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Wenn Kritik auf (den Vorwurf der) Zensur stößt

Protest gegen Thilo Sarrazin und Henryk M. Broder in London

von Adnan Tabatabai, Ali Fathollah-Nejad, Mark Erbel *

Die „German Week“ der London School of Economics (LSE) wurde am Montag (14. Feb.) mit einer „Integrationsdebatte“ unter dem Titel „Europas Zukunft – Untergang des Abendlandes?‘“ eröffnet. Eingeladen waren u.a. Thilo Sarrazin und Henryk M. Broder. Über 100 deutschsprachige Studierende und Dozenten protestierten. Die drei Verfasser eines Offenen Briefes berichten.

Eine Woche vor der Auftaktveranstaltung verfassten wir einen offenen Brief unter dem Titel „Integration statt Kulturkampf“ und kritisierten den „sich kulturkämpferischer Parolen“ bedienenden Titel sowie das „unzulänglich besetzte Panel“ bestehend aus Henryk M. Broder, Thilo Sarrazin, Hellmuth Karasek und Ali Kizilkaya.

Offener Brief

Unsere Befürchtung war, dass die geplante Integrationsdebatte von „den polemischen, gesellschaftsspaltenden und unwissenschaftlichen Thesen der Herren Sarrazin und Broder“ dominiert und „auf eine religiöse Minderheit fehlgeleitet“ werden würde. „Fehlgeleitet“ deshalb, weil die von der sozialwissenschaftlichen Forschung identifizierten sozio-ökonomischen Faktoren, welche für Integrationsdefizite ausgemacht wurden, ausgeblendet und das Gespräch stattdessen die muslimische Minderheit stigmatisieren würde. Die Ansicht wurde bestärkt durch das Fehlen auch nur eines qualifizierten Integrations- und Migrationsexperten, der die an einer anerkannten Hochschule zu erwartenden Sachlichkeit beigesteuert hätte. All diese Kritik und Befürchtungen wurden binnen nur drei Tagen von über 100 deutschen Studierenden und Akademikern in Großbritannien durch ihre Unterschrift geteilt.


Mehr Informationen zum Offenen Brief und eine Presseschau finden Sie unter https://sites.google.com/site/integrationdebatelse/



Reaktionen

Broder veröffentlichte, natürlich mit Weltkriegsverweis, den Brief (inkl. Namen und Emailadresse), woraufhin die offen islamophobe Webseite Politically Incorrect hinwies und einen Gegenbrief veröffentlichte. In der Folge hagelte es in erster Linie hasserfüllte Reaktionen. Neben Nazivergleichen schrieben einige vom „Krebsgeschwür des Islam“ oder von Sarrazin, Broder, und Geert Wilders als ihren „Vorbildern, nicht nur für das deutsche Volk, sondern auch für andere Staaten.“

Auf Inhalte des Briefes wurde nicht eingegangen. So wurde unsere deutliche Kritik als Aufforderung missverstanden, die Veranstaltung entweder abzusagen oder aber die Redner auszuladen. Dies stand nicht nur in keiner Zeile des Briefes - bezeichnenderweise wurde von den Kämpfern für die freie Meinungsäußerung gar empfohlen, Brief samt Meinung zurückzuziehen.

Weiter wurde behauptet, es würde ignoriert, was tatsächlich in der Gesellschaft vor sich gehe und unterwürfig Partei ergriffen für die überzogen wehklagenden Opfer (in diesem Fall die Muslime). Nicht nur wurde in dem Brief betont, dass man sich der Probleme bewusst sei, sondern auch dass diesen kritisch, sachlich und lösungsorientiert begegnet werden müsse.

Protest

Mittlerweile hatte sich auch unter LSE-Studenten und andernorts – nach einem Abdruck unseres Briefes beim wissenschaftlichen Institute of Race Relations, und nach einem Independent-Bericht – breiter Protest formiert, so dass schließlich die Veranstaltung in ein Hotel verlegt wurde.

Noch vor der Debatte kam es zum Eklat. Entgegen erster Medienberichte verstieg sich Broder unprovoziert in wüste Beschimpfungen eines Studenten u.a. als „riesiges Doppelarschloch“. Letzterer hatte erfolglos versucht, von den Organisatoren und dem Moderator die Erlaubnis zu erhalten, eine vierzeilige Mitteilung von Kritikern zur Klärung der oben genannten Vorwürfe zu verlesen.

Die „Debatte“: Vom „Doppelarschloch“ zur „deutschen Identität“ Die Debatte selbst definierte Broder gleich von einer Integrations- zu einer Islam- und Muslimdebatte um, was ihn später aber nicht davon abhielt, sich darüber zu beschweren, dass sich die Integrationsdebatte ja nur um Religion drehe. Abgesehen davon (und von zusammenhangslosen Weltkriegsvergleichen) brachte der Abend keine Überraschungen mit sich.

Sämtliche Facetten des erwarteten Kulturkampfes kamen zum Zuge. Broder skizzierte eine Drohkulisse – erzeugt von europäischem „Appeasement“, der angeblich bestehenden Verbindung zwischen Al-Qaida und Migranten in Neukölln, und der Erpressung Europas durch Libyens Gaddafi – mit der es „nicht lange gutgehen wird.“

Sarrazin vermisste das Deutschland und Europa „seiner Kindheit“ und stützte sich hierbei auf die bedrohte „deutsche Identität“, die angeblich so wohlbekannt sei, dass er sie nicht definieren konnte. Der unbeständige Karasek widersprach hier zwar mal Sarrazin, um dann aber prompt gedanklich ins ländliche Afghanistan zu reisen, wo bewiesen würde, dass „der Islam“ rückständig sei. Man könnte fragen, was all das mit Integration zu tun hat?

Kizilkaya übernahm die Rolle des Migrantenvertreters, die seine als Islamratsvorsitzender gar nicht sein sollte, wies darauf hin dass nur bei Muslimen gesetzlich garantierte Freiheiten relativiert würden und protestierte gegen die undifferenzierten Verallgemeinerungen seiner Vorredner. Er warb für ein Verständnis von Immigration als Bereicherung und Zweibahnstraße und wandte sich gegen ein Integrationsverständnis, welches die Aufgabe kultureller Eigenheiten durch totale Assimilation einfordert.

Broder belegte sein Lob für Kizilkayas Integrationsleistung mit der Bereitschaft, mit ihm „in einem Zugabteil“ zu sitzen. Für Broder ist Kizilkaya aber leider nur ein Einzelfall gelungener Integration, denn Broders Erzählungen zufolge erscheint eine von ihm genannte radikale muslimische Gruppierung in Mönchengladbach als viel repräsentativer.

Versuche einiger Studierender, in der Fragerunde Substanz ins Gespräch zu bringen, scheiterten an Sarrazins ebenso beleg- wie haltlosen Behauptungen, es gebe „kein Schichtenproblem“, keine Diskriminierung von Migranten, und keine nennenswerten Integrationsprobleme in nicht-muslimischen Migrantengruppen. Ebenso gebe es keine Netto-Auswanderung aus Deutschland, und darüber hinaus blieben auch noch die „falschen Türken“ in Deutschland zurück, während jene, die die Sozial- und Bildungssysteme ausgenutzt hätten, in die Türkei zurückkehrten.

Kulturkampf statt Integration

Was bleibt übrig außer Untergangsszenarien? Die Debatte hat ihren Namen nicht verdient, da sie sich trotz Eingaben von Kizilkaya und einiger Studenten nicht um Inhalte drehte. Die unserem Offenen Brief zugrunde liegenden Befürchtungen hatten sich ausnahmslos bewahrheitet. „Die radikale Vereinfachung der Weltverhältnisse ist die Attraktion der Islamkritik“, stellt FAZ-Feuilleton-Chef Patrick Bahners fest (FAZ 16.02.2011). So droschen Broder und Sarrazin in gewohnter Manier auf die muslimischen Bürger Deutschlands und Europas ein. Man begnügte sich kruder, inhaltsloser und Angst schürender Phrasendrescherei, die weder gesellschaftspolitischen noch wissenschaftlichen Anforderungen gerecht wurde.

Im Rahmen des SPD-Bundesparteitags 2010 hatte die Integrationsforscherin Dr. Naika Foroutan betont, dass es „herkunftsunabhängig ist, ob man schwach ist oder stark“, und dass den Schwachen die Hand gereicht werden müsse. Diese in der Forschung festgestellte Herkunfts- und Religionsunabhängigkeit von Integrationsdefiziten hatte an diesem Abend jedoch trotz Forderungen kritischer Studenten keinen Platz auf dem Podium.

Der Ablauf des Abends folgte stattdessen dem Bonmot des Kabarettisten Volker Pispers: „Wenn man weiß, wer der Feind ist, hat der Tag Struktur.“

* Dieser Beitrag ist veröffentlicht im "Vorwärts", gepostet am 17.02.2011; www.vorwaerts.de [externer Link); vielen Dank an die Autoren für die Überlassung des Manuskripts.


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