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"Wer nicht stolpert, geht nicht ..."

Stolpersteine – ein Gedenkbuch der besonderen Art

Von Horst Helas *

Den Mann aus Köln mit dem breitkrempigen Hut, Gunter Demnig, lernte ich vor vielen Jahren tätig kennen. Er versenkte quadratische, mit einer glänzenden Messingkappe überzogene Steine in Gehwege. STOLPERSTEINE, auf denen Namen von Menschen, ihr Geburtsdatum und so genau wie möglich ihr Sterbedatum sowie der dazugehörige Ort vermerkt waren: Auschwitz, Minsk, Sobibor, Theresienstadt und anderen Stätten des Verbrechens. Viele dieser Gedenksteine erinnern am früheren Wohnort an ermordete Juden, manche an Widerstandskämpfer oder Wehrmachtsdeserteure. Am Anfang seines Wirkens 1992 stand, wie Demnig immer wieder betont, das Erinnern an die »Zigeuner« in seiner Heimatstadt Köln. Seine Widersacher bestritten vehement, dass ausgerechnet in ihrer Wohngegend »Zigeuner« als Nachbarn gelebt haben sollten. Mit amtlichen Dokumenten konfrontiert, verstummten sie.

»Wer nicht stolpert, geht nicht« – so überschreibt Joachim Rönnepeter den einleitenden Abschnitt seines Buches über diese einzigartige, inzwischen europaweit bekannte Initiative des Aktionskünstlers. Es sind in ganz Deutschland bis jetzt ca. 23 000 Stolpersteine verlegt worden. Doch dieses Buch ist mehr als eine Bilanz über Erreichtes. Die Chronik bisherigen Tuns wird ergänzt durch Informationen über geschichtliche Hintergründe, literarische Texte und ungewöhnliche Fotos. Auch das Für und Wider zum inhaltlichen Konzept sowie behördliche Hindernisse werden erläutert. Inzwischen kann man von einer regelrechten »Stolperstein-Bewegung« sprechen. Das Interesse an der Verlegung von Stolpersteinen wächst, ebenso die Zahl der Unterstützer. Die Steine sind ein Gedenkbuch der besonderen Art.

Die Berlinerin Edith Spitzer wollte unbedingt an einen jüdischen Nachbarn in der Steinstraße in Berlin-Mitte erinnert wissen, der von den Nazis ermordet wurde. Die Journalistin und Autorin Wibke Bruns, die sich autobiografisch mit der eigenen Familiengeschichte in Halberstadt auseinandergesetzt hat, unterstützte Aktion an Orten, die sie vorher kaum kannte. Inge Deutschkron ließ es sich nicht nehmen, an Verlegungen für Stolpersteine am Hackeschen Markt in der Berliner City in der Nähe des Museums »Blindes Vertrauen« teilzunehmen, dem Ort, an dem sie und ihre Mutter in der NS-Zeit Hilfe erfahren hatten. Jürgen Löwenstein, der heute in Israel lebt, geht bei jedem Berlin-Besuch mit Schülern in die Almstadtstraße, die frühere Grenadierstraße. Dort zeigt er ihnen drei Stolpersteine, die an seine in Auschwitz ermordeten Eltern und seine im Theresienstadt umgekommene Großmutter erinnern.

Am nachhaltigsten hat mich ein Projekt beschäftigt, dass meinen Kollegen Reiner Zilkenat und mich mit einer Klasse des (heute leider nicht mehr bestehenden) Erich-Fried-Gymnasiums in Friedrichshain verbunden hatte. Dort, wo in den 50er Jahren ein Schulneubau errichtet wurde, hatte bis zu seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg ein Wohnhaus gestanden. Unsere Recherchen ergaben, dass mindestens 14 Menschen, Kinder, Frauen und Männer, aus diesem Haus Opfer des Holocaust wurden. 14 Stolpersteine halten nunmehr ihre Namen und Schicksale fest. Nur für einen dieser 14 findet sich auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin- Weißensee ein Zeichen der Erinnerung: Jakob Leib Tugendhaft. Dessen Ehefrau und Tochter hatten Monate vor ihrer eigenen Deportation seine Asche dort beerdigen dürfen, obwohl dies eigentlich dem üblichen Bestattungsritus widersprach.

Am Beginn dieses (wie auch anderer Projekte) stand die Ermunterung für die Schüler, sich selbst zu informieren. Im Klassenverbund wurde über Archiverkenntnisse debattiert, Ausstellungswürdiges entstand. Das vollendet Projekt wurde 2005 im Berliner Wettbewerb »denk!mal erinnern & gestalten« vorgestellt und prämiert.

Joachim Rönneper (Hg.): Vor meiner Haustür. Stolpersteine von Gunter Demnig. Arachne Verlag, Gelsenkirchen. 132 S., geb., 24 €.

* Aus: Neues Deutschland, 27. Januar 2011


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