Asien, in Santiago de Chile für Lateinamerika und in Strasbourg für Europa statt. Die Positionen dieser Konferenzen sind dann zum Zwecke ihrer Harmonisierung wochenlang in Genf diskutiert worden, wo der Versuch, ein Konsenspapier zustande zu bringen, an den unterschiedlichen Standpunkten zu den Fragen des Sklavenhandels und der Kolonisation einerseits und andererseits zur Nahost-Problematik gescheitert ist. Vertreter von afrikanischen und nordamerikanischen Organisationen wollen das Thema Wiedergutmachung für die Greuel der Sklaverei und der Kolonisation auf die Tagesordnung der Durbaner Konferenz setzen. Voraussetzung dafür ist, daß Westeuropa und die USA die Sklaverei und Kolonisation als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkennen.
Boykottiert von den USA
Der andere Stein des Anstoßes liegt in der beharrlichen Intention der arabischen Staaten, Zionismus und Rassismus gleichzusetzen bzw. Israel als rassistischen Staat zu verurteilen. Die UNO-Vollversammlung hat allerdings vor zehn Jahren eine 1975 verabschiedete Resolution aufgehoben, die den Zionismus als rassistisch verurteilt hatte. Der Beschluß von 1975 diente den USA als offizielle Begründung für ihren Boykott der ersten und der zweiten UN-Rassismuskonferenz in den Jahren 1978 und 1983. Und auch an der UN-Rassismuskonferenz in Durban werden die USA nicht teilnehmen. Der Hauptgrund dafür seien die arabischen Bemühungen, Israel wegen rassistischer Behandlung der Palästinenser anzuprangern, sagte Außenamtssprecher Richard Boucher am Montag in Washington. Die USA haben sich auch gegen alle Bestrebungen ausgesprochen, in Durban Wiedergutmachung für Sklaverei und Kolonialismus einzufordern.
»Verbrechen gegen die Menschlichkeit« sind strafbar und wiedergutmachungspflichtig, Verjährung ist ausgeschlossen. Die Opfer historischer Verbrechen sind finanziell zu entschädigen. Das ist das völkerrechtliche Erbe des 20. Jahrhunderts. Auf dieser Grundlage fordern Afrikaner Reparationen für 400 Jahre Versklavung und Kolonialismus. Afrikanische Staaten fordern die Anerkennung des Sklavenhandels als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Sie verlangen, daß die Europäer und die USA sich offiziell entschuldigen und zu ihrer historischen, moralischen, wirtschaftlichen, politischen und juristischen Verantwortung stehen.
Die westeuropäischen Staaten und die USA wollen davon nichts wissen. Die ehemaligen Kolonialmächte wären bereit, ihre Reue für die Zeit der Sklaverei auszudrücken und die verheerenden und nachhaltigen Wirkungen der Kolonisation anzuerkennen. Wiedergutmachung aber lehnen sie ab, da sie befürchten, mit einer Welle von Anklagen konfrontiert zu werden.
Dies scheint jedoch unausweichlich zu sein, seitdem amerikanische Staranwälte den lukrativen Streitfall für sich entdeckt haben. Johnnie Cochran, der einst den Footballstar O. J. Simpson vor dem Knast bewahrte, bereitet gegenwärtig eine Klage gegen die US-Regierung vor; zudem fordern mehrere Stadtparlamente in den USA öffentliche Anhörungen zu den noch heute spürbaren Spätfolgen der Sklaverei. Die Anklage würde alle bisherigen Prozesse gegen Menschenrechtsverletzer in den Schatten stellen.
Schätzungen zufolge fielen in den dreihundert Jahren zwischen 1550 und 1850 rund fünfzig Millionen Afrikaner dem Sklavenhandel zum Opfer. Sie wurden in ihrer Heimat gekidnappt und wie Vieh über den Atlantik verfrachtet. Viele starben während der Überfahrt. Die Überlebenden schufteten auf Baumwoll- und Zuckerrohrplantagen in Süd- und Nordamerika und auf den karibischen Inseln hunderte Milliarden Arbeitsstunden. Allein auf britischen Pflanzungen in der Karibik arbeiteten Sklaven Jahr für Jahr drei Milliarden Stunden ohne ein Pfund Lohn. Für den französischen Historiker Jean-Michel Deveau steht fest: »Der Sklavenhandel war das größte Verbrechen der Weltgeschichte«. Ohne die unbezahlte Arbeitskraft der Sklaven wäre die von England ausgegangene industrielle Revolution nicht möglich gewesen, meint der Trinidader Historiker Eric Williams: Nur mit dem aus dem Sklavenhandel akkumulierten Kapital habe sich der Westen zur »ersten Welt« mausern können. »No Spaceship without slaveship« - »Keine Mondlandung ohne Sklaverei«.
777 Billionen Dollar
Im Spätsommer 1999 benannte die »African World Reparations and Repatriations Truth Commission« erstmals eine konkrete Summe für den wiedergutzumachenden Schaden. Ob man die Zahl albern findet oder nicht, sie taugt auf jeden Fall als Beleg für die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens, um das es geht. Gefordert werden 777 Billionen Dollar, das sind zirka 1,4 Trillionen Deutsche Mark, in etwa das 3 500fache der derzeitigen Schulden Schwarzafrikas. Es handelt sich »keineswegs um einen symbolischen, sondern um einen realistischen Betrag«, versichert Hamet Maulana, Sprecher der Gruppe »International & Historic African World Reparations and Repatriation Conference«. Die Summe sei das Ergebnis jahrelanger wissenschaftlicher Recherchen.
In England haben schon mal das Oberhaus und die Regierung darüber debattiert, und Zeitschriften widmen dem Thema Titelseiten. Die letzte konservative Regierung in London soll 1997 gegenüber dem Abgeordneten Bernie Grant, dem Vorsitzenden des dortigen »Africa Reparation Movement« (ARM), angedeutet haben, man sei bereit, Reparationen zu gewähren, vorausgesetzt, die Nachkommen der Sklaven könnten den anhaltenden Schaden durch die Versklavung belegen, sei er physisch, psychologisch oder ökonomisch. Was nicht schwerfallen dürfte. Doch das steht nicht mehr auf der Tagesordnung. Die Blair-Regierung behauptet nunmehr im Schulterschluß mit der Bush- Administration, daß nach angelsächsischer Rechtsauffassung vom Wort »Apology«, also »Entschuldigung«, Ansprüche auf finanzielle Entschädigung abgeleitet werden können, die sie bekanntlich strikt zurückweisen.
In Frankreich hat die Nationalversammlung auf Initiative der aus dem französischen Übersee-Departement Guyana stammenden Abgeordneten Taubira Delanon am 10. Mai 2001 die Versklavung der Afrikaner per Gesetz als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« anerkannt. Paris will sich trotzdem nicht entschuldigen und denkt auch nicht daran, Reparationen in irgendeiner Form zu leisten. Dementsprechend wird die französische Vertretung in Durban klein gehalten; weder Chirac noch Jospin oder Hubert Vedrine werden der Konferenz die Ehre erweisen. Die Pariser Diplomatie betrachtet die Antirassismus- Veranstaltung als eine »heiße Kartoffel«.
Die deutsche Schuld
Die verschiedenen Regierungen der Bundesrepublik Deutschland haben bis heute nicht einmal eine Entschuldigung für die Verbrechen der deutschen Kolonialtruppen an den Hereros in Namibia über die Lippen gebracht. Auch in den deutschen Medien bleibt die Forderung nach Wiedergutmachung für Mord und Verschleppung von Millionen Menschen auffällig unbeachtet. Die Verbrechen werden verdrängt. Geschichtsbücher allerdings erwähnen die besondere Grausamkeit des deutschen Kolonialismus. Sei es nun gegen Bauern in Kamerun, gegen die Hehe in Tanganjika (heute Tansania) beim Eisenbahnbau, im Maji-Maji-Krieg oder 1904 beim Warterberg-Massaker an den Hereros: »Niemals Pardon geben«, die Weisung des Befehlshabers im damaligen Deutsch-Südwest-Afrika, Lothar von Trotha, galt überall in den deutschen Kolonien. Als vierundneunzig Jahre später Häuptling Kaima Riruako im Namen der Hinterbliebenen des Herero-Volkes vom zu Besuch weilenden deutschen Präsidenten Roman Herzog Entschuldigung und Reparationen erbat, gab es nur leere Worte. Massenerschießungen von Gefangenen, das Niedermetzeln verwundeter Herero-Kämpfer, gezieltes Verdurstenlassen von Frauen und Kindern, Enteignungen, Zwangsarbeit der Überlebenden für die Deutschen, Entwürdigung Tausender Herero-Frauen als Sexsklaven - das alles ist belegt, doch deutschen Entscheidungsträgern bis heute keine Geste, geschweige denn einen Pfennig wert. Als die Versuche der Hereros scheiterten, in Verhandlungen eine Lösung zu erreichen, klagten sie vergeblich vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Dort sind nur Staaten, nicht aber Völker zugelassen.
Gewiß, der transatlantische Sklavenhandel, die millionenfache brutale Verschleppung der Menschen Schwarzafrikas ist ein historisches Verbrechen, bei dem deutsche Täter einmal nicht in vorderster Linie standen. Am nachfolgenden, nicht weniger brutalen Kolonialismus aber hatte Deutschland seinen Anteil. Erinnert sei nur an die entscheidende »Berliner Konferenz« von November 1884 bis Februar 1885, auf der die endgültige Aufteilung Afrikas planmäßig organisiert wurde. Auch dafür wird Entschädigung verlangt. Aber auch in den Niederlanden, in Portugal und Spanien - Pionieren des Sklavenhandels und des Kolonialismus - herrscht gleichgültiges Schweigen über das Thema.
Der Sklavenhandel ist der historische Hintergrund für viele aktuelle Probleme Afrikas. Der britische Rechtsanwalt Lord Anthony Gifford, Reparationsaktivist der ersten Stunde, konstatiert: »Die Unterentwicklung und Armut in den meisten Ländern Afrikas und der Karibik sind ebensowenig wie die Ghetto-Verhältnisse, unter denen viele Schwarze in den USA und andernorts leben, ein Ergebnis von Faulheit, Inkompetenz oder Korruptheit der Afrikaner bzw. ihrer Regierungen. Zum überwiegenden Teil sind sie Folge des Sklavenhandels und der Institution der Sklaverei«.
Während in ihren Herkunftsländern die Entwicklung behindert wurde, bereicherte die Arbeit der Sklaven die Länder ihrer Herrn. Blockierte Entwicklung, soziale Deprivation und Minderwertigkeitsgefühle, Ghettoisierung und Verarmung - wer kann den Schaden ermessen, den der afrikanische Kontinent durch den massiven Aderlaß gerade unter seinen jungen Menschen erlitt! Nie wurde dafür eine Entschädigung gezahlt. Im Gegenteil: Als die Sklaverei 1848 offiziell »abgeschafft« wurde, bekamen die Sklavenhalter in den britischen Kolonien 20 Millionen Pfund als Entschädigung für den Verlust ihres »Eigentums«. Der US-amerikanische Kongreßabgeordnete John Conyers, der beharrlich für die Einsetzung einer Kommission kämpft, um die Entschädigung für die Nachkommen der Sklaven zu ermöglichen, betont: »Genauso wie die weißen Amerikaner von Bildung, Lebenserfahrung und Reichtum ihrer Vorfahren profitieren, genauso leiden afrikanische Amerikaner bis heute unter der Sklaverei. Die Früchte ihrer Arbeit wurden ihnen gestohlen, ihre afrikanische Kultur, ihr Erbe, ihre Familie; Sprache und Religion wurden ihnen versagt, ihre Identität, ihr Selbstbewußtsein wurden zerstört durch Unterdrückung und Haß«.
Die Welt des wohlhabenden Nordens ohne den transatlantischen Sklavenhandel würde heute anders aussehen. Liverpool ist das berühmteste Beispiel einer Stadt, die ihren Wohlstand diesem Verbrechen verdankt. Doch auch London, Bordeaux, Marseille, Lissabon, Kopenhagen, Gent, Hamburg, Amsterdam profitierten kräftig dabei. Und Amerika.
Die vielleicht bedeutendste und zugleich bedrückendste Folge für die heutige Welt ist für Weiße oft unsichtbar: weltweite »Negrophobie«, der in nicht-schwarzen bzw. »gemischten« Gesellschaften tief verwurzelte Rassismus. »Die schwarze Haut ist anhaltend das Merkmal für Geringschätzung in der Welt von heute«, so der nigerianische Schriftsteller und Wissenschaftler Chinweizu auf einer Panafrikanischen Konferenz zu Reparationen 1993.
Zynische Einwände
Wiedergutmachungskritiker wenden ein, daß die Auswahl der Beklagten selektiv ist. Nach ihrer Meinung müßten der arabische Sklavenhandel und die Rolle afrikanischer Könige genauso kritisch betrachtet werden. Die Europäer hätten die seit Jahrtausenden existierende Sklaverei nicht erfunden. Im übrigen gäbe es in Ländern wie Mauretanien oder Sudan noch immer Sklaverei. Abgesehen davon, daß solche Abwehrargumente ins Reich der Schutzbehauptungen gehören, ist es schon ein eigentümlicher Zynismus, wenn sich Europäer über anhaltende Sklaverei - am liebsten aus dem neuen islamischen Reich des Bösen - aufregen, aber die Forderung nach Reparationen abtun.
Es war nicht die Sklaverei an sich, sondern die gewerbsmäßige Erniedrigung afrikanischer Menschen zur Ware, die transatlantischen Sklavenhandel zu dem einmaligen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« machte, für die Wiedergutmachung verlangt wird sowie für deren unmittelbare Folge, nämlich die auf Rassismus und Raub setzende Kolonialherrschaft. Menschen den Charakter einer Massenware zuzuschreiben - das war neu.
Nicht die arabische Sklaverei bestimmte die Weltökonomie. Und daß afrikanische Herrscher als Mittelsmänner in das schmutzige Geschäft verstrickt waren, ändert nichts an der Verantwortung des Westens, der mit allen Gewaltmitteln seine Handelsinteressen durchpeitschte. Der immense Verlust von Menschen - etwa zwölf Millionen erreichten Amerika, fast die gleiche Zahl kam während des mörderischen Transports zu Lande und zu Wasser um - läßt sich natürlich nicht in Geld erfassen.
Nimmt man als Grundlage jedoch Summen wie die zuletzt an die Zwangsarbeiter der Nazis gezahlten und rechnet diese auf nur 300 Jahre Arbeit hoch, erreicht man immerhin bereits ein Prozent der erwähnten »Irrsinnssumme«. Darin nicht enthalten: der Wert der kolonialen Raubgüter wie Gold, Kaffee, Millionen Kunstgegenstände, die bis heute europäische und nordamerikanische Museen und Privathaushalte schmücken, Entschädigungen für die Zerstörung örtlichen Eigentums bei der Niederschlagung unzähliger Aufstände etc. Allein die Bergbaugesellschaften in Deutsch-Südwest (heute Namibia) schafften beispielsweise zwischen 1908 und 1913 5,3 Millionen Karat Diamanten - 200 Kilogramm pro Jahr - aus dem Land. Soviel exportiert das Land heute nicht.
Nach internationalem Recht komme Entschädigung dann in Frage, wenn die Nachfahren der Opfer noch unter den Folgen des Unrechts leiden, meint der britische Anwalt und Mitglied des Oberhauses, Lord Anthony Gifford: »Wenn der Westen erst einmal erkannt hat, daß ein Großteil seines Reichtums auf ein eklatantes Verbrechen gegen die Menschheit beruht, dann ist doch klar, daß das wiedergutzumachen ist.«
Die afrikanischen Völker fordern die gestohlenen Reichtümer zurück, ihre Kunstgegenstände, aber auch Gold, Diamanten und andere Mineralien, die gerade in den letzten Jahren der Kolonialherrschaft massenhaft den Kontinent verließen. Simbabwe hat die Forderung nach Reparationen für »das internationale Verbrechen des Kolonialismus« in seiner Verfassung verankert. So könnte vielleicht Robert Mugabe endlich die 4 000 britischstämmigen Siedler loswerden, die bis heute das beste Land bestellen. Ein Aspekt, der zeigt, wie aktuell das Thema ist.
Auf jeden Fall muß ein neues Weltgefüge erreicht werden, in dem Menschen unabhängig von ihrer Hautfarbe einen gleichberechtigten Platz für sich und ihre kulturelle Identität finden. Ein neues Verhältnis von gegenseitigem Respekt und Gleichberechtigung kann allerdings nicht entstehen, solange es keine Wiedergutmachung für den verheerenden Schaden gibt, den Sklavenhandel und Kolonialismus angerichtet haben. Daß die 200 reichsten Menschen der Welt soviel besitzen wie über zwei Milliarden der ärmsten, macht wirklich irrsinnig.
Aus: junge welt, 31. August 2001