Der Mensch: ein Rohstoff
Thilo Sarrazins Denkmodell verwirklicht sich in der Sozialpolitik der Bundesregierung
Von Martin Hatzius *
Dass man sich in der Debatte um Thilo Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab« auf jene Äußerungen des Autors konzentriert, die die vorgeblich mangelnde Integrationsfähigkeit »muslimischer Migranten« betreffen, ist nachvollziehbar – obwohl dieses Thema nicht im Mittelpunkt des Buches steht und erst nach 255 Seiten vertieft wird. Bis dahin bekommt man es fast ausschließlich mit sozial- und bildungspolitischen Ausführungen zu tun, über deren Gehalt anscheinend Konsens besteht – auch bei denen, die Sarrazin jetzt wegen seiner »rassistischen« Thesen aus SPD und Bundesbank werfen wollen. Übersehen wird dabei, dass die umfangreichen Ausführungen des Autors über das Schmarotzertum der sozialen »Unterschicht« und ihren fehlenden Mehrwert für Wirtschaft und Gesellschaft den Nährboden für alles bereiten, was am Ende folgt. Es offenbart sich darin ein Denken, dessen Konsequenz gar nichts anderes sein kann als Verachtung gegen die »Überflüssigen«, seien es nun Türken oder Uckermärker. Sarrazin, das muss betont werden, hat nichts gegen Ausländer, solange sie gebildet, ehrgeizig, fleißig, mithin nützlich sind. In diesem Fall dürfen, nein sollen sie seinetwegen sogar Kinder bekommen – und zwar in Deutschland.
Warum entfacht sich der Streit um Buch und Autor nicht an dessen Thesen zum »Wohlfahrtsstaat«? Sicher: wegen Sarrazins unhaltbarer (und schon vor Erscheinen des Buches PR-geschickt in die Medienmaschine gespeister) Behauptungen zur Genetik. Gewiss aber auch, weil das Gefühl einer Bedrohung der eigenen Lebensgewohnheiten durch »Überfremdung« und »religiösen Fundamentalismus« viel weiter verbreitet ist, als mancher Linke es wahrhaben will. Wer einen großen Teil der Migranten als Schädlinge hinstellt, die die gesunde deutsche Eiche befallen haben, wird lautes Laubrascheln ernten.
Sarrazin sucht anhand statistischer Erhebungen und empirischer Daten nachzuweisen, dass solche Zuwanderer dank staatlicher Transferleistungen auf Kosten des produktiven Teils der Bevölkerung leben. Wer will sich schon ausnutzen lassen, zumal von undankbaren Fremden? Die »tabulose« Darstellung scheinbar objektiver Tatsachen – endlich spricht einer aus, was alle wissen – ist Wasser auf die Mühlen der Angst, die immer dann zu mahlen beginnen, wenn die Grundlagen der eigenen Existenz in Frage stehen. Anders: Wenn es allen gut geht, wird sich so schnell niemand über vermeintlich arbeitsscheue Ausländer und ihren umfangreichen, aber ungebildeten Nachwuchs aufregen. In Krisenzeiten hingegen, die mit Konsumverzicht, Sparzwängen und Selbstzweifeln einhergehen, sucht man nach Schuldigen an der eigenen Lage. Und neigt dazu, sie allzu bald zu finden.
Wie seine Befürworter fokussieren auch Sarrazins Kritiker auf jene »provokanten« Aspekte des Buches, die sich mit den Ursachen und Folgen fehlschlagender Integration von Muslimen in Deutschland befassen. Die Ursachen begründet Sarrazin sozial und kulturell, aber eben auch biologisch: Zu 50 bis 80 Prozent sei Intelligenz erblich; die Bildungsferne der Muslime liege zu einem großen Teil in ihren Genen. Die Folgen: Da »muslimische Migranten« im Schnitt nicht nur dümmer, sondern, bedingt durch Intelligenzdefizite, auch wesentlich kinderreicher (»fruchtbarer«) seien als die deutsche (»autochthone«) Bevölkerung, drohe dem Land in naher Zukunft neben der weiteren Verdummung die weitere Islamisierung bis hin zur Übernahme.
Solche Thesen sind spekulativ, tendenziös und von keiner wissenschaftlichen Erkenntnis gedeckt. Sie sind rassistisch, menschenverachtend und brandgefährlich, sobald sie für bare Münze genommen werden. Nur eines sind sie gewiss nicht: nämlich blöd. In den Grenzen seiner eigenen Logik argumentiert der eloquente Demagoge durchaus schlüssig, Fakten und Fiktionen fügen sich bestens ineinander. Ganz folgerichtig mündet die unheilvolle Melange in konkrete politische Forderungen, deren Stoßrichtung in drei Schlagworten zusammengefasst werden kann: Arbeitszwang, Zuwanderungsstopp, Geburtenmanipulation.
Ist Sarrazin deshalb ein Nazi? Das zu behaupten, liegt gar nicht fern, solange man nur jene Bruchstücke seines Pamphlets kennt, die das gewiefte Marketing und die hysterische Mediendebatte beherrschen. Wer das Buch liest, stellt fest: Er ist keiner. Sarrazin ist Volkswirtschaftler, und zwar einer, der die Funktionsmechanismen der Marktwirtschaft bis in die Brillengläser verinnerlicht hat.
Alles, was dieser Mann von sich gibt, bis hin in die radikalsten Schlussfolgerungen und Forderungen, entspringt einem konsequent ökonomistischen Denken. Lebenserfolg muss messbar sein, er manifestiert sich für ihn in »Bildungsabschlüssen und Einkommen«. Es geht Sarrazin, dem ehemaligen Berliner Finanzsenator und noch amtierenden Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im internationalen Vergleich. Er kann jedem Kapitel ein Klassikerzitat voranstellen und irgendwo ganz hinten betonen, wie sehr ihm das deutsche Kulturerbe und die deutsche Sprache am Herzen liegen; in seiner Argumentation begründet Sarrazin alle Überlegungen zum sinkenden Bildungsniveau und zum Schrumpfen intellektueller Eliten mit der Sorge um die technologische Innovationsfähigkeit, nicht mit der Sorge um Goethe. Die Sprache ist ihm wichtig – als Grundvoraussetzung zum Verständnis ökonomisch verwertbarer Prozesse. Wenn er die mangelnde Fähigkeit zum Denken beklagt, meint er das Denken als einzige Ressource, über die Deutschland noch verfüge. Schulabbrecher oder Absolventen, die gravierende Defizite im Sprachverständnis und in den Grundrechenarten aufweisen, sind verloren: für den Arbeitsmarkt und damit für eine prosperierende Ökonomie.
Schlimm ist, dass das alles stimmen mag. Schlimmer ist, dass Sarrazins ökonomistisches Denken sein komplettes Welt- und Menschenbild bestimmt. In der Konsequenz heißt das, dass er den Wert eines Menschen in Kategorien von Angebot und Nachfrage bemisst. Er spricht, wenn er Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger meint, von einer »weitgehend funktions- und arbeitslosen Unterklasse«, die sich abseits von »Wirtschaftskreisläufen« und »realen Lebenszusammenhängen« mehr und mehr zu verfestigen drohe. Was in der überhitzten Debatte als Islamfeindlichkeit, Rassismus und Ausländerhass identifiziert wird, ist in Wirklichkeit Konsequenz eines Gesellschaftsmodells, das die Qualität einzelner Menschen und sozialer Gruppen nach ihrem in Geldsummen zu beziffernden Nutzen für die Gemeinschaft bestimmt und sich von der Idee der Solidarität mit den Schwachen (und erst recht mit den Anderen) verabschiedet.
Sarrazin lässt es aber nicht damit bewenden, Kürzung und Streichung von Sozialleistungen zu fordern, um Arbeitsanreize zu schaffen, er kleidet solche Forderungen auch noch in ein moralisches Gewand. »Gerade die weniger Ehrgeizigen, weniger planvoll Handelnden werden durch staatliche Transfers zu einem bequemen Leben verführt«, behauptet er, »das ihnen allmählich den Stolz nimmt.« Indem man ihnen die Almosen streicht, ermöglicht man ihnen demnach erst die Rückkehr in ein Leben in Würde.
Derartiges Reden von »Stolz« erinnert – wenngleich unter umgekehrten Vorzeichen – fatal an die Sloterdijksche Steuerstaats-Debatte des Vorjahres. Der Philosoph hatte damals vorgeschlagen, fiskalisch generierte Sozialausgaben durch Geschenke der Wohlhabenden an die Armen zu ersetzen: »Diese thymotische Umwälzung hätte zu zeigen, dass in dem ewigen Widerstreit zwischen Gier und Stolz zuweilen auch der Letztere die Oberhand gewinnen kann.« ln Sloterdijks Modell lässt das freiwillige Schenken der Reichen den Stolz über die Gier obsiegen. Bei Sarrazin gewinnt dank erzwungener Maßregelungen bei den Armen der Stolz gegen die Faulheit. Sloterdijk scheint die Verlorenheit der »Überflüssigen« als Gegebenheit zu akzeptieren. Sarrazin dagegen impliziert, dass die Teilhabe an Arbeit und Glück beinahe allen möglich sei, sofern sie sich nur darum mühen. Weil sie sich freiwillig nicht mühen, solange ihnen das Leben leicht gemacht wird, will er es ihnen schwer machen. »Der Beschenkte«, so Sarrazin, »fühlt sich nicht repektiert und nicht ausreichend ernst genommen. [...] Das erklärt beispielsweise auch zum Teil den nagenden Missmut, den das wiedervereinte Deutschland bei vielen Ostdeutschen hervorruft. Man bekam zu viel geschenkt und tat nicht genug aus eigener Kraft, darum fühlt man sich jetzt ungerecht behandelt.«
Allen Erfahrungen zum Trotz verweist Sarrazin das Ende der Arbeitsgesellschaft »in den Bereich der Mythen«. Das Arbeitsvolumen sei stabil und ließe sich mit den richtigen persönlichen und politischen Anstrengungen erhöhen. Selbst wenn das zutreffend wäre, müsste man fragen: Was soll denn noch produziert werden, wenn absurde Güter und abseitige Dienstleistungen längst in einem Überfluss feilgeboten werden, der jede Nachfrage ertränkt? Da ist sie wieder: die Mär vom unbegrenzten Wachstum.
Zeitgleich mit Sarrazins öffentlicher Steinigung durch ranghohe bürgerliche Politiker hat sich das Bundeskabinett dessen zentrale Forderung zu Herzen genommen und den Sozialetat geschrumpft. Warum setzen Gleichgesinnte ihren vorlauten Vordenker vor die Tür, statt ihm zu huldigen? Sarrazins Sozialdarwinismus kann glaubwürdig nur von denen verdammt werden, die sich zu dessen gesamtem Buch positionieren.
* Aus: Neues Deutschland, 4. September 2010 (Forum)
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