Deutschland, eine Lichterkette
Warum die linke Szene gegen die offizielle Gedenkfeier nach Rostock mobilisiert
Von Velten Schäfer *
Mit Theater, Musik und Bundespräsident
gedenkt Rostock am Wochenende
der rassistischen Ausschreitungen
vor dem Sonnenblumenhaus. Aber
nicht alle wollen mitfeiern. Zum Beispiel
viele von denen, die sich vor
20 Jahren dem Mob entgegenzustellen
versuchten.
Im »Bandito Rosso« ist noch alles
wie vor 20 Jahren. Auf den ausgetretenen
Dielen der linken Info-
Kneipe in der Lottumstraße, in
Berlins heute so schicker Mitte,
stehen Sperrmüllmöbel, hinter
dem selbst gebastelten Tresen
junge Freiwillige mit linkspolitisch
bedruckten T-Shirts. Ein Bier kostet
1,50, es riecht nach »Vokü«. An
diesem Abend gibt es zerkochtes
Gemüse mit Reis zum politischen
Vortrag.
Das Thema des Abends führt
mitten in die 1990er Jahre. René
Henze, ein graumelierter 48-Jähriger
mit Kapuze und Lesebrille
und eine zierliche Frau Mitte oder
Ende 30 von der Kampagne »Rassismus
tötet«, die sich nur mit einem
Vornamen vorstellt, erzählen
von den Tagen vor zwanzig Jahren,
als sie fast ohnmächtig zusehen
mussten, wie Nazis und Gaffer
sich austobten gegen die
Schwächsten. Von der Zeit, als sich
auch nur entfernt nach Einwanderung
aussehende Menschen selbst
in Berlin von den S-Bahn-Fenstern
wegdrehten, damit man von außen
ihr Gesicht nicht sähe. Als überall
und ständig Gewalt im Raum
stand, wirklich gefährliche körperliche
Gewalt. 17 Tote, Hunderte
teils schwer Verletzte, Hunderte
von kleineren und größeren Anschlägen,
das war die Bilanz des
rechten Terrors allein zwischen
1989 und 1992.
Ein normales Mietshaus
In Rostock-Lichtenhagen dagegen
ist nicht mehr viel so wie damals,
als das Neubauviertel zur Chiffre
des Rassismus wurde. Das Sonnenblumenhaus
ist saniert, wer
Neubauten nicht grundsätzlich
hasst, kann es sogar als schön
empfinden. Auf den Klingelschildern
der Aufgänge 18 und 19, wo
damals die Asylbewerber lebten
und die Vertragsarbeiter aus Vietnam,
findet sich kaum ein nichtdeutscher
Name. Das Haus, das
wie die ganze Siedlung für die Arbeiter
des einst blühenden Seehafens
gebaut worden war, ist heute
eine ganz normale Mietskaserne
der Rostocker Wohnbaugesellschaft
WIRO.
Auch die Wiesen um das Haus,
auf denen 1992 monatelang vom
Balkan und aus Rumänien geflohene
Sinti und Roma campieren
mussten, ohne dass man ihnen
auch nur ein Toilettenhäuschen
gegönnt hätte, gibt es so nicht
mehr. Inzwischen steht dort ein
Flachbau mit Geschäften – und
derzeit ein Zirkuszelt. Der Musiker
Gerhard Schöne wird am Wochenende
dort auftreten, ein Baum
soll gepflanzt werden, ausgerechnet
eine Eiche; das volle deutsche
Gedenkprogramm. Sogar der
Bundespräsident wird eine seiner
Reden halten. Deren Tenor kann
man sich schon jetzt ausmalen: Er
wird auf den Zusammenhang von
»Unfreiheit« und Hass anheben,
auf die DDR und ihren vermeintlichen
Mangel an Bürgersinn.
Schweigen dürfte er über die zeitgenössische
»Asylanten«-Hetze
von »Bild« und »Welt«, mit Abstrichen
aber auch von »FAZ« bis
»Spiegel«. Und von den Unionsparteien,
die damals die Angst vor
den Fremden schürten. So »unbequem
« ist Joachim Gauck nämlich
auch wieder nicht.
René Henze, der Augenzeuge
und Referent aus dem »Bandito
Rosso«, wird kaum unter denen
sein, die sich am Sonntag von
Gauck den Rassismus erklären
lassen. Ihn, den – wie er sagt –
»ausdrücklich linken« DDR-Oppositionellen,
den alten Ost-Punk,
den stadtbekannten Kader der
linksozialistischen »SAV«, der damals
vor Wut platzend zusehen
musste, würde man vielleicht auch
gar nicht hineinlassen in die gute
Stube des Staatsgedenkens. Stattdessen
reiste er in den letzten Wochen
kreuz und quer durchs Land,
um für eine Gedenkveranstaltung
zu werben, die bereits am Samstag
stattfindet: Die bundesweite Demonstration
von Antifa-Gruppen,
die für 11 Uhr zu einer Kundgebung
im Stadtzentrum mobilisieren
und ab 14 von Lütten Klein
nach Lichtenhagen ziehen wollen.
Die beiden im »Bandito Rosso«
lassen keinen Zweifel daran, dass
diese Demo nicht Teil des offiziellen
Programms sein soll, sondern
sich als Gegenpart versteht.
Besonders den Gauck-Auftritt
empfindet das Bündnis als zynisch.
Wo war er denn bitte damals? Hat
er jemals das »Asylbewerberleistungsgesetz
« angeprangert, das
das Existenzminimum eines
Flüchtlings bei zwei Dritteln eines
Deutschen veranschlagt? Die Lagerhaltung,
den massenhaften Tod
im Mittelmeer? Hat er sich hinter
die Gottesmänner gestellt, die wegen
des Gewährens von Kirchenasyl
unter Beschuss standen? So ist
der Tenor in der Infokneipe. In einer
Stellungnahme von »Rassismus
tötet« heißt es, Gauck sei
»eben auch ein Bundespräsident,
der den Rassisten Thilo Sarrazin
‚mutig’ nennt und ganz bewusst
wieder von der Gefahr durch
Überfremdung spricht.« Tatsächlich
hat Gauck vor fast genau zwei
Jahren auf einem Podium der
Neuen Züricher Zeitung in einer
seltsamen Tirade den Aufschwung
des Rechtspopulismus in Holland
oder Dänemark als »des Rassismus
wirklich unverdächtig« bezeichnet
und dabei »ganz bewusst« den
Ausdruck Überfremdung benutzt.
Der Clip, der im Umfeld seiner Inthronisierung
auftauchte, kursiert
nun erneut im Internet.
Doch nicht nur vom wendigen
Bundespräsidenten, sondern auch
vom lokalen Bündnis »Lichtenhagen
bewegt sich«, das das Zelt am
Sonnenblumenhaus bespielt, distanziert
sich die Demo scharf: Deren
Anliegen sei es nicht, »gegen
den gesellschaftlichen Rassismus
vorzugehen, sondern lediglich das
negative Image der Stadt aufzupolieren
«, heißt es bei »Rassismus
tötet«. Letztlich sei dies nicht mehr
als die Antwort auf eine »Standortfrage
«, eine Schaufensterkampagne
für Touristen und das Ausland.
Wie damals bei den großen
»Lichterketten«, mit denen sich die
Mehrheitsgesellschaft zwar gegen
»Gewalt«, mancherorts auch gegen
»jeden Extremismus« wandte,
nicht immer aber auch gegen den
strukturellen Rassismus, der im
schwarz-rot-gelben »Asylkompromiss
« fast zeitgleich zum Gesetz
erhoben wurde.
Nichts mehr wie zuvor
Das ist denn doch ein wenig ungerecht.
Der Verein »Bunt statt
Braun«, der hinter der lokalen
Kampagne steht, ist nicht linksradikal,
leistet aber seit Jahren kontinuierliche
Arbeit, zeigt Filme
über Migration, mobilisiert zu Nazi-
Blockaden und knüpft die Netze
jenes Humanismus, der 1992 so
schmerzlich vermisst wurde. Die
Wurzeln dieses Rigorosen scheinen
durch, als die Frau von »Rassismus
tötet« zu erzählen beginnt,
was sie als Migrantin damals
empfand. »Nach Rostock«, sagt sie,
»war nichts mehr wie davor«. Sie
spürte einen »rassistischen Konsens
«; er fuhr ihr direkt in die Magengrube.
So haben sich damals viele der
wenigen gefühlt, die über
Deutschlandgebrüll und Stasi-Hatz
nicht die Zivilisation vergessen
hatten. Rostock, Mölln, der »unaufgeklärte
« Zehnfachmord von
Lübeck, haben eine Generation
von zutiefst pessimistischen linken
Jugendlichen erschaffen, die eher
an das »Vierte Reich« glaubten als
an die Weltrevolution. Das spiegelt
sich in den Theoriedebatten der
1990er: Sollte man tatsächlich
weiter dafür kämpfen, dass Otto
Fidschiklatscher ein bisschen
mehr Sozialgeld bekam? Konnte
man noch an Kollektive appellieren,
wo die Deutschen schon wieder
das Falsche zu wählen schienen?
Die Sekte der »Anti-Deutschen
« ist der spätere Ausdruck
jener Stimmung unter denen, die
Woche für Woche versuchten, dem
Mob in diesem oder jenem Kaff
entgegenzutreten. Man machte
den Job eines offenbar abgetauchten
liberalen Bürgertums – und
wurde zum Dank als »Reise-Chaot
« verunglimpft, mit den Brandstiftern
auf eine Stufe gestellt und
als »Extremist« verfolgt.
Tobte in Rostock ein rassistischer
Konsens, am Ende gar die
»Volksgemeinschaft«? René Henze
widerspricht seiner Podiumspartnerin
an diesem Punkt. Rostock,
sagt er, sei stets eine »linke Stadt«
gewesen, auch unmittelbar nach
der Wende. Besetzte Betriebe habe
es gegeben, »sogar die Hools« hätten
sich teils linken Aktionen angeschlossen.
Als diese Kämpfe
verloren gingen, sagt er, »sind sie
da mit der Asyldebatte reingegangen
«. Aus seiner Sicht war das
Pogrom nicht nur »inszeniert«,
sondern »Teil einer Krisenlösungsstrategie
« des Kapitals. Etwas,
das nicht einfach aus den
Leuten hervorbrach, sondern
planvoll in sie hineingetragen
wurde.
Noch vor einem Jahrzehnt wäre
die Veranstaltung an diesem
Punkt geplatzt. Ihr streichelt den
Rassistenmob, hätten die einen
gebrüllt. Ihr macht euch zu nützlichen
Idioten der Bosse, hätten die
anderen gestänkert. Nun kann
man gemeinsam mobilisieren.
Manche Dinge haben sich eben
doch verändert in den letzten Jahren
* Aus: neues deutschland, Samstag, 25. August 2012
Zielgruppen des Mobs
Ganz normale Nachbarn, »arme Schweine« und fleißige Vietnamesen: Stimmungsbilder 20 Jahre nach dem rassistischen Gewaltexzeß von Rostock-Lichtenhagen
Von Claudia Wangerin **
»Schreiben Sie was Neues, schreiben Sie was Positives«, sagt der grauhaarige Mann in Freizeitklamotten. Er stellt sich als »Kurt« vor und will endlich mal einen Artikel lesen, in dem steht, wie gut sie sich hier mit den Vietnamesen verstehen. Er und seine Nachbarn, 20 Jahre danach. Zum Beispiel mit dem jungen Paar, das im asiatischen Schnellimbiß vor dem »Sonnenblumenhaus« arbeitet. Mehrere Deutsche sitzen am Tisch, vor allem Männer ab 50, und trinken Rostocker Export. Mit den vietnamesischen Vertragsarbeitern, die damals beinahe verbrannt wären, hätten die Anwohner nie ein Problem gehabt, sagt Kurt. »Mit denen haben wir ja immer schon zusammen gelebt.«
Als »arme Schweine« beschreibt er die Menschen, die im Spätsommer 1992 vor der überfüllten Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) in Rostock-Lichtenhagen kampieren mußten, zum Großteil Sinti und Roma aus Rumänien. Schleuser hätten sie hergebracht, sie hätten ja gar nicht gewußt, was sie erwartet. Er schimpft nicht über die Flüchtlinge, die hier tagelang ohne Toiletten und Duschgelegenheit warten mußten – für die Reaktion vieler Anwohner, die in den hygienischen Verhältnissen nur die Bestätigung rassistischer Vorurteile sahen, zeigt er dennoch Verständnis. »Das ging vier Wochen so. Da sind die Leute eben sauer geworden.«
Er selbst sei geschäftlich in St. Petersburg gewesen, als es los ging. »Ich habe das dort im Fernsehen gesehen.« Er spricht nicht aus, was. »Das ist mein Freund«, sagt er über den Vietnamesen, der ihm gerade ein Bier aufgemacht hat. Er weiß allerdings nicht, wo die beiden wohnen. Hier jedenfalls nicht. Hier wohnen keine Vietnamesen mehr. »Kein Mensch weiß, wo.« Es sind größtenteils nicht dieselben wie damals. Die Vietnamesen wüßten aber sehr genau, »daß sie nicht die Zielgruppe waren«, betont Kurt. Für die Anwohner sei doch alles geklärt gewesen, als die ZAst geräumt worden war.
»Der Vater des Ganzen«
Am Angriff auf die Vietnamesen hätten sich nur Radikale von außerhalb beteiligt. Der »Vater des Ganzen« sei »ein überkandidelter Jurastudent aus Hamburg« gewesen. Gemeint ist Michael Andrejewski, der heute für die NPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern sitzt. 1992 verfaßte er ein Flugblatt mit der Überschrift »Widerstand gegen die Ausländerflut«, das wenige Tage vor dem Pogrom in großer Auflage verteilt wurde.
Ein klassischer sozialer Brennpunkt war die Siedlung nicht. Während die Altstadt noch nicht saniert war, gab es hier zu DDR-Zeiten gut ausgestattete Neubauwohnungen. »Da wohnte der Herr Doktor neben dem Werftarbeiter«, erinnert sich Hanne Frenz, die inzwischen weggezogen ist. 1992 hatten viele Werftarbeiter bereits ihren Job verloren.
In dem langgestreckten, elfstöckigen Plattenbau, der den Namen »Sonnenblumenhaus« einem Kachelmotiv auf der Seitenwand verdankt, mußten sich Anfang der 1990er Jahre alle Asylbewerber registrieren lassen, die dem neuen Bundesland zugewiesen wurden. Die ZAst war überlastet; seit Monaten gab es Beschwerden von Anwohnern. Die Verantwortlichen der Stadt weigerten sich, Toiletten aufzustellen – um die Zustände nicht zu »legalisieren«, hieß es.
Am 22. August versammelten sich über 2000 aufgebrachte Demonstranten vor dem »Sonnenblumenhaus«. Parolen wie »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus« wurden gerufen. Ab dem frühen Abend flogen Steine; und Anwohner applaudierten. Die wenigen Einsatzkräfte der Polizei zogen sich überfordert zurück. Erst gegen zwei Uhr morgens trafen Wasserwerfer aus der Landeshauptstadt ein. Doch die Polizei bekam die Lage nur kurzfristig in den Griff; auch am nächsten Tag versammelte sich der Mob. Erst am dritten Tag wurden die Asylbewerber evakuiert. Die vietnamesischen Vertragsarbeiter im Wohnheim nebenan jedoch nicht. Über 100 Menschen hielten sich im Haus auf, als Brandsätze in die unteren Etagen flogen. Sie konnten sich im letzten Moment über das Dach retten, als sich die Flammen nach oben fraßen.
Fast alle Ermittlungsverfahren wurden eingestellt. 2002 endete der letzte Prozeß gegen drei Angreifer mit Bewährungsstrafen. Auch Hanne Frenz kann sich nicht vorstellen, daß Anwohner am Angriff auf die Vietnamesen beteiligt waren.
Ein braungebrannter Mann mit kurzem Schnauzbart, Sonnenbrille und Vokuhila-Frisur, der sein Bier am vietnamesischen Schnellimbiß trinkt, regt sich heute noch fürchterlich auf – über die Polizei. Die hätte ihre Wasserwerfer doch woanders parken können, meint er. So sei er mit dem Auto nicht vorbeigekommen. »Ich kam von der Schicht und konnte keinen Feierabend machen!«
»Nichts gegen Ausländer«
Ein 70jähriger beginnt in breitem Sächsisch über »die Ausländer« zu schimpfen – gegen die er selbstverständlich nichts habe: »Wenn sie als Touristen kommen oder hier studieren und dann wieder gehen.« Für solche, die bleiben wollen, hat der Chemnitzer Schwager eines Anwohners wenig Verständnis. »Die werden eingestellt, und unsere Leute liegen auf der Straße«, beginnt er eine längere Litanei. »Die mein’ ich nicht«, sagt er, auf die Vietnamesen angesprochen, an deren Imbiß er sein Bier trinkt. Die junge Frau ist hochschwanger und ruht sich etwa zwei Meter abseits auf einem Plastikstuhl aus. Wieviel sie von dem Gespräch versteht, läßt sich an ihrem Gesicht schwer ablesen. Sie sieht blaß und nicht gerade fröhlich aus, könnte aber auch einfach nur müde und abgespannt sein. Sie spricht nur wenige Worte Deutsch und möchte nicht fotografiert werden.
Auf der Grünfläche hinter dem »Sonnenblumenhaus« hat die Initiative »Lichtenhagen bewegt sich« ein Zirkuszelt aufgeschlagen. Hier sollen am 25. August Theaterworkshops und eine Podiumsdiskussion stattfinden. Motto: »Zum Glück geht es anders – wie wollen wir miteinander leben.« Einen Tag später will Bundespräsident Joachim Gauck hier zum Gedenken eine 20jährige Eiche pflanzen – ein fragwürdiges Symbol, finden Rostocker Antifaschisten.
»Nur Gastarbeiter«
Der ehemalige Vertragsarbeiter Ly Van Hoa hat vor zehn Jahren ein Asia-Snack-Restaurant in der nördlichen Altstadt in Hafennähe eröffnet. 1992 wohnte er im siebten Stock des »Sonnenblumenhauses«. Er drückt sich vorsichtig aus, weil er auf die Entfernung nicht so genau sehen konnte, wer selbst Steine oder Brandsätze warf, wer die Täter vor der Polizei schützte und wer ihnen nur applaudierte. Was er sehen konnte, war eine Menge, die sich in der Sache einig war. »Ich glaube, das waren unsere Leute«, sagt Ly Van Hoa – und meint Leute aus der Gegend. Für ihn gab es also bis zu diesem Tag ein »wir«, das die deutsche Nachbarschaft einschloß.
Kurz bevor die ersten Steine flogen, habe er mit seiner deutschen Freundin Geburtstag gefeiert. Das erste gemeinsame Kind war damals zwei Jahre alt – das habe ihn hier gehalten. Ein zweites Kind sei 2001 geboren worden. Die meisten seiner vietnamesischen Kollegen seien schon in den 1990er Jahren zu ihren Familien in der Heimat zurückgekehrt. »Wir sind nur Gastarbeiter«, sagt Ly Van Hoa, formal Unternehmer, aber mit einem Zwölf-Stunden-Tag. Er kocht und bedient selbst, geht zwischendurch nur mal kurz vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen. Eine scharf-saure Suppe kostet hier 1,50 Euro, Hühner- und Schweinefleischgerichte um die vier Euro, Bangkok-Ente 6,50. Bei der Einführung der Hartz-IV-Gesetze seien die Einnahmen gesunken, die Pacht sei hoch, aber er könne davon leben, sagt Ly Van Hoa. Neben vietnamesischen Porzellanfiguren schmücken Poster und Wappen des FC Hansa Rostock das Lokal. Er selbst hat aber keine Zeit, sich die Spiele anzusehen. »Ich schaue mir nur die Zusammenfassungen an.«
Der moderne Nützlichkeitsrassismus verschont Menschen wie ihn, die hart arbeiten. Das Image der Vietnamesen, von denen viele kleine Betriebe gegründet haben und preiswerte Dienstleistungen anbieten, ist vergleichsweise gut; sie werden als Köche und Änderungsschneider geschätzt. Was sie in ihrer Freizeit tun und ob sie überhaupt Freizeit haben, steht auf einem anderen Blatt. Aber es gibt auch noch die völkische Variante des Rassismus. »Für Nazis bin ich einfach Ausländer, mit meinem Aussehen«, sagt Ly Van Hoa.
Im Rostocker Stadtteil Toitenwinkel wurde Mehmet Turgut am 25. Februar 2004 bei der Arbeit an einem Imbiß erschossen, weil er leicht als »Ausländer« zu identifizieren war. Erst Ende 2011 ist das rassistische Motiv der Mordserie, der er zum Opfer fiel, offiziell bekannt geworden.
Anders als Toitenwinkel gilt die Hafengegend nicht als Neonazihochburg. Die meisten Restaurants sind hier deutlich teurer als das von Ly Van Hoa. Um die Ecke entstehen Eigentumswohnungen, zum Teil über 200 Quadratmeter groß. An die DDR erinnert noch die Gedenkstätte revolutionärer Matrosen am Warnowufer. Zwei unbewaffnete Männer, die sich auf einem Trümmerberg erheben, einer mit hoch gestreckter Faust. Die monumentale Ästhetik gefällt heute auch nicht allen Linken. Aber immerhin wurde hier ein Aufstand gegen deutschen Größenwahn gefeiert – neun Meter »verordneter Antifaschismus«.
Alternative Zentren
Im Biergarten des Peter-Weiss-Hauses treffen sich Aktive des Bündnisses »20 Jahre nach den Pogromen – Das Problem heißt Rassismus«. Schöner wäre es aus ihrer Sicht, das Problem aus den Köpfen zu bekommen – zur Not würden sie aber »verordneten Antifaschismus« einem Exzeß wie dem in Rostock-Lichtenhagen vorziehen. Stattdessen habe der Mob mit der Änderung des Asylrechts im Jahr 1993 faktisch seinen Willen bekommen, bilanzieren sie. Das sei auch von der Politik gewollt gewesen. Seither schotte sich Deutschland mit der Drittstaatenregelung und dem Flughafenverfahren immer mehr gegen Flüchtlinge ab. Schon einen Monat, nachdem die Sinti und Roma aus der ZAst evakuiert werden mußten, sei mit dem deutsch-rumänischen Rücknahmeabkommen ihre Abschiebung besiegelt worden.
Verfehlt sei aber auch die Ausländerpolitik der DDR gewesen. »Diese Politik hatte den Namen verdient. Das war keine Integrationspolitik«, sagt Robbe, der 1976 geboren und in der Schule früh politisiert wurde. Der entwicklungspolitische Ansatz, in der DDR Fachkräfte auszubilden, die anschließend in ihren Ländern Aufbauarbeit leisten sollten, sei nicht falsch gewesen. In den 1980er Jahren sei aber das Versprechen auf Ausbildung in vielen Fällen nicht mehr eingelöst worden. Stattdessen hätten die Betroffenen »die Arbeit gemacht, die die Deutschen nicht machen wollten«. Schwangere Vertragsarbeiterinnen seien zeitweise vor die Alternative »Abtreibung oder Ausweisung« gestellt worden.
Rund 20 Zuhörer haben sich im August 2012 an einem der heißesten Tage des Jahres zu der Podiumsdiskussion im Garten des Peter-Weiss-Hauses eingefunden. Mit Kritik an »der Zivilgesellschaft« und ihrem Alltagsrassismus wird nicht gespart. Von einer Dominanz der örtlichen Neonaziszene könne aber in Rostock nicht gesprochen werden. Die braune Szene habe mit dem Brandanschlag auf den Verein »Alternatives Wohnen in Rostock« (Awiro) einige Tage zuvor zeigen wollen, daß sie handlungsfähig sei, sagt ein Aktivist des antirassistischen Bündnisses. Aber im großen und ganzen sei Rostock »eine linksalternative Studentenstadt«.
Das ist sicher nicht böse gemeint, läßt aber die vietnamesischen Kleinunternehmer und Gastronomiebeschäftigten ebenso außen vor wie die Sorte Lichtenhagener, deren Hauptproblem an einem rassistischen Gewaltexzeß die Parkposition der Wasserwerfer war.
** Aus: junge Welt, Samstag, 25. August 2012
Fahrlässig herbeigeredet
Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burghardt über das Pogrom von Lichtenhagen und seinen Kontext ***
Günter Burghardt gehörte 1986 zu den Gründern der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, die sich für die Rechte von Flüchtlingen einsetzt. Velten Schäfer sprach mit ihm über die rassistischen Ausschreitungen vor dem Sonnenblumenhaus: Was hat Deutschland daraus gelernt?
nd: Herr Burghardt, Sie befassen sich seit mehr als 20 Jahren mit Flüchtlingspolitik. Wie erinnern Sie sich an den Sommer 1992, an die rassistischen Ausschreitungen vor dem Sonnenblumenhaus?
Burghardt: Damals herrschte in Deutschland eine extrem aufgeheizte Stimmung, und die Ressentiments wurden von der Politik geschürt. Der Balkankrieg tobte, und viele Flüchtlinge von dort wollten nach Deutschland, weil es hier für sie familiäre Anknüpfungspunkte gab oder Gemeinschaften von Menschen aus Ex-Jugoslawien. Doch die Fluchtursachen wurden ausgeblendet, stattdessen gab es Hetze gegen die Geflohenen. Bis heute kann ich nicht verstehen, wie es sein konnte, dass diese Unterkunft tagelang angegriffen wurde und niemand dem Einhalt gebot. Das Pogrom ist von der Politik mindestens fahrlässig herbeigeredet worden - und anschließend wurde es benutzt, um die politisch gewollte Aushebelung des Asylparagrafen im Grundgesetz durchzusetzen. Die CDU/CSU hat dabei FDP und SPD vor sich her getrieben.
Wieso waren die Ausschreitungen im Osten so besonders spektakulär?
In der DDR waren die Leute über Jahrzehnte eingesperrt und nicht an das Zusammenleben mit Einwanderern und Flüchtlingen gewöhnt. 1992 hatte sich die Vereinigungseuphorie verzogen, viele hatten Angst, und für viele hatte sich die reale Lage sehr schlecht entwickelt. Diese Stimmung wurde von der Politik, aber auch von organisierten Nazis ausgenutzt.
Wie unterscheidet sich die Situation von 1992 von der heutigen? Damals war allenfalls von »Fremdenfeindlichkeit« die Rede, heute steht in der Landesverfassung von Mecklenburg-Vorpommern, dass »Rassismus« geächtet werden soll.
Einerseits gibt es Fortschritte, die öffentliche Stimmung gegenüber Einwanderern und Flüchtlingen ist freundlicher geworden. In Wahlkämpfen wird nicht mehr gegen Flüchtlinge gehetzt, wie das noch 1991 und 1992 der Fall war. Es wird heute im Grundsatz anerkannt, dass Deutschland auch ein Einwanderungsland ist.
Und andererseits?
Andererseits gibt es unverändert eine sehr restriktive Politik gegenüber Flüchtlingen. Im so genannten Asylkompromiss aus dem Mai 1993 wurde das Asylrecht ausgehöhlt. Es wurde ein ausgrenzendes Sondergesetz erlassen, das das Existenzminimum von Flüchtlingen weit unterhalb des Existenzminimums von Deutschen ansiedelt. Immer wieder musste die Politik von Gerichten in die Schranken gewiesen werden. Einige Regelungen im Asylbewerber-Leistungsgesetz sind nun nach 20 Jahren vom Bundesverfassungsgericht als grundgesetzwidrig eingestuft worden, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat wiederholt auf die Rechte von Flüchtlingen gepocht. Auch wird noch heute Rassismus viel zu oft ignoriert. So wurden Anschläge bagatellisiert und rassistische Taten nicht aufgeklärt - man denke an die Morde des NSU und das Totalversagen der Ermittler.
Ist der Rassismus auf dem Rückzug ?
Rassismus zeigt sich in verschiedenen Gesichtern. Dass etwa der so genannte NSU über Jahre unerkannt morden konnte, hat mit Rassismus zu tun. Aber auch die europäische Abschottungspolitik, die in Kauf nimmt, dass jährlich Hunderte, wenn nicht Tausende Flüchtlinge auf dem Mittelmeer oder an den Außengrenzen der EU sterben, und Flüchtlinge an den Rand der EU drängt, hat mit Rassismus zu tun. Auch haben in den vergangenen Jahren rechtspopulistische Parteien in Europa einen besorgniserregenden Aufschwung genommen. In Griechenland wurden in den vergangenen sechs Monaten fast 500 rassistische Angriffe gezählt. Das Prinzip des Sündenbocks funktioniert noch immer.
Das klingt nicht sehr optimistisch ...
... langfristig sprechen aber alle vernünftigen Argumente für ein Europa der ungeteilten Menschenrechte. Ich glaube auch an die Lernfähigkeit von Gesellschaften. In der deutschen Politik gibt es Anzeichen eines Umdenkens. Offene Wahlkampf-Hetze gegen Migranten scheint in Deutschland aus dem politischen Diskurs verschwunden, aktuell hat in der Politik ein Nachdenken über ein Bleiberecht für bisher nur »gedultete« Flüchtlinge eingesetzt. Etwa die Sarrazin-«Debatte« zeigt allerdings auch, dass der Firnis zuweilen sehr dünn ist. Die Politiker haben eine sehr große Verantwortung bei der Thematisierung solcher Fragen. Letztlich hängt es auch von ihnen ab, wie sich die Situation weiter entwickelt.
* Aus: neues deutschland, Samstag, 25. August 2012
Verdrängen, wegschauen - bis zu neuem Entsetzen?
Die Naziszene im Nordosten ist präsent und clever wie nie zuvor
Von René Heilig ****
Geprägt wird der Rechtsextremismus in Mecklenburg-Vorpommern durch die neonazistische Kameradschaftsszene, die sich seit Jahren aktions- und kampffähig zeigt. Im letzten verfügbaren Verfassungsschutzbericht 2010 ist von 1400 Personen die Rede.
Wolfgang Richter, vor 20 Jahren Ausländerbeauftragter in Rostock, war im attackierten Sonnenblumenhaus. Wie die Bewohner stand auch er Todesängste aus. Dass die Vorgänge von damals aufgeklärt seien, kann er nicht sagen. Und auch nicht, dass so ein Pogrom nie wieder vorkommen kann. Aus damals noch relativ spontanen Neonazi-Strukturen sind erprobte, schlagkräftige und weithin geschickt agierende geworden, die nicht minder militant sind. Die NPD sitzt in der Rostocker Bürgerschaft wie im Schweriner Landtag. Außerparlamentarisch agieren Freie Kameradschaften, deren Potenzen dem Thüringer Heimatschutz - aus dem die NSU-Terrorzelle entwachsen ist - in nichts nachstehen.
Das eigentlich Erschreckende ist das schier grenzenlose Selbstbewusstsein, mit dem Rechtsextreme auftreten. Der Vorsitzende der NPD-Landtagsfraktion, Udo Pastörs - gerade wieder wegen Hetzreden gerichtlich verurteilt - erhielt seit Beginn der Legislaturperiode knapp 200 Ordnungsrufe und führt damit die Rangliste der parlamentarischen Störer mit weitem Abstand an. Ihm wurde außerdem bisher 29 Mal das Wort entzogen und 21 Mal schloss ihn das Präsidium sogar von der Parlamentssitzung völlig aus.
Nicht minder ungeniert agiert das Fußvolk. Man kämpft längst nicht mehr nur um die Straße. Ganze Ortschaften stehen unter dem Protektorat militanter Kameraden. Beispiel der 120-Seelen-Ort Jamel in Nordwestmecklenburg. Dort herrschen der Abbruchunternehmer Sven Krüger und seine Mannschaft. Der war Kreistagsabgeordneter der NPD in Wismar und bis 2001 Mitglied des Landesvorstandes. Bis zu diesem Zeitpunkt wies Krügers Polizeiakte 51 Vorstrafen auf: schwere Körperverletzung, gewerbsmäßige Hehlerei, Landfriedensbruch und Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole. 2011 wurde er zu vier Jahren Haft wegen Hehlerei und Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz verurteilt. Bei einer Durchsuchung seiner »Festung« hatte die Polizei eine Maschinenpistole, eine weitere Schusswaffe und 400 Schuss Munition gefunden. Im Knast gründete Krüger einen Verlag und geht nun mit Biografien von SA-Führern hausieren.
Wie immer man die Vorgänge um die Rostocker Ex-Polizistin und Olympia-Ruderin Nadja Drygalla sowie ihren Nazi-Kameradschaft-Freund Michael Fischer bewerten mag - in nahezu allen Internet-Diskussionsforen, in denen das Thema eine Rolle spielte, stieß man auf eine höchst clever inszenierte Gegenoffensive von Rechtsextremen. Ihre Schlagworte wurden bedenkenlos aufgegriffen und weitergetragen. Wer bis dahin geglaubt haben mag, dass die »breite Masse« zwei Jahrzehnte nach dem Pogrom von Lichtenhagen nicht mehr so willig rechte Rhetorik übernimmt wie einst, muss entsetzt gewesen sein.
* Aus: neues deutschland, Samstag, 25. August 2012
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