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Ständig kamen neue Transporte

Der erschütternde Bericht von Chil Rajchmann über Treblinka

Von Günther Frieß *

Ja, ich habe überlebt, um Zeugnis abzulegen von dem Riesenschlachthof Treblinka!« Mit diesen eindrücklichen Worten endet der erst jetzt entdeckte Bericht des Juden Chil Rajchmann über seine Zeit im Vernichtungslager Treblinka. Zweifelsohne ist die Entdeckung dieses Dokuments eine zeitgeschichtliche Sensation, ähnlich dem Fund der Tagebücher der Anne Frank im August 1944.

Während viele Zeugnisse über die Shoah nach dem Krieg geschrieben und häufig mit großem zeitlichen Abstand überarbeitet wurden, verfasste Rajchmann seine »Aufzeichnungen für die Nachwelt« auf der Flucht vor den Nazi-Schergen nach dem Lageraufstand am 2. August 1943. So entstand der Text unmittelbar im Schatten von Krieg und Tod. Rajchmann nimmt sich hier selbst zurück. Es geht ihm nicht darum, sein eigenes Schicksal zu beklagen, er will nicht Mitleid erwecken. Einer inneren Notwendigkeit gehorchend, ist es dem Verfasser darum zu tun, »von der Ermordung von Millionen unschuldiger Opfer« zu berichten.

1946 war Rajchmann nach Urugay ausgewandert, wo er 2004 verstarb. Zwar bemühte er sich nie um eine Veröffentlichung seiner Erinnerungen, allerdings sagte er bei verschiedenen Prozessen als Zeuge aus, so auch in den 80er Jahren gegen John Demjanjuk, in den er »Iwan den Schrecklichen« zu erkennen glaubte, der in Treblinka die Vergasungen durchgeführt hatte.

Dieses Vernichtungslager war im Juni 1942 im Zuge der »Aktion Reinhardt« errichtet worden. Ra-jchmann wurde im Oktober 1942 zusammen mit seiner jüngeren Schwester nach Treblinka deportiert. Gleich nach der Ankunft wurde er den »Arbeitskommandos«, auch »Judenkommandos« genannt, zugeteilt, die beträchtliche Mengen an Gütern und Menschen abfertigen mussten. Schon bald kam Rajchmann ins Totenlager, wo er den Ermordeten Goldzähne ziehen musste. Er wurde Leichenträger und arbeitete schließlich auch im sogenannten »Schlauchkommando«. Rajchmann notierte: »Die Transporte kommen ununterbrochen.«

Rajchmann durchlebte in Treblinka die Hölle, in ständiger Todesangst und Todesnähe. Das Schreiben wird für ihn zur Überlebensstrategie. Er will, ja, er muss überleben. Er ist geradezu getrieben von dem Wunsch, der Nachwelt eine Spur jener unglaublichen Ereignisse zu überliefern, die das Vorstellungsvermögen auf eine so harte Probe stellen. Rajchmann zeichnet die grausige Logistik der industriellen Tötungsmaschinerie in Treblinka ebenso nüchtern wie authentisch nach. Das Lesen dieser Passagen wühlt auf und macht betroffen, gleichwohl sind es gerade diese schonungslosen und detailierten Schilderungen, die die Besonderheit und Seltenheit dieses historischen Dokuments ausmachen.

Die SS-Lagermannschaft war stets darum bemüht, die Verbrennung von Hunderttausenden von Leichen zu rationalisieren, immer mehr Öfen und Gaskammern wurden in Betrieb genommen. Ende 1942 sollten auf Befehl Himmlers alle Spuren der Massentötung beseitigt werden. Daraufhin führte der Lagerkommandant Franz Stangl die »industriemäßig arbeitende Kombination aus Bagger und Verbrennungsrost« ein, die Rajchmann präzise beschreibt. Die Aufständischen setzten am Tag der Revolte zwar die Lagergebäude in Brand, die Gaskammern blieben jedoch intakt. Das Morden ging bis Oktober 1943 weiter. Dann wurden alle Einrichtungen dem Erdboden gleichgemacht und auf dem Gelände des Vernichtungslager Kiefern und Lupinen gepflanzt.

Dieser erschütternde Bericht über Zivilisationsbruch und Nazi-Barbarei verdient es, »in den Kanon großer Texte der Literatur des Desasters aufgenommen zu werden«, schreibt die Historikerin Annette Wieviorka im Vorwort. Rajchmanns Bericht ist zeitgleich in elf Ländern erschienen.

Chil Rajchmann: Ich bin der letzte Jude. Treblinka 1942/43. Aufzeichnungen für die Nachwelt. Piper Verlag, München 2009. 156 S., br., 16,95 €.

* Aus: Neues Deutschland, 28. Januar 2010


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