Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Steine der Erinnerung

Heute werden in Berlin sechs Stolpersteine von Schülern der Hermann-Hesse-Schule in Kreuzberg eingeweiht. Der für Hermann Silberstein ist der Zweitausendste

Von Markus Drescher *

Stolpersteine: Zehn mal zehn Zentimeter große Messingtafeln, zehn mal zehn Zentimeter Erinnerung, Gedenken an Menschen, die dem Morden in der NS-Zeit zum Opfer gefallen sind -- Juden, Sinti und Roma, politische Gegner, Homosexuelle, Zeugen Jehovas und Behinderte. Vor dem letzten Wohnort der Opfer ins Pflaster eingelassen, sollen Passanten über sie stolpern -- optisch und gedanklich -- und daran erinnert werden, dass an diesem Ort Menschen wohnten, die aus ihrer Nachbarschaft und dem Leben gerissen wurden. Heute wird in Berlin-Kreuzberg zusammen mit fünf weiteren der 2000. Stolperstein in der Hauptstadt eingeweiht. Hinter dem »Hier wohnte«, mit dem die Inschrift eines jeden Steines beginnt, steht auf ihm der Name Hermann Silberstein.

Letzte Spuren der Deportierten

Mit dem Stolperstein wird nicht nur sein Name dem Vergessen entrissen, auch ein kleiner Teil der Biografie Hermann Silbersteins wurde rekonstruiert, von den Schülern der »Stolperstein AG« der Hermann-Hesse-Schule in Kreuzberg. Seit dem Jahr 2000 gibt es die Arbeitsgemeinschaft, erzählt Lehrer Werner Bauer, der die Gruppe gründete. Dabei ist Werner Bauer gar kein Ge-schichts-, sondern Biologie- und Sportlehrer. Doch habe jeder ein Päckchen der deutschen Geschichte zu tragen. »So kann man sein Päckchen auspacken«, beschreibt er seine Motivation und das Engagement mit der »Stolperstein AG«.

Neben Hermann Silberstein erhalten auch Herbert, dessen Eltern Lesser und Martha Weinberg, seine Schwester, Lilly Ascher, und deren Mann Berthold Ascher einen Stolperstein und eine von den Schülern recherchierte Biografie, die heute bei der Einweihung der Stolpersteine verlesen werden. Sie alle wohnten vor der Deportation gemeinsam in einer Wohnung in Kreuzberg am Planufer 26, einer so genannten Judenwohnung. Heute heißt der Teil des damals längeren Planufers Johanniterstraße. Jutta Deppner, Direktorin der Hermann-Hesse-Schule, findet den Einsatz der Gruppe sehr wichtig: »Durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit und Einzelschicksalen werden die Opfer aus der Anonymität geholt und den Schülern wird viel bewusster, was in der NS-Zeit geschehen ist.«

Acht Tage vor der Einweihung der Stolpersteine trifft sich die Schüler-AG zu einem Projekttag, um letzte Vorbereitungen für die Einweihung zu treffen. Werner Bauer und seine Schüler feilen an den Begrüßungsreden für den Vor-Ort-Termin und den Festakt im Gymnasium, dem Ablaufplan, den Biografien der Ermordeten und bauen eine Ausstellung mit den Rechercheergebnissen auf.

Karten liegen bereit, mit denen die heutigen und damaligen Straßenzüge abgeglichen werden können. Eine Zeitungskopie vom 1. März 1943 soll aufgehängt werden, »der Tag, an dem Hermann Silberstein deportiert wurde«, weiß die Elftklässlerin Valezka Grünewald. Auch die Kopie der »Vermögensakte« von Hermann Silberstein nehmen die Schüler noch einmal in Augenschein.

Vor ihrer Deportation mussten Juden in einer Vermögenserklärung ihren gesamten Besitz auflisten. »Diese Akten sind zumeist die letzten, die sie eigenhändig unterschrieben haben«, erklärt Bauer, »für die Schüler sind sie der Ausgangspunkt ihrer Recherche.« Die »Vermögensakten« sind oft die letzten Spuren der Ermordeten.

Einmal pro Woche für eine Doppelstunde trifft sich die »Stolperstein AG«, die zur Zeit zwölf Mitglieder hat. Oder -- wie eine Woche vor der Einweihung -- zuweilen auch zu einem ganzen Projekttag. Die viele Arbeit schreckt Sebastian Stolp nicht ab: »Die Recherche an sich dauert mehrere Monate.« Dazu gehöre, Akten einzusehen, weiteres Material zusammenzutragen und das Ganze aufzuschreiben. Doch gerade die Suche in den verschiedenen Akten findet er interessant. »Dort ist Geschichte gespeichert.«

Die »Vermögensakten« befinden sich im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam, wo die Archivalien der Reichsfinanzbehörden aufbewahrt werden. Die »Stolperstein AG« hat das Archiv schon mehrfach besucht, um dort im Bestand »Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg« für die Biografien zu recherchieren. Monika Nakath vom Landeshauptarchiv, die die »Stolperstein AG« bei ihrer Recherche unterstützt, ist beeindruckt vom Eifer der Schüler: »Sie sind sehr aufgeschlossen und haben sich sehr intensiv mit den Akten beschäftigt.« In der NS-Zeit sei das Landesfinanzamt mit »Sonderaufgaben« wie der Enteignung und Versteigerung jüdischen Eigentums betraut gewesen. »Anhand der Akten der Vermögensverwertungsstelle können die Schüler auch nachvollziehen, welchen Anteil die Bürokratie an der Verfolgung der Juden hatte.« Auch Deportationslisten gehören zu den Primärquellen, die den Schülern zugänglich sind.

Die Schüler beschränken sich bei der Erarbeitung der Biografien jedoch nicht auf die Daten, die sie in den verschiedenen Akten finden. »Sie versuchen, ihre Ergebnisse auch in den geschichtlichen Gesamtzusammenhang des entsprechenden Jahres und Monats zu stellen«, zollt Bauer der Arbeit seiner Schüler Respekt. Sie haben herausgefunden, dass die Zwangsarbeiter Hermann Silberstein, Lilly und Berthold Ascher vermutlich bei der so genannten Fabrikaktion festgenommen worden waren. So bezeichneten nach dem Krieg die Opfer eine Verhaftungswelle jüdischer Zwangsarbeiter am 27. Februar 1943. Bei der von den Nazis als »Großaktion Jude« und gegenüber den Rüstungsbetrieben, bei denen die Juden arbeiten mussten, als »Evakuierungsaktion« bezeichneten Razzia wurden in Berlin etwa 8000 Juden verhaftet. Hermann Silberstein wurde am 1., Lilly und Berthold Ascher wurden am 2. und Herbert Weinberg am 3. März 1943 nach Auschwitz deportiert, ihre Todesdaten sind nicht bekannt. Lesser und Martha Weinberg wurden 1943 bzw. 1944 in Theresienstadt ermordet.

Persönliche Treffen und vertonte Biografien


Neben dem Recherchieren von Biografien der Menschen, an die mit einem Stolperstein erinnert wird, sucht die »Stolperstein AG« auch den persönlichen Kontakt zu Zeitzeugen. So trafen die Schüler schon die Künstlerin Lili Cassel Wronker und den Musiker Hellmut Stern. Solche Treffen begeistern Valezka Grünewald: »Im persönlichen Gespräch bekommt man direkte Informationen nicht nur Theorie.« Einige der Schüler planten sogar, sich noch einmal unabhängig von der »Stolperstein AG« mit Hellmut Stern zu treffen.

Seit der Gründung der »Stolperstein AG« haben Schüler und Schülerinnen der Hermann-Hesse-Schule 23 Stolpersteine eingeweiht. Die 95 Euro teuren Gedenksteine, die von dem Künstler Gunter Demnig hergestellt und verlegt werden, finanziert die Schüler-AG mit Filmvorführungen rund um die Themen Randgruppen der Gesellschaft und NS-Zeit. »Dieses Mal hat uns auch eine Buchhändlerin aus der Nachbarschaft unterstützt«, freut sich Werner Bauer über eine finanzielle Hilfe.

Einige der erstellten Biografien hat die Schüler-AG, die sich auch mit dem Antisemitismus in heutiger Zeit auseinandersetzt, vertont. Auf der Seite des Kreuzberg Museums (www.kreuzbergmuseum.de) können sie als mp3-Dateien zusammen mit einem Standortplan der Steine für eine Audioführung heruntergeladen werden.

* Aus: Neues Deutschland, 26. November 2008


Zurück zur Seite "Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus"

Zurück zur Homepage