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"Wir müssen miteinander reden"

Warum der Pragmatismus des Zankens als Mittel gegen Rassismus geeignet ist

Lale Akgün, geboren 1953 in Istanbul, kam als Neunjährige mit ihrer Familie nach Deutschland. Sie studierte Medizin und Psychologie und ist seit 2002 Bundestagsabgeordnete. Sie befasst sich mit Fragen der Migration und Integration und fungiert als Islampolitische Sprecherin der SPD. Unlängst erschien ihr Buch »Tante Semra im Leberkäseland«. Über das Zusammenleben von Deutschen und Migranten, sprach Markus Bernhardt mit ihr.
Wir entnahmen das Interview der Tageszeitung "Neues Deutschland".



Im Oktober erschien Ihr Buch »Tante Semra im Leberkäseland«, in dem Sie humorvoll aus dem Leben Ihrer deutsch-türkischen Familie erzählen. Warum ist es in der Politik so gut wie gar nicht möglich, so unbefangen mit dem Thema Integration umzugehen?

Diese Frage stelle ich mir schon lange. Ich habe oft das Gefühl, viele Leute – nicht nur in der Politik – haben Angst davor, im Umgang mit Migranten irgendetwas »falsch« zu machen. Das führt dazu, dass der Umgang verkrampft wird, oder man erst gar keinen Umgang hat. Ich schildere in meinem Buch nur einen Ausschnitt des Lebens, meines Lebens. Wie sollte ich anders mit diesem, meinem Leben umgehen als »unbefangen«, wie Sie sagen? Normalität ist die Antwort auf Ihre Frage: Die Politik behandelt die Fragen der Integration viel zu selten als Normalität. Dabei ist das Zusammenleben von Nicht-Einwanderern und Einwanderern, deren Nachkommen, Kindern und Kindeskindern schon lange Alltag in unserem Land. Es gibt gute Nachbarschaft und schlechte – ganz so wie unter allen Menschen. Wir aber reden viel zu häufig von »den Türken«, »den Deutschen« oder »den Russen«. Und wenn man über ganze Bevölkerungsgruppen, über Tausende und Millionen von Menschen derart pauschal spricht, regen sich Widerstände, und es entstehen Vorurteile über ganze Bevölkerungsgruppen.

Ist Ihr Buch auch als Beitrag zu verstehen, die ideologisch geführte Debatte entspannter anzugehen?

Ach, eigentlich wollte ich nur die Geschichten aus meiner Familie aufschreiben, die auch für Außenstehende interessant sind. Die politische Aussage hat sich zwangsläufig ergeben, war aber nicht von mir intendiert. Wissen Sie, ein ganzes Berufsleben lang – als Psychologin, als Leiterin des Zuwanderungsamtes sowie als Abgeordnete – erkläre ich bereits, dass auch in türkischen Familien Normalität herrscht. Und tatsächlich ist das die am häufigsten gehörte Aussage von deutschen Leserinnen und Lesern meines Buches: Sie wundern sich, dass auch Muslime es mal nicht so genau nehmen mit den religiösen Vorschriften oder es auch in der Türkei eine schwule Szene gibt. Es ist für viele Menschen, die keinen Migrationshintergrund haben, offensichtlich etwas ungeheures Neues, dass auch türkischstämmige Leute nur mit Wasser kochen. Als ehemalige Therapeutin könnte ich Ihnen darüber Geschichten erzählen ...

Die CDU/CSU scheint beim Thema Integration immer noch sehr verbissen zu agieren und auf die Tatsache zu reagieren, dass die Bundesrepublik heute ein Land mit vielen unterschiedlichen Menschen und Kulturen ist. Ist eine fortschrittliche Integrationspolitik mit den innenpolitischen Hardlinern der CDU überhaupt machbar?

Schwer, aber derzeit haben wir in der Regierung ja keine andere Wahl. Wir haben eine Integrationsbeauftragte, die öffentlichkeitswirksame Fototermine macht, aber inhaltlich nicht viel bewegt. Und wir haben in Nordrhein-Westfalen einen Integrationsminister, der für die Presse allerlei Ankündigungen macht, aber auch nicht viel auf die Beine stellt. Wissen Sie, diese ganzen Showveranstaltungen, wie die Islamkonferenz oder der Integrationsgipfel, gehen mir schon lange gegen den Strich. Im Übrigen muss man die Bretter bohren, gerade wo sie dick sind. Immerhin ist die Debatte, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland sei oder nicht, auch mit zumindest den vernünftigen CDU-Leuten keine Kontroverse mehr.

Schaut man sich den sogenannten Einbürgerungstest an, könnte man zu dem Schluss kommen, dass zwei Drittel der Deutschen ausgebürgert werden müssten, weil sie nicht in der Lage wären, die Fragen zu beantworten ...

Es stimmt, dieser Test ist nicht sonderlich zielführend. Ich bin schon dafür, dass Migranten sich mit dem Land, in dem sie nun leben, beschäftigen. Etwas über den Staatsaufbau und das Wahlsystem und dergleichen zu wissen, ist für jeden Bürger hilfreich. Aber natürlich brauchen wir dazu keinen Einbürgerungstest, der noch lange keine Lust macht, sich mit dem Land Deutschland zu beschäftigen – ganz im Gegenteil. Deutschland wird so bestimmt nicht attraktiver. Wir müssen vielmehr die Einbürgerungen forcieren, denn Einbürgerungen sind kein Endziel von Integration, sondern wichtige Etappe auf dem Weg hinein in die Gesellschaft. Leider machen wir diesen Weg immer steiniger.

In Ihrer Heimatstadt hat sich mit der selbsternannten Bürgerbewegung »Pro Köln« eine rechtsextreme Partei breitgemacht, die gegen Migranten, Lesben, Schwule und andere sogenannte Minderheiten hetzt. Ist der tolerante Ruf Kölns in Gefahr?

Zum Glück kann sich diese sogenannte Bürgerbewegung, die in Wahrheit ein Zusammenschluss von ehemaligen NPD-Anhängern und anderen Radikalen ist, in Köln nicht breitmachen. Ihr groß angekündigter »Anti-Islamisierungskongress« hat sich als Rohrkrepierer erwiesen, weil die Kölnerinnen und Kölner ihnen schlichtweg die Tür vor der Nase zugeschlagen haben. Es gab beispielsweise die Aktion »Kein Kölsch für Nazis« von Kölner Wirten, die sich geweigert haben, Bier auszuschenken. Köln ist eine pluralistische Stadt, die die rechten Gemüter mit ihrer Buntheit provoziert. Ich bin sicher, Köln kann auch in Zukunft den Ruf einer toleranten Stadt verteidigen.

Während es in Köln massive Auseinandersetzungen um den Bau einer Moschee im Stadtteil Ehrenfeld gibt, verlief die Eröffnung einer Moschee in Duisburg-Marxloh unlängst vollkommen idyllisch. Was wäre zu tun, um ein friedliches Zusammenleben aller Religionsgruppen in der Domstadt zu stärken?

Sie haben Recht, der Bau der Moschee in Duisburg verlief, wenn auch nicht vollkommen idyllisch, so doch wesentlich reibungsloser als in Köln. Ich glaube, der Schlüssel zum Duisburger Erfolg war die absolute Offenheit aller Beteiligten und der Beschluss, eine Begegnungsstätte der Religionen zu errichten.

Ich denke, dass sich nach dem Bau der Moschee auch in Köln Normalität einstellen wird, weil der Alltag schnell Kontroversen auf ein pragmatisches Level herunterbricht. Normalität zu leben heißt auch, Konflikte auszutragen, wenn nötig. Aber mit dem Bau der Moschee ist es nicht getan: Wir brauchen Kontakte, Kontakte, Kontakte ... Wir müssen mehr miteinander reden, lachen, zanken, um zu sehen, dass die Religion eine Facette im Leben eines Menschen ist. Ich schüttele immer den Kopf, wenn ich die Leute von den »Muslimen« reden höre. Es gibt nicht die Muslime, genauso wie es nicht die Katholiken, die Protestanten oder die Juden gibt. Wenn wir den Menschen schätzen, der nicht nur als Vertreter einer Religionsgruppe vor uns steht, sondern als Individuum, dann steht dem friedlichen Zusammenleben aller Religionsgruppen nichts mehr im Wege. Ich werde oft gefragt, wie denn »die« Deutschen seien. Diese Frage kann ich nicht beantworten, denn ich weiß es schlichtweg nicht, dafür kenne ich einfach zu viele Deutsche, und ich kenne solche und solche und dann wieder andere. Das ist die Normalität, die ich meine und die ich in meinem Buch beschreibe.

Lale Akgün: »Tante Semra im Leberkäseland – Geschichten aus meiner türkisch-deutschen Familie«, 14,90 Euro, Krüger Verlag, ISBN 978-3-8105-0119-6

* Aus: Neues Deutschland, 5. Januar 2009


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